Bettina Gübeli drückt den Schalter für den «Geist». Vor dem Zimmer Nummer 89 leuchtet ein blassgrünes Lämpchen auf: das Zeichen, dass hier eine Pflegende im Einsatz ist. Sie füllt die chromglänzende Schüssel mit Wasser und hilft der betagten Patientin geduldig beim Waschen. Eine diplomierte Krankenschwester unterstützt sie beim Wenden der alten Frau. Vorsichtig setzt Bettina ihre noch wenig routinierten Griffe. Dann ist die 16-Jährige wieder allein mit der Patientin. Noch etwas Gesichtscreme und Deo: «Jetzt riechen Sie gut!»

Bettina Gübeli ist eine der 1100 Jugendlichen in der Schweiz, die in den letzten beiden Jahren die neu geschaffene Lehre zur Fachangestellten Gesundheit begonnen haben. Der Ansturm vor allem junger Frauen auf das neue Angebot war gewaltig. Das Stadtspital Triemli in Zürich, der Lehrbetrieb, in dem Bettina Gübeli arbeitet, wurde regelrecht überrannt. Nach einem zweitägigen Selektionspraktikum wurden hier im letzten August erstmals acht Jugendliche aufgenommen – beworben hatten sich 250. Dies obwohl die neue Ausbildung in vielem noch einer Reise ins Ungewisse gleicht.

Körperpflege der Patienten, Hilfe beim Essen und Trinken, beim Gang aufs WC, beim Ein- und Auspacken von Kleidern sind Arbeiten, die Bettina Gübeli im ersten Lehrjahr übernehmen muss. Auch Einblicke in die Hauswirtschaft und ins Administrative gehören dazu.

Im zweiten und im dritten Lehrjahr werden medizinische Verrichtungen wie Blutdruck messen oder Medikamente verabreichen hinzukommen. Allerdings: «Wir wissen noch nicht, ob wir dann auch selbstständig Patienten übernehmen dürfen», sagt Bettina Gübeli. Sie stört sich nicht daran: «Ich arbeite gern spontan.»

Manchen diplomierten Pflegefachfrauen und -männern hingegen macht die Ungewissheit über die künftigen Einsatzgebiete der neuen Fachangestellten eher Angst. Viele sehen sich bald auf die Rolle einer Pillenverwalterin reduziert, während die Fachangestellten den Kontakt zu den Patienten pflegen. Caroline von Felten, Berufsbildnerin am «Triemli», hält diese Angst wegen des Spardrucks für nicht ganz unbegründet: «Wer weiss, wie die Pflegeteams in Zukunft zusammengesetzt sind?»

Allerdings hätten viele Pflegefachleute auch Mühe abzugeben, meint Barbara Fischer, Präsidentin der Schweizerischen Konferenz der Pflegeschulen (SKP). Einfache Verbandwechsel oder Injektionen, so Fischer, würden in Zukunft Aufgabe der Fachangestellten sein. «Für die Diplomierten bleibt immer noch genug Arbeit.» Etwa die ganze Kommunikation mit den Patienten, wenn diese Probleme haben. Oder die Situationen mit schwierigen Krankheitsbildern wie Krebs: «Das kann eine Fachangestellte nicht übernehmen. Dafür braucht es Hintergrundwissen über Psychologie und Medizin – etwa wie das Immunsystem funktioniert, wenn jemand Krebs hat», sagt Fischer.

Statt von beruflichen Zukunftsängsten zu reden, müssten die Pflegefachleute viel selbstbewusster melden, was sie wollen, fordert Fischer. Tatsächlich wird der neue Beruf in der Praxis geformt. Das tägliche Zusammenspiel in den Spitälern, Pflegeheimen, psychiatrischen Kliniken und bei der Spitex wird bestimmen, welche Rolle die neuen Fachangestellten in den Pflegeteams übernehmen.

Den Platz in der Hierarchie finden
Neuland betreten auch die zwölf Frauen und Männer, die Ende März zum ersten Mal in der Schweiz ein Unistudium in Pflegewissenschaft abgeschlossen haben. Auch sie müssen nun ihren Platz in der Spitalhierarchie beweisen. Anhaltspunkte bieten Beispiele aus dem Ausland, wo schon seit längerer Zeit wissenschaftliche Pflege als Universitätsstudium angeboten wird. In Schweden zum Beispiel würden universitär ausgebildete Leute so genannte Herzinsuffizienzkliniken betreiben, erklärt die Basler Professorin Annemarie Kesselring. Die Uniabgänger betreuen die Patienten selbstständig und schulen sie im Umgang mit ihrer Krankheit. «Ärztinnen und Ärzte kommen nur noch ins Spiel, wenns ‹bööset›.»

Andere Lehre nur zur Überbrückung
Im Triemli-Spital hat Bettina Gübeli inzwischen die Patientin in Zimmer Nummer 89 auf einen Stuhl gesetzt. Mit einem Klebeband befestigt sie die Klingel so, dass die betagte Frau sie im Sitzen erreicht. «Danke vielmals», sagt die Patientin, bevor die junge Pflegende den «Geist» löscht und das Zimmer verlässt.

Für die 16-Jährige ist mit ihrer Lehre ein Traum in Erfüllung gegangen. Immer schon wollte sie im Spital arbeiten. Nach dem alten Bildungssystem hätte sie bis 18 warten müssen, bis sie eine Ausbildung zur Pflegefachfrau hätte beginnen können. Eine mit Praktika «vertane» Zeit, wie sie sagt. Mit der neu geschaffenen Lehre hingegen lerne sie schon jetzt immens viel.

Auch ihre Berufsbildnerin Caroline von Felten hält es für sehr sinnvoll, dass nun bereits 15-, 16-Jährige eine Gesundheitslehre beginnen können. Damit würden Interessierte gleich nach der Schule abgeholt. Bisher hätten viele Jugendliche als Überbrückungslösung irgendeine andere Lehre absolviert. Bis sie dann das notwendige Alter für die Pflegeausbildung erreichten, war ihnen die Lust auf nochmals eine neue Ausbildung oft abhanden gekommen: «So gingen diese Leute unserem Beruf verloren.»

Junge können viel verkraften
Aber können 16-jährige Jugendliche den harten Spitalalltag überhaupt schon verkraften? Sterbende Menschen, unheilbare Krankheiten, all diese Hilflosigkeit und Abhängigkeit. Caroline von Felten lässt dieses oft gehörte Argument nicht gelten. «Die jungen Menschen, die hierher kommen, wollen das auch sehen.» Ausserdem schreiben die Jugendlichen jeden Tag ihr Lernjournal: Was sie getan und beobachtet haben – und wie sie sich dabei fühlten. Von Felten: «Wenn sie etwas beschäftigt, können wir es aufgreifen und mit ihnen besprechen.»

An ihrem Berufsziel hat Bettina Gübeli nie gezweifelt. So wie einige ihrer Kolleginnen Hebammen oder ein Kollege Rettungssanitäter werden wollen, so wird auch sie nach bestandener Lehrabschlussprüfung sogleich die nächste Ausbildung in Angriff nehmen – diejenige zur diplomierten Pflegefachfrau.