Nach Jahren in miefigen Hörsälen tut es gut, etwas nach draussen zu kommen. Seiner momentanen Arbeit als Gärtner kann der junge Berner, der einen Uniabschluss in Psychologie in der Tasche hat, einiges abgewinnen. Zugleich plagen ihn aber auch Existenzängste: «Das kann es doch nicht sein, nach einem so langen Studium.» Einstiegsjobs im Bereich Psychologie suchte er bislang vergeblich, eine feste Stelle ist illusorisch. Trotz akademischen Weihen steht er im beruflichen Offside. Er will sich nicht mit seinem Namen dazu bekennen - es ist ihm peinlich.

Die erfolgreiche Uniabsolventin aus Zürich, die in einem mies bezahlten Praktikum als Webdesignerin steckt, lässt gar eine Treffen mit dem Beobachter platzen - zu gross ist ihre Angst, im Rennen um einen festen Platz im Erwerbsleben weiter zurückgeworfen zu werden. Und die Juristin Christina Zimmermann, 31, berichtet nur unter falschem Namen über ihre Nöte: «Im November endet mein drittes Volontariat. Ich weiss nicht, wie es danach weitergehen soll» (siehe Nebenartikel «Mit meinem Hungerlohn könnte ich nicht überleben»).

Zimmermann und ihre Schicksalsgenossen erleben die letzte Lektion der Uni: vorbei die Zeiten, als ein Hochschulabschluss ohne Umweg zu den Futtertöpfen der Arbeitswelt führte - wer nach oben will, muss erst einmal untendurch, und das nicht zu knapp. «Die Studienabgänger tun sich mit dem Berufseinstieg schwer», bestätigt der Basler Psychologe und Studienberater Markus Diem, der sich seit langem mit der Situation von jungen Akademikern befasst. «Ein wachsender Teil von ihnen steigt über prekäre Beschäftigungsverhältnisse in einen festen Job ein.» Prekär bedeutet: Verträge auf Zeit, tiefer Lohn, geringe Arbeitsplatzsicherheit, keine dem Studium angemessene Tätigkeit.

Die Hälfte in unsicheren Verhältnissen



Tatsächlich zeigt die neuste, 2005 durchgeführte Absolventenbefragung des Bundesamts für Statistik, dass 49,8 Prozent der rund 21'000 Schweizer Hoch- respektive Fachhochschulabgänger ein Jahr nach dem Abschluss in befristeten und somit unsicheren Arbeitsverhältnissen stehen. Bei der letzten Befragung, 2003, hatte dieser Wert noch bei 35,6 Prozent gelegen.

Diese Steigerung ist umso erstaunlicher, als sich die Konjunktur seither erholt hat. In festen Stellen für Studienabgänger schlägt sich der Aufschwung aber offenbar nicht nieder. Darunter leiden namentlich die Absolventen der Geistes- und Sozialwissenschaften, die gemäss Experte Markus Diem am ehesten Gefahr laufen, nach dem Hochschulabschluss erst mal in der Warteschleife zu landen. «Sie lernen, anders als etwa Mediziner oder Architekten, keinen konkreten Beruf, sondern eignen sich Wissen an, das erst in einen Beruf transferiert werden muss. Das passiert am ehesten mit Projektarbeiten und in Praktika.»

So weit, so gut. Zum Problem wird das dann, wenn sich Studienabgänger von einem Provisorium zum nächsten hangeln - ohne die Perspektive, dass sich daraus eine reguläre Anstellung ergibt. Zu diesem Phänomen macht in ganz Westeuropa der Begriff der «Generation Praktikum» die Runde. Wer ihr angehört, macht eine «floundering period» durch, eine Wortschöpfung von englischen Wissenschaftlern: Die bestens ausgebildeten Praktikanten quälen sich ab, sind hoch motiviert, wollen im Beruf glänzen - um oft nach Jahren eines permanenten Überbrückungszustands ernüchtert festzustellen, dass sich auf der Basis von schlecht bezahlten Zeitverträgen keine Zukunft bauen lässt. Die jungen Italiener haben sich schon einen Schutzpatron erfunden: «San Precario», ein Märtyrer, der unterbezahlte Arbeiten verrichtet und einer unsicheren Zukunft entgegenblickt.

Der moderne Heilige hat in der Schweiz eine wachsende Zahl Schäfchen zu betreuen. Während die «Generation Praktikum» in den Nachbarländern bereits zum politischen Faktor geworden ist, werden auch hierzulande erste Auswirkungen von prekären Beschäftigungsverhältnissen sichtbar. So ergab kürzlich die Salärerhebung des Verbands Angestellte Schweiz - zuständig für die Maschinen-, die Chemie- und die Pharmaindustrie -, dass die Löhne der unter 30-Jährigen nicht nur stagnieren, sondern seit 1999 real um sieben Prozent gesunken sind. Für Geschäftsführer Vital G. Stutz eine besorgniserregende Entwicklung. Seine Erklärung: «Vermehrt werden auch in unseren Branchen Hochschulabgänger vorerst nur als Praktikanten angestellt und entsprechend tief entlöhnt. Das wirkt sich auch auf die ersten Arbeitsverhältnisse als Festangestellte aus - falls es dazu überhaupt kommt.» In der Erhebung wurden die Praktikanten nicht berücksichtigt, sonst wäre der Lohnrückgang bei den Jungen noch deutlicher sichtbar.

Carlo Knöpfel, Leiter des Bereichs Grundlagen bei Caritas Schweiz, sorgt sich seit längerem um die Situation der jungen Erwachsenen, die zum Sprung ins Erwerbsleben ansetzen. Im Caritas-Handbuch «Armut in der Schweiz», das im September erschienen ist, wird dieser Bevölkerungsgruppe ein besonderes Armutsrisiko zugewiesen - und die stellensuchenden Hochschulabsolventen, die zu Dauerpraktikanten werden, sind dabei mitgemeint. «Eine geringe Bildung ist nach wie vor das Armutsrisiko Nummer eins», so Knöpfel. «Aber wir stellen immer deutlicher fest: Bildung allein ist nicht mehr ausreichend, um einen problemlosen Einstieg in die Arbeitswelt zu finden.»

Wenn an die Stelle einer linearen Karriere ein zusehends bruchhafter Berufseinstieg tritt, ist dies aber nicht nur ein materielles Problem, sondern ebenso ein psychologisches. Die Unsicherheit im Arbeitsmarkt mache den jungen Leuten zu schaffen, stellt Caritas-Experte Knöpfel fest: «Die viel gerühmte Flexibilität ist nur eine Zeit lang reizvoll.» Tatsächlich suchten die Menschen geordnete Verhältnisse, gerade im beruflichen Bereich. So wie beispielsweise der 36-jährige Praktikant Thomas Stucki aus Luzern: «Mein Wunsch ist eine Festanstellung. Falls das nicht klappt, würde ich dann schon langsam unruhig - in meinem Alter» (siehe Nebenartikel «Ich bin dabei, mein Lehrgeld zu bezahlen»).

Stuckis Wunsch hat sich bislang nicht erfüllt, weil er zwar einen Bachelorabschluss hat, aber zu wenig Praxis in einem spezifischen Berufsfeld. Und ohne die gibt die Wirtschaft immer zurückhaltender Stellen frei. Bildungsexperte Bernhard Weber, der in einer breit angelegten Studie die Jugendarbeitslosigkeit untersuchte, bestätigt: «Der Arbeitsmarkt ist zwar besser für gut Ausgebildete, doch Hochschulabgängern fehlt es im Gegensatz zu Lehrlingen meist an praktischer Erfahrung.» Wer Praktika nachholt, den Sprung in den regulären Arbeitsmarkt aber dennoch nicht innert nützlicher Frist schafft, wird von Personalabteilungen zudem rasch als «ungeeignet» abgestempelt und hat es noch schwerer, den Einstieg zu packen - ein Teufelskreis.

Wer keinen regulären Job ergattert, weicht gezwungenermassen in den Tieflohnbereich aus. Marianne Corti, Stellenvermittlerin an der Universität Bern, stellt in ihrer Beratungstätigkeit fest, «dass die vormaligen Studierenden fast alles tun, um bloss nicht arbeitslos zu werden» (siehe Nebenartikel «Studierende: ‹Mitunter furchtbar weltfremd›»). Dennoch bleibt manchen Jungakademikern der Gang zum Arbeitsamt nicht erspart. Beispiel Kanton Basel-Stadt: Dort hatte im August jeder neunte Arbeitslose einen Abschluss an einer Hochschule im Sack.

Als Billigkräfte willkommen



Zwar gibt es schweizweit keine Zahlen zu den angebotenen Praktikums- und Projektstellen, doch in welche Richtung der Trend geht, zeigt beispielhaft der Bund. Noch vor zehn Jahren bot der Arbeitgeber, der unter Hochschulabgängern als bevorzugte Adresse gilt, gerade mal 42 Praktikumsplätze an - inzwischen sind es über 250. Tatsächlich dürfte die Zahl noch höher liegen, denn nicht alle Praktika sind zentral erfasst. «Problematisch ist diese Anstellungsform vor allem, weil am Ende immer häufiger keine feste Stelle drin liegt, sondern höchstens ein neues Praktikum», sagt Christof Jakob vom Verband des Personals öffentlicher Dienste. Hans Müller vom Personalverband des Bundes doppelt nach: «Mit einem Praktikumslohn von 3'256 Franken kann man keine Familie ernähren. So läuft der Bund Gefahr, seine Rolle als vorbildlicher Arbeitgeber zu verlieren.» Beschäftigungspolitisch brisant: Während die Zahl der Praktika explodierte, wird der Bund in den nächsten vier Jahren 4'000 reguläre Stellen abbauen.

Vom Umstand, dass immer mehr hoch qualifizierte Hochschulabgänger ohne feste berufliche Lösung sind, profitiert aber nicht nur die öffentliche Hand. Auch Private nutzen die Gunst der Stunde, etwa der Fernsehsender U1. Dort arbeiten laut Gewerkschaft fast ausschliesslich so genannte Praktikanten. Ihre 100-Prozent-Jobs werden mit 1'500 Franken entschädigt. «Die Praktikanten bekamen nie die vertraglich vereinbarte Ausbildung, sie mussten stattdessen Knochenarbeit verrichten», sagt Beatrice Müller, Regionalsekretärin der Gewerkschaft Comedia. Nach eigenen Angaben beschäftigt U1 TV heute noch sieben Praktikanten. «Es stimmt nicht, dass die Praktikanten nicht ausgebildet werden. Nach einer Einschulung erhalten sie ein ‹training on the job›», wehrt sich Geschäftsführerin Beatrix Schartl. U1 ist mit dieser Praxis nicht allein. Die Gewerkschafterin Müller beobachtet, dass auch bei anderen elektronischen Medien Redaktionsstellen durch Praktikumsplätze ersetzt werden.

«Die Schlaumeiereien nehmen zu»



Aber auch Organisationen, die sich ansonsten der Wohltätigkeit verschrieben haben, sichern sich die Dienste von bestens ausgebildeten Arbeitskräften fast zum Nulltarif. So sucht momentan das evangelische Hilfswerk Heks einen Praktikanten mit Deutsch-, Französisch-, Englisch- und Spanischkenntnissen und abgeschlossenem Hochschulstudium. Arbeiten sollen die Uniabgänger für Gotteslohn, lediglich die Spesen werden entschädigt. Wenn schon wenig Geld verdienen, dann immerhin etwas Sinnvolles tun − diese idealistische Idee lässt viele Studienabgänger zu gemeinnützigen Organisationen wechseln, oft über Jahre in temporären Anstellungsmodellen. Da wird die Karriereplanung mitunter zur vagen Hoffnung: «Irgendein Türchen wird sich schon auftun», sagt etwa der 29-jährige Dauerpraktikant Mischa von Arb (siehe Nebenartikel «Ich nehme in Kauf, dass ich untendurch muss»).

Norbert Thom, Professor am Institut für Organisation und Personal der Universität Bern, kann nicht beziffern, in welchem Umfang Hochschulabgänger als billige Arbeitskräfte eingesetzt werden. Aber er ist überzeugt, «dass diese Schlaumeiereien auch in der Schweiz eindeutig zunehmen». Doch Arbeitgeber, die es allzu einseitig auf Akademiker zum Schnäppchenpreis abgesehen haben, würden mit dieser Form der Ausbeutung mittelfristig ein Eigengoal schiessen, so Thom. «Ein solches Verhalten spricht sich rasch herum, und das ist tödlich für das Image eines Unternehmens, das für seine Zukunft auf gute Fachkräfte angewiesen ist.»

Jetzt beginnt sich die «Generation Praktikum» zu wehren. «Wir möchten für Unternehmen mit fairen Arbeitsbedingungen ein Gütesiegel schaffen», erklärt Stefan Wanzenried, der im Frühling an der Uni Bern sein Studium abgeschlossen hat. Zusammen mit Mitstreitern ist er an die Gewerkschaft Unia gelangt mit der Idee, in der Schweiz eine Akademikergewerkschaft zu gründen.