Nach Zetthausen werden keine Billette verkauft, auch wenn es einen Bahnhof hat. Er befindet sich in Raum B 18.1 im Keller des Gebäudes HIL der ETH Hönggerberg, Zürich, und gehört zur Modelleisenbahn der Hochschule. Im Moment ist die 17-jährige Michaela Schöni für den holzverkleideten Landbahnhof Zetthausen zuständig. Die Auszubildende der SBB muss im Stellwerk dafür sorgen, dass der Regionalzug von Pewald nach Ypslikon auf dem richtigen der drei Gleise einfährt. «Wir habens voll im Griff», sagt sie und lacht. Doch dann ein Rattern, «das klingt nicht gut», und schon entgleist der Zug. Halb so schlimm - das wird im Lauf des Tages noch einige Male passieren.

«Heute spielen wir», erklärt Philippe Borel, Ausbildungskoordinator Hauptbahnhof Zürich, zuständig für das Nachwuchsteam der Zugverkehrsleitung. «Wir fahren nach Fahrplan und üben mit den Anfängern noch nicht gezielt Störungen. Es geht vor allem darum, das Feeling für den Job als Zugverkehrsleiter zu bekommen.» Er will «das Feuer entfachen und zeigen, dass es eine lässige Arbeit ist» - mit dem Ziel, möglichst viele SBB-Lehrlinge für die 42 Wochen dauernde Zusatzausbildung zu gewinnen. Die acht KV-Auszubildenden - die Hälfte von ihnen junge Frauen -, die heute die Märklin-Züge der Spurweite H0 von fünf Stellwerken aus auf die Reise zwischen den Bahnhöfen Pewald, Wedorf, Iggswil, Ypslikon und Zetthausen schicken, gehen konzentriert zur Sache. Der Spieltrieb, wenn er sich denn überhaupt regt, bleibt gezügelt.

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«Zeigen, dass es eine lässige Arbeit ist»: Philippe Borel, Ausbildungskoordinator


Die Uhr tickt in doppeltem Tempo

Kein Wunder. Man benutze die korrekte Fachsprache, beachte die Vorschriften, bediene reale Stellwerke - «alles eins zu eins», so Ausbildner Borel. Nur die Uhr, die in einer Ecke des Raums den Takt vorgibt, läuft nicht eins zu eins, sondern mit doppeltem Tempo; auf ihr ist eine Minute schon nach 30 Sekunden vorbei. Viel Zeit für Unvorhergesehenes bleibt da nicht; man ahnt, dass der Job im Stellwerk, zwischen unerbittlich tickender Uhr und unverrückbarem Fahrplan, rasch zum Stress werden kann.

Plötzlich betritt ein älterer Herr den Raum, setzt lächelnd eine Lokomotive der SBB Cargo auf die Schienen und lässt sie in den Bahnhof Zetthausen einfahren. «Was macht denn die Lok hier?», sagt Michaela Schöni und staunt. Im Fahrplan steht nichts davon, und speziell angekündigt wurde auch nichts. «Ich habe die Lok repariert und probiere, ob sie funktioniert», sagt der Mann, der sich als Peter Pingoud vorstellt. Er ist pensioniert, war in seinen ETH-Zeiten für die Modelleisenbahn zuständig und kümmert sich weiterhin um ihren Unterhalt. Wie er gewusst habe, dass er in Zetthausen keinem Zug in die Quere komme? «Mir ist klar, dass dort auf Gleis 1 nie ein Zug einfährt. Das geht bei den SBB aus Sicherheitsgründen nicht, weil es ein Rampengleis ist, wo eventuell Menschen arbeiten.» Eins zu eins auch hier.

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«Alles eins zu eins»: die Stellwerke, die Fachsprache, die Vorschriften


Pingoud geht zurück in den Nebenraum, der neben seinem kleinen Instandsetzungsbetrieb Dutzende von Relaisstationen beherbergt. «Wir haben hier Originalrelais. Die wissen bloss nicht, dass sie keine richtige, sondern eine Modelleisenbahn steuern.» Auch die Bedienung der Stellwerke sei «eins zu eins wie draussen». Bedächtig referiert Pingoud über die Technik der ETH-Eisenbahn. Erklärt, dass man mit Dreileiter-Wechselstrom fahre, wie auch die SBB, um genau dieselben Informationen in die Stellwerke zu bringen. Und dass die Oberleitung hier durch einen Mittelleiter in den Schienen simuliert werde. «Das sind alles Industrieprodukte, die man kaufen kann. Da ist nichts selbstgebastelt.» Nur die Decoder müsse er nachträglich in die Loks einbauen. Dann lassen sich die Lokomotiven mit einem Steuergerät individuell bewegen; «das heisst, jede fährt wie mit einem Lokführer».

Keine Eisenbahnromantik
Nicht nur SBB-Personal trainiert regelmässig in der Anlage, sondern auch Studenten des ETH-Instituts für Verkehrsplanung werden mit den Sicherungstechniken von Bahnanlagen vertraut gemacht. Unterdessen klicken die Relaisstationen in Pingouds Rücken und signalisieren: In der Anlage läuft gerade etwas.

Und es läuft über längere Strecken, als man auf den ersten Blick vermutet: Auf einer Fläche von 50 Quadratmetern sind 300 Meter Schienen so verlegt, dass sie zwischen zwei Stationen immer die ganze Anlage umrunden. Damit werden die Fahrzeiten auf ein bis zwei Minuten verlängert, um realistische Bedingungen zu simulieren. Nebeneffekt: Man sieht den Zug, der auf den Bahnhof zufährt, erst kurz vor der Einfahrt - ob er unterwegs durch ein Signal blockiert wurde, ist oft nur zu bemerken, wenn man die Anzeigen im Stellwerk richtig lesen kann.

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«Fahren wie mit Lokführer»: Peter Pingoud in seiner ETH-Werkstatt


Wenn andere Modelleisenbahnen durch heimelige Miniaturwelten kurven, als hätte ein Schöpfer seine Neigung zum Kitsch einmal nach Herzenslust ausleben wollen, so verrät die ETH-Anlage einen anderen Geist. Die Landschaft ist eine schlichte grüne Fläche. Tunnel und Brücken sind keine Ausschmückung, sondern von geometrischer Strenge und Folge der Notwendigkeit, die nötige Streckenlänge unterzubringen. Hier in B 18.1 geht es nicht um Eisenbahnromantik.

Unterdessen hat Ausbildner Borel die Uhr für fünf Minuten angehalten - geschenkte Zeit, damit alle Lehrlinge die angesammelten Verspätungen ihrer ein- und ausfahrenden Züge aufholen können. Erst wenn die Uhr wieder läuft, tritt der Fahrplan erneut in Kraft. «Die Uhr anhalten - das geht im richtigen Leben natürlich nicht», sagt Borel. Leider, denkt man.

Pünktlich im Nachbarland Zeit für weitere Auskünfte des freundlichen Herrn Pingoud. Es liegt Wärme in seiner Stimme, wenn er über das spricht, was im Fachjargon etwas herzlos Rollmaterial heisst. «Wir haben hier nur Züge, die wirklich in der Schweiz fahren oder gefahren sind.» Ob BLS, Südost- oder Mittelthurgaubahn, ob Roter Pfeil, Krokodil oder IC-Panoramawagen, ob TEE, ICE oder TGV - die Fahrzeugsammlung dürfte die Herzen von Eisenbahnfreunden höher schlagen lassen. «Die verschiedenen Züge», erläutert Pingoud, «werden fahrplanmässig unterschiedlich behandelt.» Etwa der ICE: Man wolle ihn schliesslich nicht mit Verspätung nach Deutschland übergeben, also hat er Vorrang. Oder umgekehrt Güterzüge. «Die haben wir auch deshalb, weil sie schön sind und man sie von schweren Güterzugloks ziehen lassen kann.» Güterzüge lasse man auch einmal langsamer fahren, was die Einhaltung des Fahrplans schwieriger mache.

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«Realistische Bedingungen»: Die Fahrt zwischen zwei Bahnhöfen führt einmal um die ganze Anlage und dauert etwa zwei Minuten.


Insgesamt gibt es rund 40 Lokomotiven, darunter auch historische. «Mit denen können wir den Spieltrieb ausleben.» Manchmal brächten SBB-Instruktoren ihre eigenen Loks mit, um sie hier fahren zu lassen.

Die Nulltoleranz am Stellwerk
Auch bei der Gestaltung der Anlage war der Spieltrieb anscheinend nicht völlig verpönt. Liebevoll ausgestattet präsentiert sich der Bahnhof Wedorf: mit Last- und Personenwagen, Fussgängern, je einem markierten Parkfeld für SBB und PTT sowie zwei Bäumen. Auf einem Abstellgleis belädt die Firma «Hch Brändli & Cie Brennstoffe» Güterwagen mit Kohle, in Richtung Pewald werben Tafeln für Goodyear, Benetton und Texaco, und an einer anderen Stelle wird eine abgerutschte Böschung wieder befestigt. Ausführende Firma ist, und das erstaunt nun nicht mehr, eine gewisse «P. Pingoud & Co. AG, Hoch- und Tiefbau».

Inzwischen läuft die Uhr wieder, und Borel erklärt dem 19-jährigen Lirim Demiri, wie das elektromechanische Stellwerk Zetthausen zu bedienen ist. «Das ist ein Einhand-Stellwerk; ich will nie sehen, dass hier jemand mit zwei Händen arbeitet», sagt der Ausbildner. Wer die Schalter beidhändig bedient, riskiert, ein Signal zu früh auf Grün zu stellen - und dann führt der einzige Weg zurück über einen plombierten Notschalter. Das gilt als Fehlbedienung, von denen sich Zugverkehrsleiter nur drei pro Jahr erlauben dürfen. Bei sicherheitsrelevanten Fehlern hingegen herrscht Nulltoleranz.

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«Immer vorausdenken»: altertümliches mechanisches Stellwerk in Iggswil


Geduldig erklärt Borel dem Lehrling, wie er Fahrrechte anfordert und die Strecke für andere blockiert, wie er Signale und Weichen stellt und in welcher Reihenfolge er was machen muss, damit Zug 52003 von Pewald nach Ypslikon auf dem richtigen Gleis einfährt. Lirim, der noch nie in einem Stellwerk gearbeitet hat, muss sich sputen - Verspätungen hat man sich schnell eingehandelt. Nach 15 Minuten Betrieb hinkt er dem Fahrplan bereits drei Minuten hinterher.

Stress nach Geschmack
Routinierter läuft es bei Roman Zürcher, der gerade das altertümliche mechanische Stellwerk Iggswil bedient. Hier gibts reine Handarbeit, müssen schwere Hebel umgelegt werden, um die Weichen zu stellen, und Kurbeln gedreht, um dem benachbarten Bahnhof zu melden, dass der Zug in Iggswil durch ist. Nebenbei schiebt der Lehrling per Hand einen ICE an, der wegen eines defekten Kontakts auf den Schienen liegengeblieben ist. «Man muss immer eine halbe Stunde vorausschauen, sonst ist man schnell überfordert», sagt der 19-Jährige. «Aber es ist spannend, in Notsituationen disponieren zu müssen; das können Verspätungen sein oder auch Lokstörungen.» Die Schulungsanlage macht ihm sichtlich Spass. Auf die Frage, ob er hier einen Lieblingszug habe, zuckt er die Schultern. Der 17-jährige Christoph Krobel, der zwei Meter entfernt Prüfungsaufgaben löst, hat mitgehört und antwortet, ohne aufzusehen: «Der TGV ist cool.»

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«Sicherheit ist das A und O»: Markus Gertsch, die stoische Ruhe am Regiepult


Nicht jeder taugt zum Zugverkehrsleiter. Vor der Ausbildung steht ein Eignungstest: Wie gut kann jemand mit Monotonie umgehen? Wie reaktionsschnell ist er, wie sicher macht er mehrere Dinge gleichzeitig? «Man muss Stress aushalten können», meint Christian Arber, 19. Er war einen Monat im Rangierbahnhof Limmattal, «da herrscht nachts ein sehr grosses Verkehrsaufkommen und schon etwas Stress» - und wie er es sagt, wird klar: Dieser Stress ist durchaus nach seinem Geschmack. Was an dem Job Spass mache? «Ich bin es, der die Züge fahren lässt.» Sagts und schickt nebenbei einen Regionalzug aus Versehen nicht ganz fahrplanmässig los, nämlich zu früh.

Ohnehin wird dem Zeitempfinden an diesem Übungstag einiges abverlangt - bei einer Wanduhr, die mit doppelter Geschwindigkeit läuft, immer wieder angehalten oder auch mal für einen neuen Durchgang auf 8.00 oder 9.00 Uhr zurückgesetzt wird. Draussen ist es längst Nachmittag, auf der Uhr im fensterlosen Keller aber wird es selten später als 10.00 Uhr.

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«Den Spieltrieb ausleben»: 40 Lokomotiven verkehren auf 300 Meter Schiene.


Am Ende geschieht das Unmögliche

Der Mann, der an diesem Tag die Modellbahn am Laufen hält, indem er von seinem Regiepult aus den jeweiligen Bahnhöfen ihre fahrplanmässigen Züge schickt, heisst Markus Gertsch und arbeitet normalerweise in der Betriebsleitzentrale Zürich. Ob ein Stromausfall die ganze Anlage lahmlegt, ein Güterzug entgleist oder ein Regionalzug schon wieder auf freier Strecke liegenbleibt - Gertsch behebt die Störungen mit stoischer Ruhe. Er ist zufrieden mit der Lehrlingsgruppe, «die machen es gut». Denn: «Die Sicherheit ist das A und O, erst danach kommt die Pünktlichkeit.»

Nur am Ende des «bis etwa 16 Uhr» angesetzten Übungstages läuft es umgekehrt. Denn um Punkt vier ist der Fahrplan abgearbeitet, was selbst Ausbildner Borel etwas zu überraschen scheint. Unmittelbar danach geschieht der erste und einzige Zusammenstoss: Gertsch lässt beim Aufräumen einen Personenzug zu schnell in Pewald einfahren - er wird zu spät gebremst und kracht in einen anderen. Gertsch erklärt, dass dies mit der Konstruktion der Modellbahn zusammenhänge und in der Realität nicht passiert wäre. Keine «Eins zu eins»-Situation also. Zum Glück.

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«Die machen es gut»: Eine Auszubildende bedient ein elektronisches Stellwerk.