Nicolas Müller freut sich auf die Schule. «Rechnen lernen» werde er jetzt, weiss der Erstklässler aus Thun. Und was er im Sommer 2008 nach neun Schuljahren kann, ist ihm auch klar: «Zusammengehängt schreiben.» Dann will er «vielleicht einen Beruf lernen».

Nina Lanser hat die Mühle der Volksschule bereits hinter sich. «Ich habe zwar Schreiben, Rechnen und Lesen gelernt», sagt die 15-Jährige aus Burgdorf BE im Rückblick. «In der Informationsflut ist aber häufig der Blick fürs Ganze verloren gegangen.» Und: «Menschliche Themen über uns, unser Leben und unsere Interessen sind zu kurz gekommen.» Ihr Wissensdurst ist nicht gestillt; Nina Lanser geht fortan ins Gymnasium.

Was müssen Jugendliche heute am Ende der obligatorischen Schulzeit können? Was kann die Schule bieten? Wo ist sie überfordert? Die Meinungen sind geteilt. Klar ist: Der Ruf der Schule hat gelitten. «Schweiz in Naturwissenschaften nur Mittelmass», jammerte die NZZ vor zwei Jahren. In einer internationalen Vergleichsarbeit in 41 Staaten hatten Schweizer Kinder der siebten und achten Klasse in Mathematik Rang acht und in Naturwissenschaften Rang 18 erreicht. «Zu wenige Stunden in Naturwissenschaften und zu wenig Pauken von Fachbegriffen», lautete die Diagnose der Erziehungswissenschaftler.

Misstöne kommen auch aus der Wirtschaft. «Vielen Jugendlichen fehlen solide Grundfertigkeiten im Lesen, Schreiben und Rechnen», sagt Christine Davatz, Vizedirektorin beim Schweizer Gewerbeverband. Video und Internet seien zwar «lustig und spannend», viele Lehrkräfte hätten aber «Angst vor der Vertiefung». Auch die landwirtschaftlichen Lehrmeister im Kanton Bern klagen: «Vermehrt bekunden Lehrlinge Mühe, einfache Kopfrechnungen in Feld und Stall durchzuführen.»

Lehrlinge «zu wenig qualifiziert»
Einen «Mangel an qualifizierten Lehrstellenbewerbern» ortet die Handelskammer beider Basel. «Lehrstellen bleiben unbesetzt, weil nicht genügend gut qualifizierte Lehrlinge selektioniert werden können», schreibt sie in einer Analyse und rügt, «dass die schulische Ausbildung nicht überall optimal auf die Erfordernisse der beruflichen Ausbildung abgestimmt ist». In der modernen Arbeitswelt brauche es «berufsübergreifende Fähigkeiten wie Lern- und Arbeitsmethodik, Selbstständigkeit, Teamfähigkeit und Einsatzwille».

Als «zum Teil berechtigt» akzeptiert Beat W. Zemp die Vorwürfe. «Aber», kontert der Zentralpräsident des Dachverbandes der Schweizer Lehrerinnen und Lehrer, «unser Kernauftrag leidet, wenn man der Schule immer mehr Erziehungsaufgaben überträgt und sie unter permanenten Aktualitätsdruck setzt.»

Eine Lanze für die Jugendlichen bricht Heinrich Summermatter vom Bundesamt für Berufsbildung und Technologie: «Die heutigen Jugendlichen verfügen über andere Schlüsselqualifikationen.» Gemeint sind etwa der Umgang mit Computern, die Informationsbeschaffung oder Wege zur Problemlösung.

Mehr als 200 Volksschulreformen
Die Hektik im Berufsleben, der Wandel der Gesellschaft und die Kritik an der Volksschule haben die Bildungspolitiker aus der Reserve gelockt. In den 26 kantonalen Volksschulen sind über 200 Reformen im Gang. Die Palette ist breit: Schulgesetze werden revidiert, Ubertrittsverfahren und Notensysteme verfeinert, Schulversuche lanciert oder Hochbegabte gefördert. Zudem werden die rund 150 Lehrerseminare in den nächsten Jahren durch 16 regionale pädagogische Hochschulen ersetzt.

Für Aufsehen sorgte der Zürcher CVP-Bildungsdirektor Ernst Buschor im Frühsommer mit seiner Vision einer neuen Volksschule. «Unsere bereits gute Volksschule muss sich einer breiten Erneuerung unterziehen, wenn sie die Jugend weiterhin möglichst gut auf die Welt von morgen vorbereiten soll», sagt Buschor. Er strebt «eine zukunftsweisende Lebenstüchtigkeit unserer Jugend» an. Das Reformprogramm «Unsere Schule – unsere Zukunft» umfasst im wesentlichen folgende Punkte:

  • Der Kindergarten wird abgeschafft. Dafür durchlaufen die vier- bis siebenjährigen Kinder eine dreijährige Grundstufe. Der Unterricht im Lesen, Schreiben und Rechnen wird dem Vorwissen und dem Lerntempo der Kinder angepasst. Buschor nennt es den «gleitenden, individuellen Ubergang vom lernenden Spielen zum spielenden Lernen».
  • Jedes Schulhaus wird zum Kompetenzzentrum (teilautonome Schulen). Die Schulleitung wird mit Kompetenzen und Führungsaufträgen ausgestattet, damit der Bildungsauftrag «umfeld- und bedürfnisgerecht» erfüllt werden kann. Dazu gehören ein Schulleitbild, mehr Teamarbeit unter den Lehrkräften und klassenübergreifende Projekte.
  • Englisch in der Unterstufe (ab 8 Jahren).
  • Computergestützte Lernformen.
  • Spezielle Förderung von Schulen mit hohem Anteil Fremdsprachiger.
  • Professionelle Schulaufsicht sowie regelmässige Uberprüfung der Ziele und Leistungen.
  • Gesetzlich verankerter Einbezug der Eltern in die lokale Schulgestaltung. «In jede Klasse müssen künftig Elternvertreter gewählt werden», heisst es bei Elternorganisationen.


Die meisten Ideen sind weder neu noch auf Buschors Mist gewachsen. Aber: «Er hat viele Erkenntnisse und Vorschläge der letzten Jahre zusammengefasst und daraus ein Gesamtkonzept gemacht», lobt Urs Kramer, stellvertretender Generalsekretär bei der Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren.

Die Schulentwickler in anderen Kantonen machen sich ähnliche Gedanken – das nationale Problem bleibt trotzdem bestehen: Für die Kinder bleibt jeder Kantonswechsel eine grosse Hürde – und das, obwohl die Mobilität zugenommen hat. Die Gründe:

  • Schulsystem: Vor allem in der Sekundarstufe 1 (früher Oberstufe) ist die Vielfalt riesig. In den meisten Kantonen dauert sie drei Jahre (7. bis 9. Klasse), andernorts aber vier (AG, BL, NE) oder sogar fünf Jahre (BS, VD). Hinzu kommt die Aufteilung nach Leistung (Realschule, Sekundarschule, Progymnasium). In vielen Kantonen können die Gemeinden zudem wählen, ob sie diese Schultypen strikt getrennt oder mit durchlässigen Wahl- und Niveaukursen führen.
  • Lehrmittel: Jeder Kanton entscheidet autonom, welche Schulbücher eingesetzt werden. Elf Deutschschweizer Kantone haben eigene Lehrmittelverlage. Selbst Fachleute sprechen von einem «kaum überschaubaren babylonischen Berg verschiedener Bücher».
  • Lehrpläne: Auch die Themen- und Zielvorgaben an die Lehrkräfte sind Kantonssache. Diese Lehrpläne basieren zudem auf den kantonalen Lehrmitteln.


So variiert der Französisch-Pflichtunterricht in der Primar- und der Realschule zwischen 85,5 Stunden (Aargau) und 702 Stunden (Basel-Stadt). Kantonsübergreifende «Treffpunkte» («Was muss ein Kind wann können?») lassen sich deshalb kaum definieren. Schulferien: Die unterschiedlichen Ferienpläne der Gemeinden sind für fast alle Eltern ein Ärgernis. Zum Teil variieren sie sogar zwischen der Primarschule und der Sekundarstufe im gleichen Ort. Und wer noch ein Kind auswärts in eine weiterführende Schule schickt, kann den mehrwöchigen Familienurlaub meist abschreiben.

Der Ruf nach mehr Koordination
Der Wirrwarr im Schweizer Schulwesen ist dem Aargauer SP-Nationalrat Hans Zbinden seit Jahren ein Dorn im Auge. «Als Pfand der Kantone hat der Bildungsföderalismus lange Sinn gemacht; jetzt braucht es aber mehr Kooperation und Koordination.» Deshalb verlangt er einen «Bildungsrahmenartikel in der Bundesverfassung» und schlägt vor, das Zürcher Reformpaket gleich national umzusetzen. Auch die FDP Schweiz fordert in einem Positionspapier, der Berufs- und Schulwechsel sei durch «eine bessere Abstimmung der Schulsysteme zwischen den Kantonen» zu erleichtern.

Politisch hat die «Volksschule Schweiz» indes keine Chance – das weiss auch der Bundesrat. «Das Bildungswesen gehört traditionell zu jenen Bereichen, in denen das föderalistische Element besonders stark zum Ausdruck kommt», antwortete er auf einen Vorstoss von Hans Zbinden. Von einer nationalen Einheitsschule will auch die Konferenz der Erziehungsdirektoren (EDK) nichts wissen. «Die Vielfalt ist nicht negativ, sondern Ausdruck der Flexibilität, der Autonomie und der Lehrfreiheit der Schule», sagt Vizegeneralsekretär Urs Kramer. «Und sie fördert den Wettbewerb.»

Immerhin – die EDK hat das Problem erkannt. So brütet eine Arbeitsgruppe um den Appenzeller alt Landammann Hans Höhener am Projekt «Deutschsprachige EDK». Denkbar ist, dass ein solches Gremium in Zukunft für die Deutschschweiz Rahmenlehrpläne und Bildungstreffpunkte vorgibt sowie die Entwicklung der Lehrmittel koordiniert.

Für die Umsetzung fehlt das Geld
Doch der Wirtschaft geht das alles zu langsam. Und sie will vor allem Leistung sehen. Das provoziert Widerstand: «Die Sorge um den künftigen Arbeitsplatz beherrscht bereits die Kinderstube», klagte die deutsche Erziehungswissenschaftlerin Marianne Gronemeyer am Luzerner Lehrertag. «Die Bauherren, die der Schule Modernisierung abverlangen, sind Unternehmer, Konzerne und Ökonomen.»

Gleicher Meinung ist der Berner Kunstpädagoge Klaus Neumann: «Auf bestimmte Bedürfnisse der Wirtschaft vorbereitete Kinder nützen der Wirtschaft nichts», schrieb er in einem Leserbrief. Wichtiger als der Computer sei das Spiel – allein oder mit andern. Das fördere den kreativen Umgang mit Problemen oder neuen Arbeitssituationen.

Lehrer-Zentralpräsident Beat W. Zemp hat ein anderes Problem: «Auf der einen Seite werden Reformen angerissen – auf der andern Seite wird gespart», beklagt er. «Oft hapert es bei der Umsetzung, weil das Geld fehlt.» Frühenglisch mache keinen Sinn ohne Spezialausbildung der Primarlehrkräfte. Und die Internetoffensive «Schulen ans Netz» versande, weil kein Geld für moderne Computer da sei.

So hat denn für den Erstklässler Nicolas Müller der Schulalltag vorerst begonnen, wie er immer war – er gefällt ihm trotzdem. Die Gymnasiastin Nina Lanser aber macht sich Gedanken über ihre berufliche Zukunft. Lehrerin will sie werden. «Ich mag den Umgang mit Leuten und erkläre gern Dinge», sagt sie. «Aber ein paar Sachen möchte ich schon besser machen, als ich sie in meiner Schulzeit erlebt habe.»