Untätig sitzt die sechsjährige Michal vor den Rechenaufgaben, hält sie verkehrt herum vor sich hin und starrt mit zusammengekniffenen Augen verbissen aufs Blatt. Das Kopfschütteln der Mutter quittiert die Erstklässlerin mit der Bemerkung: «So sind die Aufgaben etwas schwieriger.»

Das war vor vier Jahren. Mittlerweile ist klar: Michal ist hochbegabt. Der Unterricht in der Primarschule und die Hausaufgaben langweilten sie. Das Mädchen reagierte körperlich mit Atemnot und Fieberschüben. In der Challenge-Kleingruppe für besonders Begabte im Lernstudio Winterthur wird die Zehnjährige nun gezielt gefördert. Seither sind die gesundheitlichen Störungen verschwunden.

Auch ihrem zwölfjährigen Bruder Jonathan attestiert das Kinderspital Zürich einen überdurchschnittlich hohen Intelligenzquotienten sowie eine aussergewöhnliche Begabung in Mathematik. Kein Wunder, fühlte er sich in der Primarschule in Glattfelden unterfordert. Seiner Langeweile verschaffte er mit zerstörerischen Wutausbrüchen Luft. Der immense Leidensdruck löste beim hochbegabten Schüler Suizidgedanken aus und trieb die Eltern an den Rand ihrer Kräfte. In der Challenge-Förderklasse blühte auch Jonathan auf. Die Eltern Anita und Lukas Maurer waren erleichtert: «Endlich eine Lösung.»

Während für lernschwache Kinder ein unentgeltlicher Förder- und Stützunterricht zur Tagesordnung gehört und im Schulgesetz verankert ist, steht es den Kantonen und Gemeinden frei, für Hochbegabte ein entsprechendes Angebot zur Verfügung zu stellen. So hängt es vom Zufall, dem Engagement der Eltern und ihren finanziellen Reserven ab, ob ihr hochbegabtes Kind in den Genuss einer gezielten Förderung kommt.

Eltern investierten 70'000 Franken
Für die Privatschule Michals kam die Schulpflege von Glattfelden auf. Mit der Bitte, auch die Sonderschulung für Jonathan zu übernehmen, blitzten Anita und Lukas Maurer jedoch ab. Daraufhin schlugen sie den Rechtsweg ein. Nachdem die Schulrekurskommission der Bildungsdirektion des Kantons Zürich zugunsten von Jonathan entschieden hatte, holte die Schulpflege Schützenhilfe bei Rechtsanwalt Tomas Poledna, einem Experten für Staats- und Verwaltungsrecht. Das Urteil des Verwaltungsgerichts sowie des Bundesgerichts fielen für Jonathan negativ aus.

Die obersten Richter erachteten das öffentliche Bildungsangebot als «angemessen» und «ausreichend», zumal das zürcherische Volksschulgesetz für besonders begabte Kinder keine Sondermassnahmen vorsieht. Der verfassungsmässige Anspruch auf unentgeltlichen Schulunterricht könne nicht gleichbedeutend sein mit der «optimalen beziehungsweise geeignetsten Schulung». Hochbegabten sei «eine etwas langsamere Gangart» durchaus zumutbar.

Für die Sonderschulung von Jonathan hatte das Ehepaar, das in Glattfelden das reformierte Pfarramt führt, bisher 70000 Franken aufgebracht: «Mehr lag nicht drin.» So sahen sich die Eltern letzten Frühling gezwungen, das vielversprechende Experiment nach knapp zwei Jahren abzubrechen und ihren Sohn wieder in Glattfelden schulen zu lassen.

Seiner unfreiwilligen Rückkehr in die öffentliche Schule sahen Eltern und Lehrer mit gemischten Gefühlen entgegen. Dass sich Jonathan langweilen würde, war absehbar. Deshalb wurde im März eine psychotherapeutische Begleitung vereinbart. Erst bei einer Aussprache im Juni mit den Schulverantwortlichen und zwei Vertretern der kantonalen Bildungsdirektion wurde eine Kostengutsprache festgelegt für total 30 kombinierte Therapiestunden à je 230 Franken. Diese Begleitung kam die Gemeinde auf 6900 Franken zu stehen. Ein Vollpensum in der Förderklasse Challenge kostet pro Monat 2400 Franken.

Aus dem Musterschüler Jonathan wurde bald wieder ein Störenfried, der nach Belieben die Schule schwänzte und stattdessen mit Bus und Bahn ins Technorama nach Winterthur fuhr, wo er sich in anspruchsvolle Experimente vertiefen konnte. Die Schule drohte mit Einzelschulung, Einweisung in eine psychiatrische Klinik und mit der Vormundschaftsbehörde. Als der Lehrer den renitenten Schüler nicht in den Griff bekam, wurde Jonathan vom Unterricht suspendiert.

Nach den Herbstferien legte die Schulpflege einen neuen Vorschlag auf den Tisch: Die private Delta-Schule in Zürich mit Kleinklassen und individuellem Unterricht scheine vielversprechend. Inklusive Therapiestunden und Vorbereitung aufs Gymnasium entstünden der Gemeinde monatliche Kosten von 5540 Franken. Zwar konnte sich Jonathan an der Privatschule ohne Probleme integrieren, doch der Schulleitung fehlte die Erfahrung mit Hochbegabten – die Übung wurde abgebrochen. Zum gescheiterten Experiment wollte sich Schulpräsident Stephan Betschart nicht äussern.

Auf die Anregung der Eltern, Jonathan wieder in die bewährte Challenge-Schule zu schicken, ging die Schulpflege nicht ein. Jonathans dortiger Lehrer, Heilpädagoge Robert Sigrist, bedauerte seinen Austritt: «Ich bin überzeugt, dass das eine gute Lösung war.» Sigrist, der eine zweijährige Spezialausbildung für Potenzialentwicklung Hochbegabter absolviert hatte, war von Jonathans Fähigkeiten so beeindruckt, dass er ihm die Teilnahme an einem Genetikexperiment am Zoologischen Institut der Universität Zürich ermöglichte.

Der zuständige Professor Rolf Nöthiger war des Lobes voll: «Jonathan verblüfft mit intellektuellen Leistungen, die den wenigsten unserer Studenten gelingen.» Es sei nicht einzusehen, warum die Gesellschaft schwach begabte Kinder selbstverständlich in Sonderklassen fördere, während sie die hochbegabten in der Volksschule fast verkümmern lasse.

Bis nächsten Sommer, so die mündliche Zusicherung der Schulpflege, kann Jonathan pro Woche mit zehn Stunden Einzelunterricht in Zürich sowie einer Stunde psychotherapeutischer Begleitung rechnen – ohne Tagesstruktur und ohne Mitschüler. Bei einem geschätzten Stundenansatz von 120 Franken beläuft sich die Einzelschulung monatlich auf rund 5000 Franken. «Das Geld scheint jetzt plötzlich keine Rolle mehr zu spielen», sagt Lukas Maurer. Der Schulpflege gehe es darum, den unbequemen Schüler loszuwerden, koste es, was es wolle.

«Schildbürgerstreich» des Gerichts
Bei den Auseinandersetzungen mit den Behörden fand das Pfarrer-Ehepaar Maurer Unterstützung beim Elternverein für hochbegabte Kinder (EHK) und bei der kostenlosen Anlaufstelle Hochbegabung. Deren Mitinitiator Wolfgang Stern kennt die Problematik aus erster Hand: Der Schulrektor ist Vater eines heute 19-jährigen Sohnes mit Hochbegabung. Den Bundesgerichtsentscheid bezeichnet er als «Schildbürgerstreich», die Gemeinde Glattfelden als «Seldwyla». Betroffene Eltern ohne finanzielle Reserven haben nun Probleme, eine Förderung ihres Kindes bei Behörden durchzusetzen, hält er fest. Die Angebote sind – wenn überhaupt – von Gemeinde zu Gemeinde verschieden. «Das ist Willkür», ereifert sich Stern und plädiert für «Chancengerechtigkeit statt Chancengleichheit».

Häufig sind die Lehrerinnen und Lehrer schon bei der Erkennung von Hochbegabung überfordert. Eine Umfrage in der Ostschweiz zeigt, dass bei verhaltensauffälligen Kindern meist die Eltern zuerst aktiv werden. Um überhaupt ernst genommen zu werden, lassen sie die Leistungsfähigkeit ihrer Töchter und Söhne bei Psychologen oder Beratungsstellen auf eigene Kosten testen (siehe Links am Ende dieses Artikels).

Um das Drama hochbegabter Kinder zu entschärfen, plädiert die Erziehungswissenschaftlerin Margrit Stamm vom Institut für Bildungs- und Forschungsfragen in Aarau für eine gezielte Weiterbildung von Lehrpersonen, die auf die Erkennung von Hochbegabung zugeschnitten ist und auch konkrete Handlungsvorschläge umfasst. Sie wünscht sich eine differenziertere Auseinandersetzung mit dem Thema und weist darauf hin, dass neben den «tragischen Einzelfällen» zwei Drittel aller Hochbegabten in der Regelschule keine Probleme haben und mit gezielten Förderkursen bestens über die Runden kommen.

Wie unterschiedlich in den Kantonen Konzepte entwickelt und wie unterschiedlich intensiv sie umgesetzt werden, zeigt eine Übersicht des Netzwerks für Begabungsförderung. Im Kanton Luzern beispielsweise sieht das neue Gesetz über die Volksschulbildung besondere Massnahmen vor. Fritz Riedweg, Beauftragter für Förderangebote, schätzt, dass in einem Drittel der Gemeinden Projekte schon Fuss gefasst hätten. Er ist überzeugt, dass sich die Volksschule vermehrt auf die stärkenorientierte Unterrichtsentwicklung ausrichten wird. «Ein langer Prozess», wie er zu bedenken gibt.

Auch im Kanton Baselland ist die «spezielle Förderung» im Bildungsgesetz verankert. Allerdings erschwere das Sparprogramm die Umsetzung der vorgesehenen Massnahmen, wie Projektleiter Beat Wirz von der Stabsstelle Bildung erklärt. Im Mittelpunkt stünden generell die Integrationsfähigkeit und die Unterrichtsentwicklung an den Schulen und nicht die Etikettierung Einzelner.

Als das Thema Hochbegabung vor 17 Jahren erstmals öffentlich diskutiert wurde, leistete die Psychologin Ulrike Stedtnitz mit privaten Abklärungen über verhaltensauffällige Kinder mit «Verdacht» auf Hochbegabung Pionierarbeit. Bis heute vertritt sie die Meinung, dass bei allen Kindern nach Stärken gesucht werden muss und nicht auf ihren Schwächen herumgeritten werden darf. «Es braucht einen Paradigmawechsel hin zur stärkenorientierten Förderung aller Kinder», ist sie überzeugt. Im neuen Bundesgerichtsentscheid sieht sie einen «Rückschlag», wenn nicht valable Alternativen angeboten werden: «Bei der Bildung zu sparen ist der falsche Ort.»