Der Fall ist eigentlich klar: «Nichtversetzen», im Volksmund Sitzenbleiben, ist eine jener Massnahmen, die dem Lernerfolg in der Schule am meisten schaden. Es steht auf dem drittletzten Platz einer Rangliste, die der neuseeländische Bildungsforscher John Hattie in jahrelanger Arbeit aus über 50000 Einzelstudien errechnet hat. 150 Faktoren, die dem Lernerfolg dienen oder schaden, sind darin enthalten. Nur «Fernsehen» und ein «Schulwechsel» sind noch schlimmer als die Wiederholung einer Klasse.

Sitzenbleiben ist somit etwas vom Dümmsten, was man verordnen kann, wenn ein Kind in der Schule besser werden soll. Am besten für den Lernerfolg ist nach Hatties Berechnungen die Selbsteinschätzung des eigenen Leistungsvermögens. Dass diese mit dem Sitzenbleiben nicht unbedingt positiv ist, liegt auf der Hand.

Keine Kehrtwende in Sicht

Man mag einwenden, dass der Neuseeländer nur Studien aus dem englischsprachigen Raum beizog und diese nicht mit den hiesigen Verhältnissen vergleichbar seien. Doch der Unsinn des Sitzenbleibens scheint vom System unabhängig zu sein. Ein Team der Uni Freiburg hat das Thema vor etwa zehn Jahren mit rund 4600 Zweitklässlern untersucht.

Auch da war das Fazit klar: Unter dem Strich bringt es nichts, eine Klasse zu repetieren. Betroffene Schüler konnten sich in diesem Jahr zwar auf dem Niveau ihrer jüngeren Mitschüler halten. Schon am Ende des folgenden Schuljahrs waren sie aber wieder im Rückstand. «Gezielte Unterstützung in Teilbereichen, in denen sie schwach waren, hätte ihnen vermutlich mehr gebracht als eine Ehrenrunde», sagt der damalige Studienleiter und Sonderpädagogikprofessor Gérard Bless.

Trotz diesen Forschungsergebnissen und obwohl es ständig mehr Förder- und Stützmassnahmen gibt, ist die Repetition immer noch beliebt: Fast jedes fünfte Schweizer Schulkind wiederholt mindestens einmal ein Schuljahr. Die aktuellsten Zahlen des Bundesamts für Statistik stammen von 2009. Da die Datenerhebung modernisiert wird, ist erst ab nächstem Jahr mit neueren Ergebnissen zu rechnen. Doch die Zahlen aus einzelnen Kantonen deuten nicht auf eine Kehrtwende hin. So beziffert der Kanton Zürich die Repetentenquote aktuell auf 18 Prozent – etwas mehr als noch 2009. Im Aargau liegt die Quote derzeit bei rund 27 Prozent und ist ebenfalls recht stabil.

Die teils grossen Unterschiede zwischen den Kantonen haben unter anderem mit den unterschiedlichen Schulsystemen zu tun – vor allem auf der Oberstufe, wo generell häufiger repetiert wird. «Klassenwiederholungen stehen oft in Zusammenhang mit einem Niveauwechsel», erklärt Markus Neuenschwander, Professor für Pädagogische Psychologie an der Fachhochschule Nordwestschweiz.

Wo man im Niveau nicht fachspezifisch, sondern nur fachübergreifend aufsteigen könne, sei es üblich, die Klasse zu wiederholen – weil der Stoff aus allen Fächern aufgearbeitet werden müsse. Kantone mit solchen Regelungen haben deshalb auch meist höhere Repetentenquoten.

Volle Lehrpläne erzeugen Schulversagen

Unter dem Strich sind die Quoten aber fast überall hoch – jedenfalls zu hoch dafür, dass der Nutzen fraglich ist. Gérard Bless von der Uni Freiburg erklärt es mit der Tradition: «Die Klassenwiederholung gehört zur Schule wie die Turnhalle und die Wandtafel. Und der einzelnen Lehrperson fällt es in der Regel auch gar nicht so auf, wie viele betroffen sind. Pro Klasse gibt es vielleicht einen oder zwei Schüler, das sieht nicht nach viel aus.»

Die hohen Quoten seien aber auch auf die Lehrpläne zurückzuführen. «Die sind meiner Meinung nach völlig überfrachtet und erzeugen damit geradezu Schulversagen. Weniger wäre mehr.»

Ein Repetent kostet 24'000 Franken

Wen es trifft mit dem Repetieren ist eher zufällig. Die Schulleistungen geben zwar den Ausschlag, ob ein Lehrer eine «Ehrenrunde» in Betracht zieht. Doch die Einschätzung der schulischen Leistung ist eine Geschichte für sich.

Eine Nationalfondsstudie von 2004 belegt, dass Bewertungen nicht objektiv sind, sondern von vielem abhängen, das der Schüler nicht beeinflussen kann. Etwa von den Leistungen der Klassenkameraden oder vom Wohnkanton und dem dortigen Schulangebot. In einer eher schlechten Klasse ist es bei vergleichbarer Leistung einfacher, gute Noten zu erzielen. In Kantonen mit einem grossen Angebot an Sekundarklassen ist es leichter, den Sprung dorthin zu schaffen. Mit anderen Worten: Gleich gute Schüler werden am einen Ort versetzt, am andern müssen sie repetieren.

Das Geld, das für Repetitionen fliesst, würde man besser an anderen Orten einsetzen, findet Dieter Rüttimann, Schulleiter der Gesamtschule Unterstrass und Dozent am Institut Unterstrass der Pädagogischen Hochschule Zürich: «Im Schnitt kostet ein Schuljahr etwa 24'000 Franken pro Kind. Bei einem Verzicht auf Repetitionen würden Millionen frei für die Frühförderung.»

Sollte man Klassenwiederholungen also verbieten? Bildungsforscher Gérard Bless von der Uni Freiburg rät von einem generellen Verbot ab – «denn dann wäre die Gefahr gross, dass als schwach eingeschätzte Kinder zunehmend in Sonderklassen gesteckt würden». Aber das Repetieren sollte deutlich seltener und im Sinne einer Ausnahme bei besonderen Situationen verordnet werden, sagt er.

In Einzelfällen sei es durchaus ein probates Mittel, findet auch Jürg Brühlmann vom Schweizerischen Lehrerinnen- und Lehrerverband (LCH): «Für einzelne Kinder kann das Wiederholen richtig und wichtig sein.» Es hänge auch von der Motivation ab: «Als Strafe für schlechte Noten und schlechtes Betragen taugt die Repetition nicht. Aber wenn ein Schüler von sich aus motiviert ist und die Klasse wiederholen will, kann es schon helfen.» Für Brühlmann wäre eine Quote von bis zu fünf Prozent pädagogisch begründeten Repetitionen vertretbar.

Sitzenbleiben in Basel abgeschafft

Im Kanton Zürich will man sich über mögliche Massnahmen Gedanken machen. Im Kanton Basel-Stadt hat man sie bereits ergriffen. Die Quote lag hier schon immer unter dem Schweizer Schnitt, derzeit steht sie bei fünf bis elf Prozent. In diesem Schuljahr trat in Basel eine neue Schullaufbahnverordnung in Kraft, bei der Repetitionen grundsätzlich nicht mehr vorgesehen sind. Jedes Kind wird automatisch in die nächste Klasse versetzt und speziell gefördert, wenn es nötig ist. «Wir wollen das Geld dort einsetzen, wo es sinnvoll ist», erklärt Pierre Felder, Leiter Volksschulen im Erziehungsdepartement. Besserung für die ganze Deutschschweiz verspricht der Lehrplan 21. «Die Repetition nach einem Schuljahr wird dann kaum mehr möglich sein, weil es nur noch nach der 2., der 6. und der 9. Klasse Mindestanforderungen gibt, die die Schüler erfüllen müssen», sagt Jürg Brühlmann vom LCH.