Beobachter: «Lehrer sein ist kein Beruf, sondern eine Diagnose», weiss ein Bonmot. Wie lautet Ihr Befund?
Urs Schildknecht:
Ich würde eher sagen, Lehrer sein ist eine Leidenschaft. Wobei das Wort auch das Leiden enthält, das diese Tätigkeit manchmal mit sich bringt. Ich vergleiche den Lehrberuf gern mit dem Job des Managers. Lehrer haben einen vielseitigen Beruf, der viel Kreativität und Selbstverantwortung verlangt. Wer Lehrer wird, muss mit Kindern aus allen Schichten und Kulturen zurechtkommen. Im Widerspruch zu den hohen Anforderungen stehen der geringe Sozialstatus und kaum vorhandene berufliche Entwicklungsmöglichkeiten.

Beobachter: Früher waren Lehrpersonen noch Autoritäten, heute gelten sie als überbezahlte Jammerer. Weshalb soll man heutzutage überhaupt noch Lehrer werden?
Schildknecht:
Der Lehrberuf ist auch heute noch eine sinnvolle Tätigkeit. Er hat aber stark an Attraktivität verloren. Dafür gibts viele Gründe. Kürzlich wurde im Kanton Aargau eine Studie zu diesem Thema gemacht. Junge Männer vor der Matur wurden gefragt, wieso sie nicht Lehrer werden wollten. Der Lehrberuf sei konfliktreich, belastend, anspruchsvoll, von zu geringem Prestige und biete praktisch keine Karrieremöglichkeiten, antwortete die Mehrheit der Maturanden.

Beobachter: Eine richtige Einschätzung?
Schildknecht:
Ja. Nur ein Viertel aller Lehrpersonen sagt von sich, nicht psychisch angeschlagen, ausgebrannt oder durch die Anforderungen demotiviert zu sein.

Beobachter: Das klingt alarmierend. Doch warum wurden in der Aargauer Studie bloss junge Männer und keine Frauen befragt?
Schildknecht:
Für die Lehrernachwuchsförderung müssen vor allem junge Männer gewonnen werden. Falls diese Rekrutierung nicht gelingt, droht eine Feminisierung des Lehrkörpers. Der Frauenanteil bei der Lehrerschaft ist nämlich hoch, er liegt gesamtschweizerisch bei rund 60 Prozent. In den Primarschulen sind sogar drei Viertel aller beschäftigten Lehrpersonen weiblich.

Beobachter: Was ist daran schlecht?
Schildknecht:
Der Grossteil der Lehrerinnen arbeitet in der Volksschule auf Teilzeitbasis und war in den letzten Jahren ein zu leichtes Opfer für rigorose Sparschnitte – was den Trend zur teilzeitlichen Frauenarbeit weiter verstärkt hat. Die gesellschaftliche Entwicklung zeigt: Berufe mit stark sozialem Charakter und guten Teilzeitmöglichkeiten entwickeln sich zu so genannten Frauenberufen. Doch aus gesellschaftlichen, pädagogischen und bildungspolitischen Gründen müssen weiterhin auch genügend Männer auf allen Schulstufen anzutreffen sein. Es ist für die Persönlichkeitsbildung der Kinder wichtig, dass sie in ihrem Schulalltag auch männliche Autoritätspersonen kennen lernen.

Beobachter: Laut dem Soziologen Reinhard Kreissl ist ein steigender Frauenanteil ein Beweis für die sinkende Bedeutung eines Berufs.
Schildknecht:
Das stimmt. Aber unser Bildungssystem ist gerade wegen der hohen Frauenquote überhaupt noch so leistungsfähig. Ich erachte es auch als sehr sinnvoll, dass Frauen beispielsweise als Wiedereinsteigerinnen zurückgewonnen werden, da sich so ihre Erfahrung als Kindererzieherinnen mit einem grossen pädagogischen Bewusstsein verbinden kann.

Beobachter: Damit ist das Stellenproblem aber noch nicht gelöst.
Schildknecht:
Richtig. Wenn man die Altersstruktur der Lehrerschaft anschaut, müssten jedem Politiker die Augen aufgehen. In der Volksschule sind 55 Prozent der Lehrerinnen und Lehrer über 40 Jahre alt. Das bedeutet, dass in den nächsten 10 bis 15 Jahren ein Viertel aller Stellen – also 16000 – neu besetzt werden müssen. Wir brauchen unbedingt ein umfassendes Konzept, das junge leistungsfähige Männer und Frauen dazu bringt, den Lehrberuf zu ergreifen.

Beobachter: Was soll dieses Konzept denn umfassen?
Schildknecht:
Weil vor allem auf dem Buckel der Lehrerinnen und Lehrer gespart wird, droht primär eine Qualitätseinbusse im öffentlichen Bildungswesen. Denn je schlechter der Sozialstatus von Lehrern und Lehrerinnen ist, desto schlechter ist das Schulsystem. Seit 1992 stagnieren die Betriebs- und Investitionsausgaben im Bildungswesen bei 5,6 Prozent des Bruttosozialprodukts oder 20,8 Milliarden Franken. Dies trotz einem Anstieg der Schülerzahl von 1,2 auf 1,3 Millionen und trotz den gestiegenen Ansprüchen an die Lehrerschaft bezüglich Fremdsprachen und Integrationsaufgaben. Gute Bildung hat aber ihren Preis. Ganz konkret muss für bessere Arbeitsbedingungen gesorgt werden. Dazu gehören zum Beispiel kleinere Klassen, verringerte Pflichtpensen und bessere Weiterbildungsmöglichkeiten. Ein hoch belasteter Beruf ist zudem nur dann attraktiv, wenn er auch Entwicklungsperspektiven hat.

Beobachter: Und was erwarten Sie von den Lehrerinnen und Lehrern?
Schildknecht:
Von den Lehrerinnen und Lehrern erwarte ich, dass sie ihre Kooperationsbereitschaft erhöhen und ihre Ablehnungshaltung gegenüber Neuerungen vermindern.

Beobachter: Die ungenügenden Karrierechancen im Lehrberuf sind aber ein grundsätzliches Problem.
Schildknecht:
Es sind neue Möglichkeiten zu schaffen. Nur so lässt sich die Attraktivität des Berufs wiederherstellen – für Männer wie für Frauen. Heute sind wir unter anderem auf dem Weg zur teilautonomen Schule, die von qualifizierten Lehrerteams geleitet wird. Die Teilautonomie der Schulen läuft darauf hinaus, dass eine gewisse Budgetverantwortung beim Lehrkörper liegt. Da muss künftig mit Geld umgegangen werden können. Weiterbildung auf diesen Gebieten scheint mir sehr angebracht.

Beobachter: Schön und gut. Doch rund ein Drittel der Junglehrer springt schon in den ersten zehn Berufsjahren ab.
Schildknecht:
Gerade deshalb sehe ich auch Bedarf bei der Junglehrerberatung. Mir schwebt eine Art Tutorsystem vor: Ältere und erfahrene Lehrer und Lehrerinnen betreuen die Anfänger. Zudem braucht es Fachleute im Bereich des Konfliktmanagements: Was tun, wenn ein Konflikt ausbricht – sei es im Lehrerteam, unter den Schülern oder zwischen Eltern, Lehrpersonen und Schulbehörden. Solche Alltagsprobleme müssen professionell angegangen werden.

Beobachter: Lehrer sollen künftig auch Buchhalter, Beraterinnen und Moderatoren werden?
Schildknecht:
Ja, aber das Kerngeschäft ist und bleibt natürlich das Unterrichten: Lehrerinnen und Lehrer sind in erster Linie Fachleute für das Lernen. Ein grosses Dilemma sehe ich vor allem auf der Primarstufe: Die Lehrer wissen von allem etwas, sind aber keine Spezialisten. Meiner Meinung nach braucht es aber heute gerade auch wegen der gestiegenen Erziehungsansprüche und neuen Bildungsinhalte eine gewisse Spezialisierung: Lehrer und Lehrerinnen sollten auch in der Primarschule einen Fächerkanon nach ihrem Geschmack wählen können und sich in diesen Bereichen gezielt weiterbilden. So würde auch ihr Image und ihre Berufszufriedenheit steigen. Meine Vision ist, dass nicht mehr nur ein Primarlehrer oder eine Primarlehrerin für eine Klasse zuständig ist, sondern je nach Fächergruppe verschiedene wie etwa an der Oberstufe.

Beobachter: Sie wollen ein neues Berufsbild für Lehrerinnen und Lehrer schaffen?
Schildknecht:
Ja – und zwar nicht nur in der Primarschule. Gesellschaftliche Trends müssen auch in der Schule aufgenommen werden. Teilzeitarbeit oder Lehrersein als Zweitberuf – auch für Männer – muss klar, sinnvoll und organisatorisch befriedigend in den Berufsalltag integriert werden. Ich plädiere bei den Teilzeitlern für eine Sockelanstellung, damit – abgesehen vom reinen Unterricht – auch genügend Zeit für Teamsitzungen zur Verfügung steht.

Beobachter: Wie sollen ihre Vorschläge umgesetzt werden?
Schildknecht:
Es braucht eine Task-Force für die Zukunft der Schule, die sich auch um das Nachwuchsproblem kümmert. Schliesslich ist das Problem brisant: Die öffentliche Schule ist in Gefahr, wenn in den nächsten zehn Jahren nicht genügend Nachwuchskräfte rekrutiert werden können. Es brennt, aber niemand merkt es. Die Bildungspolitiker müssen sich endlich wieder um Bildungsfragen und ums Lehrpersonal kümmern statt ums Sparen. Die Bildungsdirektoren tragen schliesslich die Verantwortung für die Schule der Zukunft.

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