*Namen der Betroffenen geändert

Anfang 2009 zieht die Behörde die rote Karte. Die Brüder Lukas und Josef Howald* werden vom Unterricht an der Schule Sennwald im St. Galler Rheintal ausgeschlossen. Definitiv. Aus Sicht der beteiligten Ämter und Instanzen ein unaufschiebbarer und nötiger Entscheid. Für die Eltern Hilla und Walter Howald hingegen ein Armutszeugnis der Behörden: «Wir haben lange um eine Aufnahme an einer anderen Schule in unserer Gemeinde nachgesucht. Aber unsere Kinder sind bloss noch Akten.»

Ein solcher Schulausschluss ist die härteste Sanktion, die das Gesetz im Kanton St. Gallen vorsieht. Sie traf im vergangenen Schuljahr insgesamt zwölf Kinder, «deren Verhalten zu Beanstandungen Anlass» gab, wie es das Volksschulgesetz für diesen Schritt fordert. Wenn es so weit kommt, hat das meistens mehrere Gründe: Die Eltern erwarten zu viel, nicht jeder Lehrer ist wirklich ein guter Pädagoge, und natürlich können Schüler sehr schwierig sein – oder es durch die Umstände werden. Die Geschichte von Lukas, 14, und Josef, 11, ist ein solches Drama.

Nach Konflikten an der Primarschule wechseln sie und ihre zwei älteren Brüder 2007 über die Grenze an Privatschulen in Vorarlberg. Die Älteren schliessen dort erfolgreich ihre Schulpflicht ab, und auch Lukas blüht nach schwierigen Jahren regelrecht auf, erzählt die Mutter. Nur Josef überfordert der Freiraum an einer Montessori-Schule. Deshalb und weil die zeitliche und finanzielle Belastung für die Eltern zu gross wird, kehren Lukas und Josef an die Regelschule Sennwald zurück. Im Sommer 2008 werden sie nach einigem Hin und Her in einer regionalen Time-out-Schule für sogenannt schwierige Fälle untergebracht – als «kurzfristige Übergangslösung», wie in der Verfügung der Schulgemeinde steht.

Schulpsychologen empfehlen ein Internat

Doch die Brüder spielen nicht mit. «Wir sollten Holz hacken für Kunden», erinnert sich Lukas, «doch ich wollte schulisch etwas lernen.» Wegen «Nichtbefolgens der Anweisungen» und ständiger Streitereien werden beide vorerst für eine Woche suspendiert. Dann setzen sie gemeinsam mit anderen noch einen drauf und bewerfen auf dem Schulweg fahrende Autos mit Äpfeln. Lukas und Josef werden für drei Wochen vom Unterricht ausgeschlossen.

Jetzt liegt auch der Bericht des Schulpsychologischen Dienstes vor, der bei den Kindern einen «sehr grossen Bedarf an Förderung sowohl in der Sach-, Selbst- und Sozialkompetenz» diagnostiziert. Ihre Leistungen lägen «deutlich unterhalb der Stufenerwartung». Der Eintritt in eine Sonderschule wird empfohlen – am besten in einem Internat, damit sie sich im Sonderschulalltag zurechtfinden können.

Howalds akzeptieren die Sonderbeschulung, wehren sich aber gegen eine Internatslösung. «Das hätte die Kinder aus unserer Familie gerissen, von den Kosten ganz zu schweigen», so die Mutter. Sie sucht nach einer externen Lösung in der Region. Die Brüder können zwar an mehreren Orten schnuppern, doch keine Schule will die beiden aufnehmen – ihre Vorgeschichte schreckt wohl ab. Die Zurückhaltung hat auch mit dem Kostendruck zu tun: Pro 100 Schüler gilt in St. Gallen ein Richtwert von 30 Lektionen Förderunterricht, und dieser Pensen-Pool soll nun gekürzt werden. Da haben Lukas und Josef, die grosse Defizite aufweisen und Unterstützung benötigen, schlechte Karten.

In dieser Situation erteilt Hilla Howald ihren Kindern mit einer ausgebildeten Pädagogin über Monate zu Hause Unterricht. Das ist der Schulbehörde Sennwald zu wenig – da sie aber auch keinen Weg zurück in die Regelschule sieht, verfügt sie im Februar 2009 den Schulausschluss von Lukas und Josef. Und ordnet den Eintritt in eine Sonderschule mit der Begründung an: «Die Möglichkeiten der Volksschule sind ausgeschöpft. Viele Anstrengungen haben keine konkreten Ergebnisse gebracht. Die bereits lange Zeit der Nichtbeschulung bzw. der minimalsten Hausbeschulung bringt für Lukas und Josef unaufholbare Nachteile für das spätere Leben. Das wichtige Lernen im sozialen Leben sowie der Umgang und das Zurechtfinden in der Gruppe finden nicht statt, ganz abzusehen von einer mittlerweile grossen Bildungslücke.» Der Schulausschluss werde als allseitig entlastender Schritt angesehen.

Der Sportlehrer teilte Kopfnüsse aus

Hilla Howald holt dazu weiter aus: «Um die Situation besser zu verstehen, muss man unsere Familiengeschichte kennen. Mein Vater hat sich im Dorf quasi vom Tellerwäscher zum Millionär hochgearbeitet.» Daher hätten sie und die Kinder oft Missgunst verspürt: «Was ich in all den Schuljahren miterlebt habe an Traurigem und Schikanösem, könnte ein ganzes Buch füllen.» Dokumentiert und in einem Fall auch durch ein Arztzeugnis belegt sind körperliche Züchtigungen durch einen Sportlehrer. Ihre Kinder – aber auch andere – hätten immer wieder mal Kopfnüsse erhalten oder seien an den Ohren und Haaren gezogen worden, beklagt sich Hilla Howald. Beschwerden hätten nichts genützt.

Der Sennwalder Schulratspräsident Christoph Friedrich kann sich zum laufenden Verfahren aus Gründen des Amtsgeheimnisses nicht äussern. Er merkt zur belasteten Vorgeschichte einzig an, dass es «halt überall menschele». Spricht man mit anderen Eltern im Dorf, hört man: Einige altgediente Lehrer seien noch sehr autoritär. Krass formuliert es eine Mutter, die selber Kinder an der Schule hat: «Am besten fährst du mit Schleimscheissen.»

Genau das kann Hilla Howald nicht. Im Ton ist die Frau ausnehmend freundlich, in der Sache aber konsequent. Sie gilt als unbequem. Ehemann Walter unterstützt sie, exponiert sich aber weniger. Immer wieder haben sich die Eltern für ihre Sprösslinge gewehrt, die Lehrer konfrontiert. Hilla Howald legt Briefkopien auf den Tisch, die die Dinge beim Namen nennen: «Alles redet von der Mitverantwortung der Eltern, doch wirklich wollen tut sie hier niemand.» Mehrmals musste sich Hilla Howald von der Schulleitung sagen lassen, sie «erwarte übermässig viel Zeit und Engagement der Lehrpersonen und sei teils uneinsichtig und ein erheblicher Teil des Problems der Schulschwierigkeiten ihrer Söhne».

Rapporte zur Schulkarriere von Lukas zeigen, dass viel schiefgelaufen sein muss. Im Kindergarten fällt er auf wegen «Entwicklungsverzögerungen im sprachlichen, motorischen und sozial-emotionalen Bereich». Die ersten zwei Jahre absolviert er daher an einer heilpädagogischen Schule. Laut Bericht der Lehrerin mit grossem Erfolg: «Lukas’ Leistungen in den Kulturtechniken sind gut. Insgesamt ist er ein guter und leistungsstarker Schüler. Aufgrund seiner kontaktfreudigen, offenen Art wird er in der zweiten Regelklasse in Sennwald schnell Anschluss an die Klassengemeinschaft finden.»

Doch die positive Prognose erfüllt sich nicht. 2006 macht die Schulleitung erstmals Meldung an die Gemeinde, beklagt sich über «freche Antworten». Regeln würden oft nicht eingehalten. Und: Die «individuellen Wünsche für ihre Kinder werden von der Mutter den kollektiven Möglichkeiten innerhalb einer Klasse übergeordnet». Glücklich war nur das Schuljahr 2007 an der Montessori-Privatschule in Vorarlberg. «Dort habe ich mich wohlgefühlt, ich hatte mehr Freiraum und einen guten Freund», so Lukas. Der Schulbericht erwähnt wechselnde Gemütszustände. Erst wenn Lukas sehr eng geführt werde, finde er Ruhe und zeige auch erstaunliche Leistungen.

Ein Entzug der Erziehungsgewalt droht

Als nur ein Jahr später die Einschätzung des Schulpsychologischen Dienstes Lukas als Sonderschüler einstuft und es später zum Schulausschluss kommt, wandern die Akten von Lukas und Josef an die Vormundschaftsbehörde, die nun zuständig ist. Im März 2009 wird eine Erziehungsbeistandschaft angeordnet – mit der Drohung, die elterliche Obhut zu entziehen, sollte keine einvernehmliche Lösung für die Ausgeschlossenen gefunden werden.

Jetzt erwägt die Familie sogar einen Wohnortswechsel, falls Lukas und Josef anderswo unterkommen. Tatsächlich finden sie eine Schulgemeinde in der Region, die beide nach den Sommerferien vorerst für ein halbes Jahr in Regelklassen aufnimmt. Danach will man weitersehen – vorausgesetzt, die Familie zügelt tatsächlich. Die Vormundschaftsbehörde drückt beim Deal beide Augen zu, sind doch Ausschluss aus der Regelschule und Sonderbeschulung rechtsgültig fixiert.

Zumindest beim jüngeren «Problemkind» Josef tut sich am neuen Ort Erstaunliches. «Der Junge ist fleissig, friedlich und anständig, seine schulischen Leistungen sind allerdings noch ungenügend», schreibt die Schule. Ein erfahrener Viertklasslehrer findet offenbar den Zugang. Lukas hingegen kann sich in die Kleinklasse nicht integrieren. «Er fällt immer wieder durch sein merkwürdiges, unmotiviertes und sehr passives Verhalten auf. Seine Leistungen sind nicht das Hauptproblem; es geht ihm nicht gut», heisst es im Bericht der Schule. Der Neue wird bald ausgegrenzt und geplagt. Schliesslich verweigert er Ende 2009 den Schulbesuch. Lukas spricht ungern darüber: «Ich hatte keine Freunde und konnte mich nicht konzentrieren.» Ihn belastet die Situation stark.

«Hätte ich ihn in die Schule prügeln sollen? Wir waren ja selber auch verzweifelt», sagt seine Mutter. Lukas lernt nun wieder zu Hause. Und den Eltern droht nach wie vor der Entzug der Erziehungsgewalt. Wie es weitergeht mit dem 14-Jährigen, der einmal Tierarzt, Autolackierer oder Gärtner werden möchte, ist offen. Die ihm von der Vormundschaftsbehörde zugewiesene Beiständin beruft sich auf das Amtsgeheimnis. Sie dürfe sich nicht äussern, nur so viel: Die Behörden hätten in diesem Fall «total sorgfältig» gearbeitet.