Bombenterror in der U-Bahn, Killerviren auf Weltreise, Dioxin im Ei? Davor fürchtet sich derzeit keiner, ja nicht einmal vor Erdbeben, obwohl die in der Schweiz eine reale Gefahr darstellen. Seit dem Reaktorunfall von Fukushima monopolisiert die Angst vor radioaktiver Strahlung die öffentliche Besorgnis. Woher kommt dieser Wankelmut in der Wahrnehmung von Risiken?

Mit Logik, Wahrscheinlichkeitsrechnungen und Nutzenmaximierung mögen Ingenieure und Rückversicherer argumentieren – doch beim Laien regiert das Bauchgefühl. «Die subjektive Komponente ist bei der Risikoeinschätzung sehr wichtig, und man muss wissen, wann sie einen in die Irre führen kann», sagt Wolfgang Gaissmaier, der am Berliner Max-Planck-Institut für Bildungsforschung die Risikokompetenz der Bürger erforscht.

So fühlen wir oft anders, als es angesichts der realen Risikolage logisch wäre. Nur wenigen bricht beim Autofahren der Angstschweiss aus, doch jeder Zehnte weigert sich aus Flugangst, in ein Flugzeug zu steigen. Dazu stehen die Opferzahlen in keinem logischen Verhältnis: Bei Flugzeugabstürzen sterben weltweit etwa 500 Menschen pro Jahr, im Strassenverkehr sind es allein in den USA über 40'000 – das sind ungleich mehr, auch wenn man die unterschiedlichen Passagierzahlen berücksichtigt.

«Beim Laien zählen qualitative Aspekte der Risiken», erklärt Michael Siegrist, der am Institut für Umweltentscheidungen der ETH Zürich das Phänomen Risikowahrnehmung untersucht. Unspektakuläre Risiken wie etwa ernährungsbedingte Diabetes werden oft unterschätzt, dramatische Katastrophen wie Flugzeugabstürze überschätzt – in ihrem Ausmass und in ihrer Häufigkeit.

Man lernt, mit Risiken zu leben

Der amerikanische Psychologe Paul Slovic identifizierte schon in den 1980er Jahren drei übergeordnete Qualitäten, die uns das Fürchten lehren: Neuheit und Schrecklichkeit einer Bedrohung sowie die Zahl der potentiellen Opfer. «Risiken, mit denen wir zu leben gelernt haben, kommen uns weniger schlimm vor», sagt Siegrist. Allen Opferzahlen zum Trotz jagen uns Pandemien oder Reaktorunfälle mehr Schrecken ein als Autofahren oder Rauchen. Hier spielen psychologische Dimensionen wie Freiwilligkeit und Kontrolle eine Rolle. Freiwillig gehen wir viel grössere Risiken ein als unfreiwillig – das Lawinenrisiko, das manche Variantenskifahrer am Berg akzeptieren, würden sie auf der Landstrasse niemals tolerieren.

Die Psyche lässt sich auch vom Faktor Zeit irreführen. Wer denkt heute noch an die Anthrax-Panik nach dem 11. September 2001? Oder an die Vogelgrippe? Und doch kaufte die Schweiz 2009 Vogelgrippe-Medikamente für 90 Millionen Franken und lagerte sie für den Pandemiefall ein. «Wir sind stärker beeinflusst von Dingen, die kürzlich geschahen, als von Dingen, die weiter in der Vergangenheit liegen», erklärt Ralph Hertwig, Psychologieprofessor an der Universität Basel. Ist kürzlich ein Ereignis eingetreten – ein Tsunami, ein Flugzeugabsturz oder ein Terroranschlag –, dann halten wir es subjektiv für wahrscheinlicher. Als Folge davon werden zum Beispiel nach einem Erdbeben deutlich mehr private Versicherungen gegen Naturkatastrophen abgeschlossen als vorher.

Reflexe nützten unseren Urahnen

Es wäre aber falsch, diese Ängste als irrational abzustempeln. «Eine Anpassung an die Erfahrung ist grundsätzlich vernünftig, denn unsere Umwelt ändert sich stets», sagt Hertwig. Eigentlich ist unser Gehirn vorzüglich an den Umgang mit Risiken angepasst. Für Gefahren wie Spinnen, Löwen oder Schluchten besitzen wir Lernautomatismen, die Assoziationen wie «Spinne gleich Gefahr» erleichtern. Reflexartige Furcht davor garantierte das Überleben unserer Urahnen. Nur genügen diese In-stinkte oft nicht in einer Umgebung mit 24-Stunden-Nachrichtensendungen, Statistiken und Fastfood. «Die Evolution konnte uns keine Angst vor einem grossen Hamburger beibringen», sagt Hertwig. «Dabei stellen Nahrungsmittel mit hoher Energiedichte heute eine potentiell grosse Gefahr für die Gesundheit dar.» Zu früheren Zeiten waren Fett und Zucker seltene Leckerbissen, die Vorliebe dafür überlebenswichtig.

Die Kernkraft weckt diese urzeitlichen Ängste: Sie ist relativ neu, menschengemacht, für den Einzelnen unkontrollierbar und gefährdet potentiell viele Leute. Unheimlich ist auch die Strahlung, die man weder sehen noch riechen oder schmecken kann. «Es überrascht mich nicht, dass der Atomunfall viel mehr Beachtung erhielt als der Tsunami», sagt Siegrist. «Ich finde es dennoch erschütternd, dass die Tsunami-Toten in den Hintergrund geraten. Für die Betroffenen ist es zweitrangig, durch welche Katastrophe sie zu Schaden kommen.»

Denn Risikomanagement sollte in erster Linie Leben retten. «Wenn man Ressourcen zur Schadensminderung falsch einsetzt, bezahlt man das mit Todesopfern», warnt Siegrist. Nach den Anthrax-Attacken im September 2001 wuchsen in den USA die Ausgaben für die Bioterror-Abwehr um das 18-Fache – Geld, das zur Bekämpfung natürlicher Pandemien fehlte. Allerdings hängt es auch von subjektiven Faktoren ab, ob Massnahmen akzeptiert werden. Dies haben Siegrist und Heinz Gutscher, Sozialpsychologe an der Uni Zürich, am Beispiel von Hochwasser in der Schweiz nachgewiesen. Sie befragten 200 Menschen in Risikogebieten, von denen manche die Überschwemmungen von 2005 miterlebt hatten und andere nicht. Dabei zeigte sich, dass der Wille, Keller zu räumen oder Hochwasserwände zu bauen, viel stärker von der persönlichen Erfahrung abhing als von der realen Gefahr.

Wie kann man Vertrauen fördern?

Anders als bei Hochwasser kann der Laie Nutzen und Risiko vieler Technologien nicht selbst einschätzen. Hilft die Gentechnologie, neue Krankheiten zu kurieren? Sind Freilandversuche mit gentechnisch veränderten Pflanzen zu verantworten? Um dies zu beurteilen, ist der Durchschnittsbürger auf Experten angewiesen. Doch wem soll er glauben dem Umweltaktivisten oder dem Industriekapitän? «Wir haben die Tendenz, Leuten und Organisationen zu vertrauen, die ähnliche Wertvorstellungen haben wie wir», sagt Siegrist. Den einen ist die Gesundheit der Natur wichtiger, anderen das Wirtschaftswachstum oder die Rettung kranker Kinder.

Wie kann man das Vertrauen fördern? Durch fundierte, glaubwürdige Fakten und ehrliche Kommunikation, meint Wolfgang Gaissmaier: «Man sollte die Ängste der Leute nicht ignorieren, sondern aufgreifen und erklären», sagt er. Stattdessen versuchten Politiker oft, trotz Unwägbarkeiten den Eindruck von Sicherheit zu vermitteln. In der BSE-Krise mussten darum zwei deutsche Minister zurücktreten. Einen «Skandal der Risikokommunikation» nennt Gaissmaier die Kommunikation bezüglich Rinderwahn – bestand doch zu jener Zeit kaum mehr eine Gefahr. Statt illusionäre Gewissheiten zu verkünden, hätten Politiker besser die Unwägbarkeiten offen kommunizieren, gleichzeitig aber auch das Risiko in einen realistischen Rahmen rücken sollen, urteilt der Forscher. Mit schönen Zahlen und Worten allein lässt sich die Akzeptanz einer neuen Technologie aber nicht «erkaufen». Es findet stets eine Güterabwägung statt.

Ein Nullrisiko gibt es nicht

Risikoreduktion führe oft zu neuen Risiken, mahnt ETH-Forscher Siegrist. Die Unfallstatistik der USA belegt, dass Tausende im Strassenverkehr ihr Leben verloren, da nach den Anschlägen vom 11. September 2001 viel mehr Menschen im Auto als mit dem Flugzeug reisten. «Der Mensch hat eine Abneigung gegen solche Kosten-Nutzen-Abwägungen», so Siegrist. «Auch in der jetzigen Atom-debatte findet sie nicht statt.» So sterben laut der Internationalen Energiebehörde deutlich mehr Menschen durch Kohle- als durch Kernkraftwerke – wegen Luftverschmutzung und Unfällen in Minen. «Es ist eine Illusion zu glauben, das Risiko könne auf null gesenkt werden», sagt Siegrist. «Es kommt immer zu einer Umverteilung.»

Warum wir Risiken nicht rational bewerten

  • Wir fürchten Schlangen, nicht Autos, denn die Urinstinkte sind tief in uns verwurzelt.

  • Wir fürchten Spektakuläres. Schreckensbilder prägen sich stärker ein und scheinen plausibler.

  • Wir unterschätzen schleichende und kumulierte Gefahren wie Rauchen und Bewegungsmangel.

  • Wir erliegen der Illusion von Kontrolle und fühlen uns sicherer, wenn wir etwas Riskantes selbst tun.

  • Wir verkennen Risiken: Bessere Bremsen führen nicht zu weniger Unfällen, sondern zu schnellem Fahren.

  • Wir verdrängen oft Gedanken an das Risiko, weil die angenehmen Effekte mehr Eindruck machen.

  • Der Nervenkitzel hat einen eigenen Reiz – je nach Persönlichkeit und Alter suchen wir das Risiko.

  • Wir beurteilen Risiken auch nach Werten. Eltern fürchten kiffende Kinder mehr als übergewichtige. 

  • Wir halten Natürliches für sicherer als Künstliches, obwohl die Natur vielerlei Gefahren birgt.

  • Die Angst selbst ist ein Risiko: Schreckensbilder können zu chronischen Angstzuständen führen.