Eldorado, Sonntagabend. Auf einem Campingstuhl sitzend, den träge fliessenden Paraná im Rücken, sagt José: «An diesem Hafen», und sein linker Arm schweift über die Uferlandschaft, «hat mein Grossvater 1932 das erste Mal die Provinz Misiones betreten.» Nach einem kräftigen Zug Matetee fügt er hinzu: «Eldorado war dann seine neue Heimat – für immer.» José Boxler schweigt, hängt seinen Gedanken nach. Es braucht nicht viel Vorstellungskraft, um sich im Licht der untergehenden Sonne die Bedingungen auszumalen, die die Schweizer Siedler vor rund 70 Jahren vorfanden, als sie den äussersten Nordosten Argentiniens erreichten.

Der Uferurwald, dicht und üppig grün, bildet eine undurchdringliche Festung. Wie sind die Menschen da bloss durchgekommen? Allein die Vorstellung, die wild wuchernde Natur mit der Machete bändigen zu müssen, treibt Schweissperlen auf die Stirn. Vor wenigen Stunden hat es sintflutartig geregnet. Die Luft ist feucht und heiss, die Naturstrasse ins Landesinnere aufgeweicht. Der mit Kisten, Koffern und Kindern beladene Ochsenkarren, der auf der vergilbten Fotografie im Stadtmuseum zu sehen ist, hätte wohl auch heute Mühe, vorwärts zu kommen.

José Boxler dagegen hat seine olivfarbene Ford-Limousine, Baujahr 1977, problemlos zum stillgelegten Hafen von Eldorado gesteuert. Der Paraná, Grenzfluss zwischen Paraguay und Argentinien, einst einziger Verkehrsweg durch unwegsames Gelände, wird seit dem Bau der Hauptstrasse nach Iguazu nicht mehr befahren. Die Fähre nach Paraguay ist eingestellt. Die bröckelnden Betonrampen und die beiden vor Anker liegenden Schiffe dienen nur noch dazu, Flusssand zu gewinnen.

Sonntags nehmen Familien die Hafenanlage in Besitz. Wer ein Auto hat und das Benzin noch bezahlen kann, fährt gegen Abend zum Fluss hinunter. Die Klappstühle werden gleich neben den geparkten Wagen aufgestellt. Dann giessen die Ausflügler heisses Wasser aus der Thermosflasche über das Yerba-Mate-Kraut in aluminiumverschalte Holzbecher und trinken den bitter-rauchig schmeckenden Tee durch spezielle Röhrchen.

Man hält ein Schwätzchen hier und da. Kinder spielen im Sand. Jugendliche lassen die Auto-Stereoanlagen dröhnen – jede mit eigenem Sound. Optimisten werfen die Angelruten aus in den praktisch leer gefischten Paraná. Fast kommt Ferienstimmung auf. Verdrängt sind die Gedanken an Sorgen und Not, die nicht erst seit dem Ausbruch der jüngsten Krise zum Leben in Eldorado gehören.

«Brot und Arbeit» fordern sie
Szenenwechsel. Bei Kilometer 6 kreuzt die Strasse, die vom Fluss hinauf durch Eldorado führt, die Ruta 12. Die Hauptstrasse verbindet Buenos Aires mit dem an der Grenze zu Brasilien liegenden Iguazu.

Neben dem Kreisel haben Menschen mit schwarzen Blachen und an Bäumen festgezurrten Seilen zwei einfache Unterstände gebaut. Unter dem bauchigen Kochtopf lodert ein Feuer. Einige Frauen rüsten an einem Holztisch Gemüse, die Männer stehen wartend herum. Der Matebecher macht die Runde. Etwas abseits zupft ein Mann die Saiten seiner Gitarre.

Die Männer und Frauen sind nicht zu ihrem Vergnügen hier. Seit gut drei Wochen protestieren die «Arbeiter von Eldorado» im Niemandsland gegen die Arbeitslosigkeit. «Pan y trabajo» – Brot und Arbeit – heisst ihre Forderung. Regelmässig blockieren sie die Ruta 12.

Es sei gefährlich, sich mit diesen Menschen einzulassen, hatte José Boxler gewarnt. Es seien alle «Hiesige» oder «Schwarze». So bezeichnen viele Schweizstämmige jene, deren Vorfahren nicht zwischen 1900 und 1930 aus Europa einwanderten. Die «Hiesigen» könnten auf die Idee kommen, so Josés Szenario, dass «wir Gringos an der Wirtschaftsmisere schuld sind. Und dann fliegt plötzlich ein Ziegelstein.» Die «Hiesigen» hätten eine schlechte Arbeitsmoral, einen ausgeprägten Egoismus und seien nur aufs «Bschiisse» aus.

Schweizer bleiben unter sich
Ob Neugierde oder Pflichtbewusstsein gegenüber dem Besuch aus der Schweiz, José Boxler kommt mit zum Kilometer 6 und übersetzt, was die Protestierenden erzählen. Zum Beispiel Marcellino Lopez. Er ist seit einem Jahr arbeitslos und bringt sich, seine Frau und die neun Kinder mit Gelegenheitsjobs durch. Damit verdient er wöchentlich etwa 15 Pesos. Ein Liter Milch kostet 0,75 Peso. «Noch vor einem halben Jahr hätten wir nie auf diese Art demonstriert», sagt Lopez. «Doch heute geht es nicht mehr anders.»

Am Abend beim gemütlichen Zusammensein in der Garageneinfahrt räumt José ein, im selben Boot wie die «Hiesigen» zu sitzen. Doch mehr liegt für den 56-Jährigen nicht drin. Die Schweizer in Eldorado bleiben unter sich. «Wir sind zwar alle betroffen von den unhaltbaren Zuständen», sagt José, der als Baggerführer mit eigener Maschine seit Monaten kaum mehr Aufträge bekommt. «Eigentlich sollte ich beim Protest mitmachen. Doch mir fehlt der Mut. Demonstrieren ist nicht meine Art. Da verhungere ich lieber.»

So weit wird es nicht kommen. Schliesslich besitzt José rund um sein Holzhaus etwas Land, auf dem neben vielen Blütensträuchern, Palmen und Blumen auch Maniok, Mais, Kürbis, Zitronen, Papayas und vieles mehr gedeihen.

Zudem gehört José einem weit verzweigten Clan an. Obwohl die acht Brüder und Schwestern das Heu nicht alle auf der gleichen Bühne haben, ist für Einwandererkinder der Zusammenhalt in schwierigen Zeiten selbstverständlich. Wie hätten die Kolonisten Helvetiens in der subtropischen Wildnis, wo eine Blinddarmentzündung oder ein Schlangenbiss mangels medizinischer Versorgung den Tod bedeuten konnte, sonst überlebt?

Im Zuhause von Vater und Mutter Boxler, etwa fünf Autominuten von Josés Haus entfernt, scheint die Zeit stillgestanden zu sein. Das alte Holzhaus und seine Einrichtung beschwören Bilder aus den Gründerzeiten herauf. Überall kleine Zeichen aus der alten Heimat: der Keramikteller mit Schweizer Flagge in der Küche, das Ölgemälde mit Bergbach und Schneegipfeln auf der Veranda, die alte Beobachter-Ausgabe auf dem Tisch neben dem Fauteuil. Einzig der Kühlschrank will nicht so recht in das Bild aus längst vergangenen Jahrzehnten passen.

Juan Boxler, gerade 80 Jahre alt geworden, ist 1932 als Zehnjähriger mit seinen Eltern vom Zürcher Oberland auf diesen Fleck Erde gekommen. Damals galt die Kolonie, die der argentinische Bankier Adolf Julius Schwelm Anfang 1920 gegründet hatte, tatsächlich als Eldorado. Jeder konnte hier sein Glück versuchen.

Juan Boxlers Vater war Schmied und hatte tonnenweise Werkzeuge im Gepäck. Bevor er sich seinem Handwerk widmen konnte, musste er aber das Überleben seiner Familie sichern. Mit Hilfe paraguayischer Arbeiter hätten sie «das bewaldete Land aufgeschlagen», erzählt Boxler. Dann wurde Mais und Maniok gepflanzt. Später kamen Yerba Mate und Tabak hinzu. «Damit liess sich gutes Geld verdienen. Hier wächst alles», sagt Juan Boxler. «Ausser Rhabarber», ergänzt Ehefrau Maria Boxler-de Florin. Ihn in diesem Klima zu kultivieren sei ihr nicht gelungen.

1940 kamen die Pflanzungen von Tung hinzu. Die Nüsse dieser Bäume lieferten ein weltweit gefragtes Öl, das zu Farben und Plastikprodukten verarbeitet wurde. Sechs Tonnen Nüsse ergaben eine Tonne Öl. Später begannen die Bauern, rasch wachsende Pinien für die Holzindustrie zu pflanzen. «Wir lebten all die Jahre nicht schlecht», sagt Boxler. 1977 habe er dank guter Ernte 225 Millionen Pesos erwirtschaftet. Die Hälfte davon reichte für die erste und einzige Reise des Ehepaars in die Schweiz. Danach sei es wirtschaftlich bergab gegangen. «Später hatte ich nie mehr so viel Geld auf meinem Konto.» Ohne die AHV, an die die Boxlers bereits seit 1951 regelmässig ihre Beiträge entrichteten, wären sie heute arm dran. Die Zeiten, in denen man von der Landwirtschaft gut leben konnte, sind vorbei.

Erst verdrängte Erdöl den Tung. Der Wegfall dieser Einnahmequelle läutete den wirtschaftlichen Niedergang ein. Mit der Zeit waren Yerba-Pflanzungen wegen der tiefen Marktpreise nur noch in grossem Stil rentabel. Heute hat die landesweite Krise auch die Holzindustrie erfasst. Für den kleinen Pflanzer zahlt es sich kaum mehr aus, den Wald zu bewirtschaften. José rechnet es vor: Vom Verkauf von zehn Tonnen Holz habe man vor 20 Jahren einen halben Monat leben können. Heute gibts dafür nur noch 20 bis 30 Pesos. «Für eine Tonne Holz kann ich gerade noch ein Kilogramm Fleisch kaufen. Da lässt man die Pinienstämme am besten stehen.»

Im Jahr 2002 sind die goldenen Zeiten von Eldorado Legende. «Wir haben eine Arbeitslosenquote von 45 Prozent. Das bedeutet, dass rund 5000 Familien kein Erwerbseinkommen haben», sagt Stadtpräsident Norberto Aguirre. Der ehemalige Fernsehjournalist kennt die Sorgen der rund 42'000 Einwohnerinnen und Einwohner seiner Stadt. Ob Mutter mit Kind, Landarbeiter oder Geschäftsfrau, alle dürfen sie an drei Morgen pro Woche bei ihm persönlich ihre Sorgen deponieren.

Die meisten sprechen vor, weil sie Arbeit suchen oder nichts zu essen haben. «Es ist schwierig, zuzuhören und dann nicht helfen zu können, denn Arbeit habe ich keine zu vergeben», sagt Aguirre. Bei den Lebensmitteln hat er mehr Spielraum. «Verschiedene Geschäftsleute unterstützen uns mit Spenden.» Grosse Sorgen bereitet Aguirre das Schicksal der Kinder. «Wir wissen, dass rund 10'000 Kinder unter 14 Jahren zu wenig zu essen bekommen. 4500 Kinder erreichen wir über unsere 56 Suppenküchen. Die anderen hungern.»

Festen im neuen Vereinslokal
Als ob er der harten Realität, die der Stadtpräsident aufzeigte, etwas entgegensetzen wollte, fährt José uns durch ein Vorzeigequartier. «Hier wohnen fast alles Kolonisten», kommentiert er. «Wie sauber alles ist. Die Bewohner haben sich zusammengetan und eine eigene Strassenreinigung organisiert.» Bei weniger adretten Häusern sagt José: «Das sind Hiesige.»

Anders als er kennen seine Schwester Lili de Rösch-Boxler und ihr Ehemann Rodolfo kaum Berührungsängste. Sie begleiten Journalistin und Fotografin zur Suppenküche im ärmlichen Guaraní-Quartier – trotz strömendem Regen. Für die Kinder, die sich geduldig um die Holzbrettertische scharen, ist das vom Staat finanzierte Mittagessen oft die einzige Mahlzeit am Tag. «Sie essen, bis sie satt sind», sagt Hugo Nuñez, Sozialvorsteher der Stadt. «Wenn etwas übrig bleibt, dürfen sie die Reste für die Eltern nach Hause nehmen.» Die Zukunft der notwendigen «Comedores infantiles Comunitarios» ist indessen ungewiss. «Das Geld reicht nur bis März», sorgt sich Nuñez. «Uns war nicht bewusst, dass Menschen bereits derart Hunger leiden», sagt Rodolfo, als wir ins Auto steigen. Seine Anteilnahme ist echt.

Es sind vorab die «Hiesigen», die von der Krise hart getroffen werden. Pedro Scherer, Schweizer Honorarkonsul in Eldorado, meint, den Schweizern gehe es im Vergleich nicht so schlecht. «Sie sind zuverlässig und arbeitsam», lobt er seine Landsleute. «Das wird hier geschätzt.» Und sie bringen die Mittel zusammen, um trotz schweren Zeiten für den Schweizer Verein ein ansehnliches Gebäude mit Saal und Bühne zu bauen. Das Irritierende dabei: Vereinspräsident Armin Kohli – er war noch nie in der Schweiz – meint selber, «die aktiven Mitglieder bald einmal mit der Lupe suchen zu müssen». Der Chor des Vereins ist längst eingegangen. Die Trachtengruppe Alpenrose, die für die Besucherinnen aus der Schweiz im halbfertigen Gebäude tanzt, kämpft mit Nachwuchsproblemen. Das Durchschnittsalter der Jassrunde beträgt fast 80 Jahre.

Immer weniger Urenkelinnen und Urenkel der einstigen Kolonisten sprechen Schweizerdeutsch. Für ihre Kinder werden die Schweizer Wurzeln bald nur noch Geschichte sein. Trotzdem: Armin Kohli freut sich bereits jetzt, den nächsten 1. August «endlich im eigenen Haus» zu feiern. Das Vereinslokal hat bisher 80'000 US-Dollar gekostet. Ob er die fehlenden 40'000 für den Endausbau auch zusammenbringen wird, ist sehr ungewiss. «Wir werden sehen. Festen können wir auch ohne Holzverschalung und Plättliboden.»