Atomkatastrophe: Das Gespenst der strahlenden Wolke
Brandausbruch, Schnellabschaltung, Strahlenalarm: Rund um das aargauische AKW Beznau wurde der Ernstfall geprobt – unter Ausschluss der Bevölkerung, zu deren Schutz die Übung stattfand.
Veröffentlicht am 28. März 2003 - 00:00 Uhr
Der Termin stand bereits seit einem Jahr fest: Am 19. März 2003 wird das Kernkraftwerk Beznau zum Gefahrenherd. 600 Verantwortliche von Bund, Kantonen und aus Deutschland wurden aufgeboten.
Einen weiteren Termin lieferte das AKW kurzfristig selbst – allerdings nicht geplant: Zwei Stunden vor Übungsbeginn führte eine Fehlmanipulation im Block 2 zur Schnellabschaltung. Die Werkleitung betonte: «Es traten keine Personenschäden ein. Es kam zu keiner Abgabe von Radioaktivität.» Ein echter Alarm, kurz vor der Übung: ein kleiner Flirt von Ernst und Gedankenspiel.
Dann nahm das Spiel überhand. Mittwoch, 19. März 2003, 16 Uhr. «Iris», der «Gesamtnotfall», beginnt. Die «koordinierte Ereignisbewältigung» rollt elf Stunden später an – fast zeitgleich mit dem US-Angriff auf den Irak. Um drei Uhr in der Früh ereignet sich «eine Explosion im Maschinenhaus»; es folgen ein Brandausbruch, eine Schnellabschaltung – die Lage gerät ausser Kontrolle. Fünf Uhr: Die zentralen Notfallstäbe werden aufgeboten. Neun Uhr: «Allgemeiner Alarm mit Sirenen. Die Bevölkerung wird aufgefordert, die Schutzräume aufzusuchen.»
Im unteren Aaretal und am Hochrhein ist vom Heulton der Sirenen nichts zu hören. Am Radio kommt der Unfall nicht zur Sprache. «Iris», zum Schutz der Bevölkerung gedacht, kommt ohne die Bevölkerung aus. Zwar sei die Nationale Alarmzentrale (NAZ) «grundsätzlich offen gegenüber einem Einbezug», erklärt Sprecher Felix Blumer, der Aufwand wäre allerdings «gigantisch».
Andere Motive sieht der Arzt und AKW-Gegner Martin Walter: «Die Angst vor dem politischen Fallout wäre zu gross. Übungen mit den Anwohnern würden die politische Akzeptanz der Atomenergie gefährden.» Dies gelte erst recht zwei Monate vor der Volksabstimmung über die beiden Atominitiativen am 18. Mai.
Fatalistische Haltung
9.10 Uhr. 50 Meter neben dem Pumphäuschen, in der Gewässerschutzzone von Full, lebt Karl Riwar mit seiner Frau in einem nordischen Häuschen – sechs Kilometer von Beznau und zwei Kilometer von Leibstadt entfernt. «Was ich bei einem GAU tun würde? Keine Ahnung!» Er lacht, denkt nach. «Ich glaube, ich würde weggehen, mit dem Wohnwagen. Die Schutzverordnungen kenne ich, aber ich mag nicht daran glauben. Eine fatalistische Haltung, ich weiss.» Karl Riwar ist pensionierter Bezirksschullehrer für Physik, Chemie und Biologie. Der frühe Gegner des AKW Leibstadt war eines der ersten Mitglieder des WWF. Sein Eriba Touring steht noch ohne Räder in der engen Garage. «In 15 Minuten sind die montiert.»
«Es gibt viele Gründe, die Gefahr herunterzuspielen», sagt Karl Riwar. «Die Warner und die Profiteure des Betriebs sind einander sehr verbunden.» Riwar hat keinen Zivilschutzkeller; das Untergeschoss seines Häuschens ist dominiert von einer Modelleisenbahn. Das Aufheulen der Sirene bedeutete für ihn «instinktiv Probealarm. Zudem gab es auch schon Fehlalarme. Bei echten Störfällen hiess es immer: ‹Zu keinem Zeitpunkt hat eine Gefährdung der Bevölkerung bestanden.› Was heisst es wohl, wenn es wirklich gilt?»
Die Bewältigung nuklearer Katastrophen ist in der Schweiz bis ins Detail geregelt. Unter anderem gelten: Verordnungen für den Notfallschutz, für die NAZ, für den Einsatz des Militärs, die finanzielle Entschädigung von Helfern, das Verteilen von Jodtabletten. In Schulen, Verkehrsbetrieben und Firmen gibts Checklisten für Verantwortliche. Unsicher bleibt aber, ob die Bevölkerung sich an das umfassende Regelwerk halten würde. Im Entwurf zum Bericht «Risikoprofil Schweiz» des Verteidigungsdepartements von 1999 steht denn auch: «Unter Umständen ist nach der Alarmierung mit Massenfluchtbewegungen, Verkehrszusammenbrüchen und Zusammenbruch des Kommunikationsnetzes zu rechnen.»
Unbedingt Panik vermeiden
9.15 Uhr. Auf der NAZ laufen die Telefondrähte heiss. 9.50 Uhr. Werner Graf, 83, Landwirt in Full, besorgt seinen Garten. Er hat 40 Aren Land; die Schafe hat er weggegeben. Eine Bekannte bepflanzt zwei Beete mit Bohnen, Sellerie; er selber hat Kartoffeln gesetzt. Ob man die im Störfall noch essen könnte? «Ich weiss nicht», sagt Graf. Bei Sirenenalarm würde er zuerst Radio hören. «Die sagen dann was, wie, wann, wo.»
Wie lange er es im Schutzraum aushalten würde? «Keine Ahnung. Zwei Tage? Drei? Aber so etwas sollte ja gar nie passieren, haben sie gesagt.» Seine Frau habe einmal erwähnt, es würden Jodtabletten verteilt. «Aber ich habe seither nichts mehr gehört von den Ämtern.»
NAZ-Sprecher Felix Blumer erklärt: «Für den Fall einer Massenflucht gibt es keinen eigentlichen Plan. Eine Fluchtbewegung würde man mit verstärkter Kommunikation verhindern. Fliehende würden aber keinesfalls aufgehalten: Panik muss vermieden werden.» Für Verstrahlte wären ausserhalb der Gefahrenzone Kontaktstellen mit ärztlicher und psychologischer Betreuung geplant. «Eine Evakuation fände nur statt, wenn zwischen Alarm und Austritt der radioaktiven Wolke mindestens sechs Stunden Zeit blieben.»
10.35 Uhr. Auf die Altstadt von Waldshut fällt ein mildes Licht. Am Brückengeländer lehnt ein Bettler. Gudrun Bischof, verheiratet, ein Kind, wird sich mit ihrem Mann demnächst selbstständig machen. Das Kraftwerk Leibstadt ist «voll präsent in unseren Wohnungsfenstern», sagt sie; sie lebt seit August im deutschen Städtchen. Infos, wie sie sich in einem Störfall zu verhalten hätte, erhielt sie nie.
In der Presse las sie nichts über die Schweizer Übung «Iris». Ein Kollege sagte ihr einmal, bei einem Störfall würde der Dampf aussetzen. «Kürzlich war das so. Weil etwas überprüft wurde. Na ja. Wenn was Schädliches entwichen wäre, würde ich das ja spüren.»
Von Jodtabletten habe sie auch schon gehört, sagt Bischof. «Das halte ich aber für einen Quatsch. Wenn ein Kraftwerk hochgeht, hat das wohl sein müssen. Damit die Leute aufwachen.» Ginge es nach ihr, müsste viel mehr Auseinandersetzung stattfinden. Nein, einen Schutzkeller habe ihr Haus nicht. «Ich wüsste nicht wohin gehen. Es gäbe Chaos, keinen Zweifel.»
Albert Schelb, Sprecher des Regierungspräsidiums im deutschen Freiburg im Breisgau: «In der Schweizer Übung ‹Iris› drehte die Strahlenwolke zum Glück noch rechtzeitig ab. Da war es dann auch nur halb so schlimm, dass wir vergessen hatten, die Jodtabletten auszuliefern.»
150'000 Menschen bedroht
10.40 Uhr. Die NAZ feilt am sechsten Pressecommuniqué. Vom Ernstfall betroffen wäre laut der Schweizer Notfallschutzverordnung von 1983 das Gebiet rund fünf Kilometer um den Reaktor – Zone eins – und in der Abwindrichtung ein Sektor von 120 Grad bis zu einer Distanz von 20 Kilometern (Zone zwei). Zöge die strahlende Wolke über das dicht besiedelte Limmattal, wären 150'000 Menschen bedroht. Würde der Wind die Wolke gegen Norden blasen, erreichte sie auch Waldshut-Tiengen jenseits der Schweizer Grenze.
«Die schweizerischen Zonen sind lächerlich klein», sagt der Arzt Martin Walter, der die Gegend um Tschernobyl viermal besuchte. Das österreichische Umweltbundesamt rechnet damit, dass eine radioaktive Wolke aus Beznau Teile Österreichs so stark verseuchen könnte, dass Evakuierungen nötig würden. Die österreichische Regierung erhob deshalb 2002 Einsprache gegen die Erteilung einer unbefristeten Betriebsbewilligung für Beznau 2. Das österreichische Gutachten basiere auf einem «extrem unwahrscheinlichen» Szenario, ist bei der Hauptabteilung für die Sicherheit der Kernanlagen zu erfahren.
Leaderpersönlichkeit gesucht
Im Ernstfall würde via Radio eine Flut von Verhaltensanweisungen ausgestrahlt. «Informieren Sie Ihre Nachbarn!» Allerdings: «Telefonieren Sie nicht!» – «Schliessen Sie Fenster und Türen im Haus, ebenso Gas- und Wasserleitungen.»
Der Schutzraum solle aufgesucht, aber die Panzertür ins Hausinnere nicht geschlossen werden, denn die Notventilation würde die radioaktiven Gase nicht herausfiltern. Mitzunehmen wären: Radio mit Batterien, Notvorrat und Getränk. Die Jodtabletten müssten vor Austritt der radioaktiven Wolke geschluckt werden. Der Aufenthalt könnte ein paar Stunden bis ein paar Tage dauern.
Zwölf Uhr, Beznau, «Iris». Erneut heulen die Sirenen auf – diesmal «ein unterbrochener, regelmässig auf- und absteigender Ton: Strahlenalarm KKW». Der Druck im Reaktorgebäude ist so gross, dass via Strahlenfilter radioaktive Luft abgelassen werden muss. Eine strahlende Wolke entweicht. Eine Stunde später dreht der Wind und verseucht bis anhin verschonte Gebiete. Der Grossteil der Bevölkerung befindet sich laut Szenario im Bunker. Dort ist die direkte Strahlung fünfzig- bis hundertmal geringer als im Freien. Die Bevölkerung muss ausharren, bis die radioaktive Wolke weggezogen ist.
«Von der Idee her ist dies richtig», sagt der Arzt Martin Walter. «Nur würden viele Menschen fliehen, weil sie den Behörden misstrauen.» Im Katastrophenfall müssten glaubwürdige Persönlichkeiten informieren, «denen auch wir AKW-Gegner vertrauen können».
Das «Fehlen einer zentral verantwortlichen Führung», die auch als Person fassbar wäre, bezeichneten selbst die Verantwortlichen der Übung «Gaia» 1998 als Hauptproblem. Eine Klärung dieser Frage sei «wiederum die Voraussetzung zur Behebung des zweiten grossen Problems, nämlich der Mängel in der Information an die Bevölkerung».
12.35 Uhr, Austrasse, Klingnau. Alex Vögeli, Landwirt, hat drei Söhne, 14, 13 und 10 Jahre alt. Mario, der Älteste, möchte auch Landwirt werden, will aber daneben noch schreinern. Vögelis Hof ist «zu gross, um zu sterben, und zu klein, um zu leben». Er selbst arbeitet zu 50 Prozent im Kieswerk.
«Ich verdränge, dass ich so nahe an Beznau wohne», sagt er. Manchmal frage er sich, wie weit er fliehen müsste, wenn «es» passierte. «Es reicht ja nicht einmal, nach Genf zu ziehen, wenn man an die Dimensionen von Tschernobyl denkt.» Auf dem Hof gibts keinen Schutzraum. «Oder doch. Das Gülleloch!», scherzt Vögeli. Im Ernst: Das Lagerhaus, 500 Meter entfernt, hat einen Zivilschutzkeller.
Dass der Reaktor am Vortag abgeschaltet wurde, bekam Vögeli nicht mit. «Ich war die letzten Tage immer auf dem Feld. Morgens kann ich nie Radio hören. Dass heute Übung ist, wusste ich nicht.»
«Keine kapitalen Fehler»
Bei einem Störfall sollten die erntereifen Produkte eingebracht werden. «Aber wie soll ich das in derart kurzer Zeit tun? Vielleicht reicht die Zeit für ein paar Sachen im Garten – dann ist fertig.» Um den Stall abzudichten, wäre genügend Plastik da, «auch ein paar Dachlatten, die ich vernageln könnte. Aber dicht machen, das geht wohl nie.»
Vögeli hat das Tierfutter in Siloballen eingehüllt, luftdicht verschlossen; fünf Monate reicht der gesamte Vorrat. Um ihn herbeizuschaffen, müsste er den Schutzraum verlassen. «Eine Gasmaske habe ich. Ich werde eine Schutzkleidung auftreiben müssen. Eine Pelerine und Pulver zum Entgiften, wahrscheinlich.» Die eigene Produktion würde er nachher nicht mehr verkaufen können.
Laut Konzept der Fachleute beginnt nach dem Durchzug der radioaktiven Wolke die «Bodenphase» der Verstrahlung. Sie kann Monate, aber auch Jahre dauern: Abgelagerte radioaktive Stoffe strahlen aus der Erde. Die Bevölkerung, verteilt in Keller und Bunker, erfährt jetzt, ob sie weiter in ihrer Gegend bleiben kann. Welcher Boden noch nutzbar ist, muss im Detail gemessen werden.
15.30 Uhr, Meteo Schweiz, Zürich. Der Abend ist mild, die Luft eher trocken. Die Eidgenössische Kommission für ABC-Schutz lädt zur Übungsbilanz. «Kriegsbedingt» sind nur wenige Journalisten zugegen. «Es hat einige Ungereimtheiten, aber keine kapitalen Fehler gegeben», lautet die erste Bilanz von Übungsleiter Bernhard Brunner, Direktor des AC-Labors in Spiez. «Aus technischer Sicht ist ein solcher Störfall nahezu ausgeschlossen.»
Kein Zutritt für Beobachter
Jetzt haben für kurze Zeit zivile Journalisten Zugang zu den NAZ-Bunkerräumen. Es herrscht reger Betrieb in den Gängen. Die Bilanzvideokonferenz verläuft zügig. Im Nachrichtenzentrum flimmern 25 Bildschirme, die meisten mit den neusten Nachrichten über den Irak-Krieg.
Gern hätten die Beobachter-Journalisten gesehen, wie die Verantwortlichen den Atomunfall proben. Das Gesuch um eine Teilnahme wurde mehrfach geprüft – und nach zwei Monaten abgelehnt. Ebenso die Bitte um Einsicht in den offiziellen Bericht über eine frühere Übung.
Mehr Offenheit herrschte jenseits des Rheins. Eine Radiojournalistin, die am deutschen Teil von «Iris» mitgewirkt hatte, teilte gleichentags ihre Erfahrungen dem Publikum mit. Auf Schweizer Seite waren beim fiktiven Störfall ausschliesslich Informationssoldaten zugegen. Sie sollten, so das Szenario, «nachhaltige Recherchen» anstellen.
Bleibt zu hoffen, dass sie dieses Mal exakter ausfallen. Nach einer Übung rund um das AKW Mühleberg zeigte die Titelseite der Übungszeitung nicht das AKW Mühleberg, sondern jenes von Gösgen. Der Text rapportierte kritiklos die Stellungnahmen der Behörden. Titel der Übungsstory: «Das grosse Aufatmen nach dem Unglückstag».