Angst habe ich keine vor Ali Sebti. Ich hab ihm ins Gesicht geschaut, als ich mit ihm kämpfte. Da hätte er mich töten können, er hat es aber nicht gemacht. Sebti fühlte sich wohl gedemütigt, weil er zuvor in einer anderen Bar wegen eines Streits mit drei Freunden von mir rausgeworfen worden war. Die drei Kollegen kamen später in mein Cabaret, um mir zur Geburt meines Sohnes zu gratulieren. Da trafen sie wieder auf Ali. Er holte zu Hause ein Messer, tötete zwei meiner Freunde und verletzte den dritten schwer.

Dass er Rache übte, entschuldigt nicht seine Tat, aber Sebti ist kein «Amok-Ali», wie ihn der «Blick» nennt. Der tötete nicht wahllos, sondern erst, als man ihn in die Enge trieb. Dass er Asylbewerber ist, ist auch nicht das Problem. Ich habe nichts gegen Ausländer, bin selbst mit einer Ausländerin verheiratet. Entscheidend ist, dass die Behörden Anhaltspunkte hatten, dass er gefährlich ist.

In Erstfeld war das aber nicht bekannt. Da lag der «Blick» wieder falsch, als er meldete, alle in Erstfeld hätten seit Wochen vor Ali Angst gehabt. Ali war ein unauffälliger Typ. Ich kannte sein Gesicht nur, weil er einmal drei Stunden gebraucht hatte, um sein Bier zu trinken. Wirklich negativ aufgefallen sind mir andere wie zum Beispiel ein CVP-Politiker, dem ich Hausverbot erteilen musste, weil er im Cabaret Tänzerinnen fotografiert hat, und vier Urner Polizisten, die ich rausschmeissen musste, weil sie sich danebenbenommen hatten. Bei mir herrscht Ordnung.

«Go! Go outside!»
An jenem Abend Anfang Mai war ich müde, weil zwei Tage zuvor mein Sohn Pawel zur Welt gekommen ist. Da war ich in einem Hoch, wie ich es noch nie zuvor erlebt habe. Nur zwei Tage später war ich dann im grössten Tief. Das Leben geht halt immer rauf und runter - wie die Berge hier um Erstfeld.

Es war morgens um drei. Ich legte Musik auf hinter der Bar, und plötzlich ging Sebti auf meine drei Freunde los. Ohne viel nachzudenken, wie aus Reflex, rannte ich zur Kasse am Eingang, wo der Pfefferspray stand. Das ist ein langer Weg und hat vielleicht entscheidende Sekunden gekostet. Ich sprayte Sebti den ganzen Pfefferspray ins Gesicht. Er wandte sich nur ein bisschen ab, schaute mich wieder an, verletzte dann aber nicht mich, sondern meinen dritten Freund, und zwar lebensgefährlich. Da konnte ich ihn von hinten in den Hebelgriff nehmen. Er stach mir in den linken Arm bis zum Knochen, wechselte das Messer in die andere Hand und stach auch in meinen rechten Arm.

Ich spürte keinen Schmerz, dachte nicht an die Gefahr, sondern drückte einfach zu. Dabei verlor ich das Gleichgewicht und musste ihn loslassen, um nicht zu stürzen. Mit einem Barstuhl drängte ich Sebti dann zum Ausgang des Cabarets. «Go! Go outside!», hab ich gerufen. Auf Englisch - ich weiss überhaupt nicht wieso. Ich hatte ja mit Ali sonst immer Italienisch gesprochen. Wir schauten uns stumm an. Dann drehte er sich um und verschwand. Die Barmaid unterstützte mich bei der Ersten Hilfe, doch für zwei meiner Freunde kam sie zu spät.

Erst im Spital, eine Stunde später, hab ich so richtig realisiert, was passiert war. Und der einzige Schmerz, den ich hatte, war der Schmerz über den Verlust meiner Freunde. Was er mir selber angetan hat, kann ich Ali verzeihen, aber dass er mir zwei gute Freunde für immer genommen hat, werde ich nie vergessen können. Mutig war meine Tat nicht. Es war reiner Reflex und wohl auch etwas Dummheit.

Wenige Stunden später sah ich meine Frau, die im gleichen Spital im Wochenbett lag. Sie und mein Sohn Pawel geben mir jetzt Halt.

Die Erinnerung macht traurig
Dann hörte ich von den ersten Meldungen in den Medien. Die waren ja kreuzfalsch. Das lokale Radio meldete, in meinem Cabaret habe es eine Schiesserei gegeben mit zwölf Verletzten, und ich sei in Haft genommen worden! Erst als ich mich direkt an die Medien wandte, besserte sich die Berichterstattung. Und dann kamen die Einvernahmen der Polizei. Davor fürchtete ich mich zuerst, weil ich ja auch schon Streit mit ihr hatte. Aber alle Befürchtungen waren grundlos. Die Polizei hat im Grossen und Ganzen gute Arbeit geleistet und mich korrekt behandelt.

Ich weiss noch nicht, was passiert, wenn ich das erste Mal wieder in meinem Cabaret stehen werde. Ob ich wieder so selbstsicher auf Störenfriede zugehen kann wie früher, als ich selbst Mineure in die Schranken weisen konnte, die grösser, breiter und stärker waren. Aber entscheidend ist jetzt nicht, wann das Cabaret wieder aufgeht. Entscheidend ist, dass mein schwer verletzter Freund und die Hinterbliebenen gut betreut werden.

Dieses Erlebnis hat sicher mein Leben verändert. Ich weiss nur noch nicht wie. Manchmal, wenn ich entspannt über einem Café crème sitze, sehe ich plötzlich wieder Bilder von jener Nacht. Sie machen mir nicht Angst. Aber ich werde traurig. Traurig über den Tod meiner Freunde. Und ich frage mich immer wieder: Was hätte ich besser machen können? Wie hätte man das verhindern können?