«Auch der kleinste Samen kann Früchte tragen»
Um einen handfesten Beitrag für den Frieden zu leisten, lässt der 51-jährige Zürcher Aikido-Meister Kurt Bartholet Menschen aus Konfliktregionen gegeneinander antreten.
Veröffentlicht am 14. März 2006 - 18:05 Uhr
Als wir einmal am Ende eines Kurses ein Fest machen und für alle eine grosse Tafel anrichten wollten, wurde mir schlagartig bewusst, wie behutsam man doch mit den Unterschieden zwischen den Kulturen umgehen muss. Kurz bevor das Fest anfing, kamen einige Muslime auf mich zu und sagten, es tue ihnen leid, sie könnten sich nicht zu uns setzen, wenn Alkohol getrunken werde. Ich war perplex: Zwar wollte ich den fremden Glauben respektieren, andererseits aber auch die eigene Kultur nicht verleugnen. Also stellten wir in einem Nebenraum, der gut zugänglich war, einen zweiten, alkoholfreien Tisch auf – und kamen so zu einer für alle akzeptablen Lösung.
Der Anlass hiess «Training across the border» und fand letzten Sommer in Zürich statt. Bei diesem Projekt geht es darum, mit Leuten aus verfeindeten Volksgruppen Aikido zu praktizieren. Der Start war im Frühling 2005 auf Zypern: Exakt auf der Demarkationslinie zwischen dem türkischen Norden und dem griechischen Süden führten wir einen ersten Kurs durch. Unser Dojo, so nennen wir das Trainingszentrum, befand sich auf dem Areal der Uno, es kamen etwa hundert Frauen und Männer aus diversen Konfliktzonen: Türkei, Zypern, Israel, Palästina, Irak, Jordanien, Kuwait und so fort.
«Wir sprechen nicht über Politik!»
Für viele war nur schon die Reise an den Kurs ein heikles Unterfangen. Palästinenser oder Jordanier zum Beispiel begeben sich in ernsthafte Gefahr, wenn sie Anlässe besuchen, wo auch Israelis sind. Das macht sie in den Augen ihrer Staaten zu Kollaborateuren. Oft werden solche Verdächtige einfach «aus dem Weg geschafft». Und genau solche Spannungen hat man während des Kurses deutlich gespürt. Die Jordanier etwa sagten zu den Israelis: «Wir trainieren zusammen, aber wir sprechen nicht über Politik!» Andere wiederum wollten die Konflikte bewusst thematisieren und haben vor und nach dem Aikido heftig diskutiert. Auf den Matten aber waren alle wieder Partner.
Aufs Aikido bin ich 1974 gestossen, nachdem ich zuvor viel Leistungssport gemacht habe: Judo, Kendo, Fussball, Skifahren. Ich war zwar sehr aktiv, aber innerlich nie wirklich zufrieden. 1980 ging ich nach Japan, wo ich über ein Jahr lang nur noch Aikido trainierte. Ich hatte einen sehr versierten Lehrer und lebte eine Weile in einem Zen-Kloster. Heute habe ich den sechsten Dan; damit bin ich autorisiert, Schwarzgurtprüfungen abzunehmen.
In Zypern wie in Zürich war unser erstes Ziel, eine vertrauensvolle Umgebung zu schaffen. Nur so können sich feindlich gesinnte Menschen überhaupt annähern. Es gab auch Vorträge über Konfliktbewältigung, doch vor allem hatte man viel Zeit, um belastende Erlebnisse loszuwerden. Zum Beispiel erzählte ein junger Iraker, wie er in Bagdad haarscharf einen Terroranschlag überlebt hatte; dieses Gespräch war für ihn sehr befreiend. Und so wie er sagten einige, sie hätten sich noch nie so sicher gefühlt wie während der Aikido-Woche – weil für einmal die alltägliche Lebensbedrohung fehlte.
Klar bin ich mir bewusst, dass solche Aktionen nur ein Tropfen auf den heissen Stein sind. Und es sind eher gebildete, aufgeschlossene Menschen, die teilnehmen. Aber sie sind bereit, einen kleinen Samen nach Hause zu nehmen in der Hoffnung, dass er Früchte trägt. Auch der geringste Beitrag, Menschen zueinander zu führen, ist wertvoll. Wenn man etwa an den Streit um die Mohammed-Karikaturen denkt: Die Tatsache, dass Feindbilder so stark sein können, beweist doch, dass die kulturellen Gräben mit Vernunft allein nicht zu überwinden sind. Und mit roher Gewalt erst recht nicht. Ich glaube, es braucht handfestes Erleben, um vorwärts zu kommen. Im Aikido schaut man dem Gegenüber direkt in die Augen, beide Partner berühren sich körperlich und geistig. Das hilft, Ängste und Vorurteile abzubauen.
Im Kurs entstehen Freundschaften
Doch das funktioniert nur, weil es im Aikido keinen Wettkampf gibt wie im Kampfsport. Nicht das Gewinnen ist entscheidend – in der Kampfkunst zählt die gemeinsame Bewegung. Sicher dient Aikido auch der eigenen Gesundheit und der Selbstverteidigung. Als Sozialarbeiter und Therapeut setze ich Aikido seit Jahren bei Firmen und Institutionen ein, die ihre Teambildung fördern oder Schwierigkeiten anders anpacken wollen. Beim Aikido kann ich den Gegner zu Boden bringen, ohne dass ich ihn kaputtmachen muss. Es gibt keine Verlierer, nur Gewinner.
Deshalb sind auch aus den Kursen in Zypern und Zürich Freundschaften entstanden, die heute noch andauern. So haben Israelis und Palästinenser in Jerusalem ein gemeinsames Dojo aufgebaut, ich selbst reise oft in den Nahen Osten, um Kurse zu geben. Im April wird in Jordanien wieder ein grosses Training stattfinden, und im Sommer wiederholen wir das «Training across the border» in Zürich.