Bergführer Ernst Kohler (Bild) hat im Berner Oberland mit einer Gruppe Jugendlicher den Aufstieg zur Gaulihütte im Urbachtal gemacht. Am Abend erzählt ihm der Hüttenwart, dass er noch sieben Tourenskifahrer erwartet habe. Aber leider gebe es immer mehr Leute, die sich zwar anmeldeten, dann aber doch nicht kämen.

24 Stunden später schläft Kohler in seinem Bett in Meiringen, als das Telefon klingelt: Alarm. Otto von Allmen, Chef des regionalen SAC-Bergrettungsdienstes, bietet Kohler auf, weil eine Gruppe junger Tourenskifahrer vermisst wird. Sie hätte am Vorabend in der Gaulihütte eintreffen sollen. «Muss das wirklich sein?», fragt Kohlers Frau, als ihr Mann aus dem Bett springt. Aber eigentlich kennt sie die Antwort. Wenige Minuten später verlässt der Bergretter das Haus.

Auszug aus dem Einsatzprotokoll:
1.30 Uhr. Auf der Bezirkswache Meiringen findet eine erste Besprechung zwischen RC-STV Kohler, WM Sulliger und RC von Allmen statt. Rega-Pilot Rupp erklärt sich am Telefon bereit, nachts zu fliegen.

2.15 Uhr. Die Mitglieder der Rettungsstation Oberhasli sind aufgeboten. Treffpunkt Urbachtal um 3.30 Uhr. Beleuchtungsaggregat wird organisiert. Info an die Rega.

3.30 Uhr. Die mit PW erreichbare Koordinationsstelle im Urbachtal ist errichtet. Heli-Landeplatz beleuchtet. Rega-Helikopter trifft im Urbachtal ein.

Wenn in den Schweizer Bergen jemand gerettet werden muss, stehen ausser im Wallis die Spezialisten des Schweizer Alpen-Clubs im Einsatz. 614 Mal rückten die ausgebildeten Retter im vergangenen Jahr aus. Weil es in vielen Fällen um Leben und Tod geht, müssen die SAC-Spezialisten rasch vor Ort sein. Sie werden deshalb meistens mit einem Rega-Helikopter zum Einsatzort geflogen. Mit an Bord ist stets auch ein Notfallarzt.

Die Leistungen der 3500 Frauen und Männer, die dem SAC-Korps angehören, sind umso bemerkenswerter, als sie für ihre riskante Arbeit kein Geld erhalten. Im Unterschied zum Rega-Team, das für ein grösseres Gebiet zuständig ist, können die Bergretter nur lokal arbeiten – weil sie jeden Felsvorsprung und jede Gletscherspalte kennen müssen. Das bedingt eine riesige Truppe, die ständig einsatzbereit ist – ein Aufwand, der ohne die ehrenamtlichen Helfer kaum zu bezahlen wäre.

3.50 Uhr. Erster Reko-Flug dem Hüttenweg entlang. Ab etwa 1600 Metern werden erste frische Lawinenkegel gesichtet. Auf den Kegeln werden sechs Hundeführer (HF) und 25 Helfer mit Lawinenverschütteten-Suchgerät (LVS) eingesetzt.

6 Uhr. Auf einem Lawinenkegel in der Gaulischlucht können vom Helikopter aus zwei Rucksäcke gesichtet werden. HF, Ärzte und Helfer werden sofort zur Unfallstelle geflogen. Man ist der Ansicht, dass die Verschütteten durch die HF und LVS schnell geortet werden können.

6.10 Uhr. Erste Anzeige durch HF. Ein Mann wird aus einem Meter Tiefe tot geborgen. LVS ist nicht mehr auf seinem Körper.

6.25 Uhr. Zweite Anzeige durch LVS. Ein Mann wird aus einem Meter Tiefe tot geborgen.

6.27 Uhr. Dritte Anzeige durch LVS. Ein Mann wird aus eineinhalb Meter Tiefe tot geborgen. LVS liegt abgerissen zufälligerweise in der Nähe des Körpers.

6.45 Uhr. Vierte Anzeige durch HF und LVS. Ein Mann wird aus zwei Meter Tiefe tot geborgen. LVS auf dem Körper. Die LVS sind alle geortet und ausgegraben. Es fehlen noch drei Opfer, denen die LVS abgerissen wurden.

Vom Bürostuhl in die Nordwand
Ernst Kohler leistet etwa acht Wochen pro Jahr Pikettdienst. Zu Ernstfällen muss er zwischen 15 und 20 Mal ausrücken, hinzu kommen noch zehn obligatorische Weiterbildungstage. «Eigentlich hätte ich für all das ja gar keine Zeit», sinniert Kohler. Der 39-jährige Berner Oberländer arbeitet auf dem Militärflugplatz Meiringen. Er brauche die Dynamik eines Notfalleinsatzes als Ausgleich zum Beruf: «Im Extremfall sitze ich um 22 Uhr noch mit Anzug und Krawatte im Büro, und 20 Minuten später befinde ich mich bereits mit Seil und Steigeisen in der Eigernordwand.»

Kohler rettet zu einem grossen Teil aus der Faszination, das Unmögliche möglich zu machen. «Unsere Einsätze sind eine sehr technische Angelegenheit», sagt er. Das Einzige, was in diesem Moment zähle, sei der klare Verstand: «Als Retter musst du innert Bruchteilen von Sekunden wissen, was eine Handlung auslösen kann, wenn du sie machst – und was passiert, wenn du sie sein lässt.»

8 Uhr. Steigende Temperatur. Die Nachlawinengefahr muss sofort dauernd beurteilt werden. Das mögliche Anrissgebiet wird durch zwei Lawinenspezialisten laufend überprüft.

10 Uhr. Diverse Gegenstände (Ski, Rucksäcke) sind gefunden worden.

13 Uhr. Suche nach den drei noch Vermissten ist erfolglos. Sicherheitsposten meldet markant gestiegene Temperatur. Die Aktion muss aus Sicherheitsgründen unterbrochen werden.

Kohler ist quasi mit den Klettereisen zur Welt gekommen: «Mein Grossvater und mein Onkel waren Bergführer, mein Vater ist es immer noch – und ich habe mein Diplom auch schon seit annähernd 20 Jahren.» Die Familie war trotzdem nicht gerade glücklich, als Kohler vor 15 Jahren dem Alpinen Rettungsdienst beitrat: «Meine Grossmutter wartet noch heute jedes Mal sehnsüchtig darauf, dass der Helikopter wieder beim Spital landet.» Eine Angst, die ihre Gründe hat: Einer ihrer Söhne starb 1975 bei einer Rettungsaktion, als der Helikopter abstürzte.

Kohler selber sagt, nie Angst zu spüren. Dennoch ist er sich des Risikos bewusst: «Beim Retten musst du ständig abwägen zwischen der Pflicht gegenüber dem Bergopfer und der Verantwortung für die eigene Familie. Abwägen zwischen ‹Was müssen wir noch wagen?› und ‹Was dürfen wir noch wagen?›. Denn das Schlimmste, was einem Retter passieren kann, ist sicher, wenn aus einem Unfall ein zweiter gemacht wird.» So wie im letzten Jahr, als zwei Angehörige der Rettungsmannschaft in einer Nachlawine im Wallis starben.

Dritter Einsatztag, 6 Uhr. Wiederbeginn der Aktion im Urbachtal. Konzept: Absuchen des Lawinenkegels durch neue Lawinenhunde ohne Störfaktoren.

7.30 Uhr. Beginn des Shuttles vom Urbachtal auf den Lawinenkegel durch einen Rega- und einen Militär-Helikopter. Im Einsatz sind 120 Mann. Der Lawinenkegel wird sektorenweise grobsondiert.

9.45 Uhr. Fünfte Anzeige durch Grobsondierung. Eine Frau wird aus einem halben Meter tot geborgen.

12.45 Uhr. Aus Sicherheitsgründen muss die Rettungsaktion nochmals unterbrochen werden.

17 Uhr. Die Sucharbeiten werden wieder aufgenommen.

19 Uhr. Sechste Anzeige durch Feinsondierung. Die zweite Frau wird aus zwei Meter Tiefe tot geborgen.

20.45 Uhr. Abbruch für heute. Ein Mann fehlt noch immer.

Wenig Zeit für Trauerarbeit
Bei seiner Arbeit sieht Ernst Kohler Fürchterliches, insbesondere bei Absturzopfern: «Zerfetzte Körper, manchmal mit fehlenden Gliedmassen – diese Bilder hast du noch lange im Kopf.» Und trotzdem hat Kohler nicht das Bedürfnis, das Erlebte mit professioneller Hilfe aufzuarbeiten: «Wenn einer über ein stabiles Nervengerüst verfügt und einen guten familiären Back-ground hat, dann reicht das.»

8 Uhr. Wiederbeginn der Aktion.

12 Uhr. Die Einsatztaktik muss angepasst werden. Das Sondieren bringt im hart gepressten Lawinenschnee nichts mehr. Umgraben mit Kiesschaufeln.

15.15 Uhr. Beim Umgraben werden zwei Knochenstücke gefunden.

15.30 Uhr. Siebte Anzeige durch Umgraben mit Kiesschaufeln. Der letzte Vermisste wird tot geborgen.

Erst jetzt hat Ernst Kohler Zeit für Gefühle. Für seine eigenen und für die der Angehörigen. Ab und zu kommts vor, dass Hinterbliebene bei ihm Trost suchen. «In einem solchen Fall die richtigen Worte zu finden ist nicht immer einfach», sagt Kohler. Vor allem dann nicht, wenn es sich bei den Opfern um junge Menschen handelt, wie im Fall der siebenköpfigen Gruppe in der Gaulischlucht. Für Bergretter Kohler gibt es eigentlich nur einen Trost: «Sie sind an einem Ort gestorben, den sie geliebt haben: in den Bergen.»