Auszeit von der Welt
Jährlich verbringen über 3000 Menschen durchschnittlich rund einen Monat in der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich. Die meisten freiwillig.
Veröffentlicht am 15. März 2004 - 11:09 Uhr
«Sie können Haifisch zu mir sagen.» Fabians Händedruck ist sanft, sein Blick nach innen gerichtet. «Ich habe hier sehr viele Freundschaften geschlossen», sagt er. In der Cafeteria hängt schwerer Rauch. «Was möchten Sie wissen?»
Hinter den Fenstern liegt feuchtes Grün. Es ist ein kühler Wintermorgen. Am 21. August 2003 wurde Fabian R., 24 Jahre alt, in die Station D der psychiatrischen Universitätsklinik «Burghölzli» in Zürich eingewiesen. An Details kann er sich nicht erinnern. Er hatte Kokain konsumiert; im Pyjama war er durch Zürich flaniert. Zuvor hatte ihm sein Arbeitgeber, dann sein Vermieter gekündigt. «Der Arzt sagt, ich sei psychotisch-schizophren.» Fabian spricht leise. «Vielleicht stimmt das ja.»
«Geh deinen Weg! Tanze!» Im Herbst 1996 hörte Fabian das erste Mal Stimmen. Er war damals 17 Jahre alt und allein in seiner Wohnung. Als Erstes drehte er die Musik lauter. «Fabian», sagte die Stimme. Er stellte sich unter die Dusche. Das half nichts. Die Stimme befahl ihm, in den Keller zu gehen. Dort lag er dann während Stunden, voller Angst.
«Tanze!» Jahre später, als Barkeeper, kam er spätnachts von der Arbeit nach Hause. Er tanzte allein in den Morgen, im mannshohen Spiegel, das eigene Bild vor sich. «Tanzen ist mein Leben», sagt er. Fabians Augen leuchten. «Showdancer. Das wäre mein Traum.»
Männer bleiben meist deutlich länger
«Es schreitet die Zeit, es schwindet das Leid, es kehret die Freud», lautet der Sinnspruch unter der Sonnenuhr. Sie prangt am Nordeingang der Klinik. Ein Drittel des weitläufigen Geländes ist Parkanlage; den Rest der Fläche beansprucht die Klinik. Zum Gelände der «Psychi» gehören auch ein Rebberg, Schafweiden, die Gärtnerei und ein Stück Wald. Im Jahr 2002 verbrachten insgesamt 3474 Patienten durchschnittlich 29 Tage im «Burghölzli». Der durchschnittliche Aufenthalt der Männer dauert deutlich länger. Weibliche Patienten sind leicht in der Mehrzahl.
«Wacher, bewusstseinsklarer Zustand mit erhaltener Orientierung in allen Modalitäten», steht in Fabians Aufnahmebericht. «Spricht gut auf Bewegungstherapie an», steht in seiner Krankengeschichte drei Wochen später. Fabian hat kaum Besuche. Ob er sie vermisse? «Ach! Nein.»
Sehnsucht nach dem Saturn
«Niemand kann meine Gedanken lesen», sagt er. «Aber manchmal leuchten die Augen von Hunden, wenn ich sie ansehe. So geben sie mir Tipps, wie ich mich kleiden soll.» Im Stadtpark von Glarus konsumierte er das erste Mal Drogen. Fachleute sind sich einig, dass diese bei gefährdeten Personen den Krankheitsausbruch beschleunigen können. «Kokain hat mein Leben geprägt», sagt Fabian.
Zum Einzelgänger sei er in Zürich geworden. An Partys ging er meist allein. «So blieb ich ungestört, mich trafen keine neidischen Blicke. Tanzte ich mit einer Frau, vergass ich sofort die Schritte.»
Gesprächstherapie, Konzentrationstraining, Bildermalen: Die Tage im «Burghölzli» sind intensiv. «Meine Einstellung zu Koks und Ecstasy hat sich hier total verändert», sagt Fabian. Er ergänzt: «Und heute hab ich dafür auch gar kein Geld.»
Manchmal plagt ihn das Heimweh nach Glarus. Nach der reinen Luft. Nach den Bergen. Längerfristig aber sehnt er sich «nach dem Saturn. Dort werde ich später leben. Meine Seele ist auf der Suche nach dem Weg dorthin. Saturn hat drei Sonnen. Und eine gerechtere Welt.»
«Jede Station hat ihren eigenen Puls», sagt Goran Bencun, Stationsleiter von B1. «Es gibt Momente, da kommt Unruhe auf, und dann ist plötzlich wieder alles still.» Eine Erklärung dafür hat er nicht. «Unser Hauptziel», heisst es im Stationskonzept, «ist eine positive gesundheitliche Entwicklung mit abschliessendem Austritt. Wohnsituation, Arbeitsmöglichkeiten, Sozialkontakte und Nachbehandlung werden bereits in der Klinik geplant.»
Neben dem Badezimmer hängt der Wochenplan. Die haushälterischen Aufgaben werden hier verteilt. Kaffee vorbereiten, Freitag: Frau Eberle. Geschirr abwaschen: Herr Noll. Küchenordnung: Frau U-Lian. Kompost entsorgen: Herr Roderer. In Raum 19 befindet sich die Waschmaschine. Die grosse Klinikwäscherei wird – im Unterschied zu früher – von den Patienten nur selten in Anspruch genommen. Die durchschnittliche Aufenthaltsdauer in der Klinik sinkt seit zehn Jahren kontinuierlich. Langzeitpatienten leben mehrheitlich in Wohnheimen.
Wenige Posters hängen an den Wänden. Da und dort steht ein Gummibaum. «Was mir fehlt?» Roswitha C., 43 Jahre alt, spricht langsam. Sie sitzt auf einem Sims im jetzt leeren Flur der Station B1. Mit der linken Hand streicht sie über ihre rechte. «Das ist die falsche Frage», sagt sie: «Ich habe von vielem zu viel. Gefühle, die nicht sein müssten. Verwirrung. Wut. Angst. Scham.» Nach einer Pause sagt sie: «Vermutlich könnte ich jemanden umbringen.»
Ein älterer Herr, den Blick gesenkt, spaziert versunken gestikulierend vorbei. Schon mehrere Dutzend Mal versuchte Roswitha, sich das Leben zu nehmen. Mit elf Jahren das erste Mal. «Adoleszenzstörung, posttraumatische Belastungsstörung und Borderline heissen meine diagnostischen Etiketten. Die sind mir wirklich egal. Ich kenne meine Probleme.»
«Der absolute Totstellreflex»
Bis heute hielt sich Roswitha über 25-mal in verschiedenen Kliniken auf – die Internierung dauerte jeweils zwischen zwei Tagen und zwei Jahren.
Eine Depression ist für Roswitha «der absolute Totstellreflex: Über Jahre vergoss ich keine einzige Träne». Ja, sie sei ein auffallendes Kind gewesen, sagt sie, lange Zeit sei sie öfter weinend vom Mittagstisch weggerannt. «Und einmal habe ich mir dann gesagt: ‹So, jetzt zeige ich niemandem mehr, wies um mich steht.›»
Roswitha nimmt seit 26 Jahren Medikamente: zurzeit zwei verschiedene Antidepressiva, einen Mood-Stabilizer, zwei Neuroleptika. Sechs Tabletten morgens, sechs abends, «ein Schublädli pro Tag». Die längste pharmafreie Zeit dauerte vier Monate, während einer kurzen Ehe. Hinsichtlich einer Schwangerschaft hatte sie «alles abgesetzt, aber das löste eine Sturmflut böser Erinnerungen aus. Es gab zu viele Menschen, die mir als Kind zu nahe kamen. Mehr will ich dazu nicht sagen.»
Am 10. Dezember 2003 wurde sie nach einem Suizidversuch in die psychiatrische Klinik eingewiesen. Jedes Gefühl, und sei es grosser Schmerz, ist eine Befreiung, sagt Roswitha, den eigenen Körper erlebe sie seit langem als fremd. «Die inneren Spannungen sind manchmal so gross, dass ich sie nur über Verletzungen lösen kann: Siedendes Wasser oder ein scharfes Messer helfen mir dabei.»
Abendrapport auf B1. Ein Pfleger hat Marmorkuchen mitgebracht. Der Stationsarzt erscheint mit dem Assistenten. «Herr Kunz ist müde von seinen Medis», referiert die Schwester: «Das mit der Hochzeit hat nicht geklappt.» – «Reduktion von 800 auf 600 Milligramm Seroquel», rät der Stationsarzt: «Hauptdosis nachts, morgens weniger, ja?» Frau Heyerle habe mehrmals ihre Zimmernachbarin geweckt und sie waschen wollen. «Herr Wild geht spazieren, braucht Unterstützung beim Schuheanziehen.» – «Herr Wild isst fast nichts», ergänzt der Pfleger.
Deutliche Zunahme der Depressionen
Die psychiatrischen Hospitalisationen haben sich im Kanton Zürich in den letzten zehn Jahren verdoppelt. Depressionen und Angststörungen haben deutlich zugenommen. Drei von vier Patienten kommen freiwillig in die Klinik. «Die soziale Stabilität in der Schweiz bröckelt», sagt Daniel Hell, Direktor am «Burghölzli». «Für ein Land, das 50 Jahre Wohlstand und Sicherheit kannte, reicht die Verunsicherung tief.»
Der Zeitgeist, der Flexibilität fordert, dränge einen zur Depression neigenden Menschen schneller an seine Grenze. «Ohne Medikamente ist die heutige Psychiatrie kaum mehr denkbar», sagt Hell. «In den letzten Jahren sind hier deutliche Fortschritte gemacht worden.» Er betont, dass die chemische Ebene die zwischenmenschliche nie ersetzen könne: «Eine Psychiatrie, die diesen Namen verdient, muss sich genauso mit dem inneren Erleben des Patienten befassen und nicht nur mit den Vorgängen im Gehirn. Die Beziehung zwischen Arzt und Therapeut ist elementar.»
Zu den Therapieangeboten des Hauses gehören Ergotherapie, Musiktherapie, Arbeitstherapie, Physiotherapie, Tanz- und Bewegungstherapie.
«Allein nicht mehr überlebensfähig»
Am Freitag, dem 24. Mai 2002, kurz nach Mittag, machte sich Reto F. (Name geändert) daran, den Arbeitsspeicher seines Computers aufzurüsten. Fünf Stunden zuvor, nach der Dusche, hatte er starr vor seinem Kleiderschrank gestanden und sich minutenlang gefragt, was er heute anziehen solle. Reto ist Gründer und Leiter einer erfolgreichen Firma. Sein Verdienst ist überdurchschnittlich, seine Beziehung intakt, vor sieben Jahren war er Vater geworden. Eine gewisse «innere Ermüdung» hatte sich seit längerem breit gemacht, «alte Fragen tauchten plötzlich wieder auf».
Um 16.30 Uhr rief Reto seine Frau an. «Ich brauche Hilfe», sagte er zu ihr. «Ich habe Angst, dass ich mir etwas antun könnte.» Sie reagierte schnell. Noch am gleichen Abend lag Reto in der geschlossenen Abteilung des «Burghölzli». Während der folgenden vier Tage verliess er das Bett nur für die Mahlzeiten.
Wie erklärt er sich den Zusammenbruch? «Ich hatte plötzlich das Gefühl, allein nicht mehr überlebensfähig zu sein. Mir schoss dauernd durch den Kopf, was ich alles verlernt hatte. Dass die Zeit durch mich hindurchfliesst, mich auswäscht, mir entgleitet. Angst. Angst. Angst.»
Von Schuldgefühlen geplagt
Temesta, das Beruhigungsmittel, «legte einen angenehmen Schleier zwischen mich und die Welt». Reto spazierte viel. Er malte Wanderkarten aus. Er bemalte das Briefpapier, das ihm sein Sohn geschickt hatte, mit Grossbuchstaben. «Ich denke, also bin ich nicht», schrieb er darauf. Oder: «Ich war von Anfang an allein.»
«Beanspruchst du keinen eigenen Platz?», fragte ihn die Leiterin einmal während der Gruppentherapie. «Diese Frage hat mich umgehauen», sagt Reto. Sein Verzicht, so musste er erkennen, reichte tief.
Vor rund 20 Jahren hatte sich seine damalige Freundin von einem Aussichtsturm in die Tiefe gestürzt. Dass sein Grossvater vor 40 Jahren von einer Brücke gesprungen war, erschien ihm plötzlich in einem neuen Licht. «Zieht es mich nun auch dorthin? Bin ich schuld? Diese Fragen hielten mein Leben gefangen.»
Die beiden Mammutbäume, die den Haupteingang der Klinik säumen, wurden während der Bauzeit des «Burghölzli» gepflanzt. Sie sind rund 140 Jahre alt. «In unseren Breitengraden erreichen sie eine Höhe von maximal 40 Metern», sagt Kurt Zurbrügg, Chefgärtner der Klinik. Jedem der elf Gärtner sind zwei bis drei Patientinnen zugeteilt: Die Männer arbeiten lieber im Rebberg, die Frauen in der Gärtnerei. Ein Teil hilft in der Parkpflege mit.
«Bei einem Beinbruch erhält ein Patient eine Flasche Wein und Besserungswünsche auf den Gips gekritzelt», sagt Kurt Zurbrügg. Er arbeitet seit 26 Jahren im «Burghölzli». «Der Aufenthalt hier ist oft mit Scham verbunden, vieles wird geheim gehalten.» Die Anstaltsmauer, die das Gelände umschloss, wurde 1968 abgebrochen. Die Idee der Wiedereingliederung hielt 1970 Einzug in die ärztlichen Bemühungen. Zurbrügg leitet, im Sinne der Öffnung, Führungen durch das Parkgelände.
Drei Monate blieb Reto F. im «Burghölzli». «Ich habe hier viel gelernt.» Der Aufenthalt löste einige Probleme – und schuf neue. «Ich komme nicht darum herum, mich selbst ein bisschen zu lieben», zieht er Bilanz. An die Zeit in der Klinik denkt er mit Dankbarkeit zurück.