Würde Ferida Lulic-Tahirovic in ihrer spärlichen Freizeit keine Bilder malen, wäre sie jetzt vielleicht Schweizerin. Ohne ihr Hobby hätte die gebürtige Bosnierin Zeit für eine Vereinsmitgliedschaft. Doch sie kümmert sich vor und nach der Schichtarbeit in einer Stickerei lieber um die fünfjährige Tochter Nadia – und malt kräftige, farbenfrohe Bilder.

Dass sie in keinem der 44 Vereine in ihrer Wohngemeinde Rheineck Mitglied ist, wurde ihr Ende März an der Einwohnerversammlung als «mangelnde Integration» ausgelegt. Wie ihr erging es ihrem Mann Edin und ihrer Tochter Nadia. Und Mirsada Begic mit ihren Kindern Amir und Amar. Und Musah Bislimi. Und Nihada Catic mit ihrer Tochter Lejla. Und Predrag Dosic. Und Anela Duric. Und Bekim Ibrahimi. Und Xhemail Maliqi. Und Lindita Merxha. Und Murat sowie Mulka Kos mit ihren Söhnen Haris, Rejhan und Elvir. Und Adem sowie Jasmina Kost mit ihren Kindern Samir und Nermina. Und Bekim Selimi mit seinen Kindern Dafina, Blorian und Altina.

Das weckt Erinnerungen: Die Luzerner Vorortsgemeinde Emmen lehnte vor genau fünf Jahren alle Einbürgerungsgesuche von Personen aus Ex-Jugoslawien ab; jene von italienischstämmigen Bewerbern wurden angenommen. Über Nacht wurde «Emmen» zum Symbol für eine ausländerfeindliche Schweiz. In der Folge beurteilte das Bundesgericht die Nichteinbürgerung als diskriminierend und damit verfassungswidrig. Ausserdem erklärte es Urnenabstimmungen über Einbürgerungsgesuche für unzulässig, weil dabei keine Begründung für die Nichteinbürgerung gegeben werden könne.

Eine konzertierte Aktion?
Von Emmen haben aber auch jene gelernt, die sich vor zu vielen Eingebürgerten fürchten. Auch in Rheineck: In der mit 267 Stimmberechtigten voll besetzten evangelischen Kirche – normalerweise kommen rund 100 Interessierte an die Gemeindeversammlungen – stellte zu jedem der elf Gesuche von muslimischen Familien jemand den Antrag auf Nichteinbürgerung. Jedes Mal war es ein anderer Bürger, jedes Mal mit dem gleichen Satz. Begründung: mangelnde Integration, fehlende Beteiligung am Städtlileben – einige der Antragsteller lasen ihr Sätzchen von einem Blatt ab. Eingebürgert wurden schliesslich nur eine römisch-katholische Türkin und ein römisch-katholischer Kroate.

War es also eine orchestrierte Aktion, bei der es in erster Linie um die Religion ging? «Ja, im Vorfeld der Versammlung habe ich mit ein paar Bürgerinnen und Bürgern darüber diskutiert», bestätigt Walter Hauser, einer der Antragsteller. «Ich glaube, dass sich Muslime nicht wirklich einem anderen als dem islamischen Rechtssystem unterordnen können – ausser sie sagen sich wirklich los. Aber sie wollen ja beispielsweise den Pass ihrer alten Heimat nicht abgeben.» Ausserdem habe er sich etwa daran gestört, dass sich die Einbürgerungswilligen an einer Orientierungsversammlung untereinander in ihrer Muttersprache unterhielten, so dass die Schweizer nichts verstanden. «Das erachte ich nicht als Integration.» Der lokale Bauunternehmer Markus Keller, den mehrere Versammlungsteilnehmer als «Drahtzieher» der Aktion vermuten, bestreitet diesen Vorwurf und sagt lapidar: «Es ist reiner Zufall, dass alle den gleichen Satz verwendeten.» Als dessen früherer Arbeitgeber kenne er einen der Gesuchsteller persönlich und wisse, dass dieser nicht genügend mit den hiesigen Verhältnissen vertraut sei.

Mehrere Einheimische verängstigte es, dass die Gesuchsteller an der Versammlung anwesend sein durften, wenn auch nur auf der Kirchenempore. «Die sehen dann ja, wer gegen sie ist.» Denn abgestimmt wurde offen, per Handmehr. Von der Angst, dass bald ein paar Häuser brennen könnten, war die Rede.

«Einer ist Euer Meister: Christus. Ihr aber seid alle Brüder», steht in der spätgotisch-barocken Kirche an der Wand. Auf muslimische Brüder hatten die versammelten Rheinecker keine Lust. Die Stimmung schaukelte sich von Votum zu Votum hoch, es wurde geklatscht und gejohlt, «als Nächstes wollen sie hier noch eine Moschee bauen», war zu hören. Eine genauere Begründung, was denn unter mangelnder Integration zu verstehen sei, gab es auch auf Nachfrage nicht. «Das ist nicht nötig, ein Jurist hat unseren Antrag geprüft», sagte ein Antragsteller.

«Wir sind keine Taliban»
Regina Kiener, Staatsrechtsprofessorin an der Universität Bern, ist da skeptisch. Den konkreten Fall kennt sie zwar nicht, doch hält sie fest: «Fehlende Integration ist zunächst einfach eine pauschale Behauptung, die konkreter begründet werden und nachvollziehbar sein müsste, um verfassungsrechtlich Bestand zu haben.» Dies gelte umso mehr, wenn gleichzeitig eine andere Gruppe eingebürgert werde, die aus dem gleichen Kulturkreis oder dem gleichen Herkunftsland stamme, aber einer anderen Religion angehöre. In solchen Fällen müsse die Ablehnung besonders sorgfältig begründet werden. Fazit: Eine Beschwerde der abgewiesenen Fast-Rheinecker – und dazu sind diese fest entschlossen – hätte durchaus Chancen.

«Wir sind keine Taliban und keine Fundamentalisten», sagte Edin Lulic an der Einbürgerungsversammlung. Keine der Musliminnen trägt ein Kopftuch. Er selbst, im katholischen Slowenien aufgewachsen, war zeit seines Lebens noch nie in einer Moschee. «Ich kann doch nichts dafür, dass meine Eltern Muslime waren.» Zu Hause bei Familie Lulic sieht es aus wie in jedem gutbürgerlichen Schweizer Haushalt; die Polstergruppe könnte bei Möbel-Pfister gekauft sein, auf dem Fernseher stehen sauber aufgereiht und gerahmt die Familienfotos. Edin Lulic, 28-jährig, seit acht Jahren in der Schweiz, taufte seine hier geborene Tochter bewusst Nadia und nicht etwa Fatima. «Und ich erziehe sie dazu, jeden auf der Strasse zu grüssen», erzählt er stolz. Von seinen Pantoffeln lächelt eine Schweizer Kuh.

An der 1.-August-Feier sehe man kaum je Einbürgerungswillige, wurde moniert. Allerdings lassen sich da auch die 3300 Rheinecker nicht allzu zahlreich blicken: Um die 200 waren es letztes Jahr – obwohl die Feier zusammen mit dem österreichischen Nachbarort Gaissau veranstaltet wurde.

Im zwischen Rorschach und St. Margrethen gelegenen Städtchen beträgt der Ausländeranteil rund 30 Prozent. Wie viele muslimischen Glaubens sind, muss der Gemeindepräsident bei der Einwohnerkontrolle erfragen. Die Statistik erfasst neben Katholiken, Reformierten und Juden nur «andere». «Andere» gibts rund 580. Niemand hier kann sich an ausländerfeindliche oder gar rassistische Taten in der jüngeren Vergangenheit erinnern. Die SVP hat nicht einmal eine örtliche Sektion.

Das Städtchen lebte früher vom Handel und der Textilindustrie, doch der Reichtum ist Vergangenheit. Das Bahnhofsgebäude etwa, wo der König von Rumänien einst im eigens eingerichteten Erste-Klasse-Wartsaal abstieg, zerfällt. Die kleine Altstadt wirkt an diesem verregneten Mittwochnachmittag ebenso herausgeputzt wie ausgestorben. Nicht gegenüber allem Ausländischen ist man verschlossen. Das Lokal «Bar Restaurant Taube» wirbt mit «Erotic pur: American table dance».

«Jugo-Spielplatz» nennt der Volksmund die kleine Grünfläche neben dem herrschaftlichen Löwenhof, einer ehemaligen Textilfabrikantenvilla. «Die bürgerlichen Normvorstellungen sind deutlich spürbar», sagt Ruth Erat, Präsidentin der lokalen SP-Sektion und selbst Anwohnerin. «Viele Einheimische finden, Kinder sollten nur im eigenen Garten spielen oder jedenfalls nicht im Rudel auf der Strasse.»

«Rheineck ist unsere Heimat»
Gemeindepräsident Hans Pfäffli residiert im historischen Rathaus; sein Büro liegt neben den ehemaligen Gefängniszellen. Der Freisinnige windet sich. Persönlich bedaure er die ablehnenden Entscheide, schliesslich habe er zusammen mit dem zuständigen Gremium alle Gesuche geprüft, und alle erfüllten die gesetzlichen Vorgaben für eine Einbürgerung, etwa punkto Sprachkenntnisse. Aber er sagt auch: «Der demokratische Entscheid ist zu respektieren» und stellt in Aussicht, bei künftigen Gesuchen der Integration, zum Beispiel ins Vereinsleben, «mehr Gewicht beizumessen». Pfäffli selber, vor acht Jahren aus dem Nachbarort zugezogen, turnt in der Männerriege und spielt im Fussballklub.

Pech für Predrag Dosic: Er wurde 1985 im nahen Heiden AR geboren und spielt liebend gern Handball – bloss gibts dafür in Rheineck keinen Verein. Also übt er seinen Sport woanders aus. Sein Einbürgerungsgesuch wurde zum dritten Mal abgelehnt. Als einziger der abgewiesenen Gesuchsteller gehört er der griechisch-orthodoxen Kirche an.

«Für Vereine haben wir keine Zeit», sagen Murat und Mulka Kos. «Wir arbeiten beide 100 Prozent und ziehen unsere drei Söhne gross. Dass wir so viel arbeiten, nützt doch auch der Gemeinde; schliesslich zahlen wir so mehr Steuern. Rheineck ist unsere Heimat geworden, auch deshalb haben wir unsere Wohnung gekauft.» Die drei Söhne sprechen perfekt Schweizerdeutsch. «Der 21. März als Tag der Einbürgerung wäre für mich der schönste Tag meines Lebens geworden», seufzt Mulka Kos und unterdrückt die Tränen. Die 50-jährige Serbin lebt seit 1981 in der Schweiz und arbeitet seit 1983 als Drahteinzieherin in der gleichen Firma.

Sicher ist, dass die Rheineckerinnen und Rheinecker schon bald wieder mit dem Thema konfrontiert werden: SP-Präsidentin Ruth Erat, die auch als inoffizielle Kulturchefin fungiert, plant eine Ausstellung mit den Bildern von Ferida Lulic – und zwar im Rathaus. Der Gemeindepräsident weiss noch nichts davon. Ein erster Schritt zur verlangten Integration – oder Anlass zu neuem Unmut?