Die Szene bildet sich mal am Bahnhof, mal vor dem Einkaufszentrum. Eine Gruppe Jugendlicher hängt herum: laut schwatzend, Zigaretten im Mund und Goldketteli um den Hals. Oft herrscht hier eine gereizt-aggressive Stimmung. Gleichaltrige werden angerempelt: «Hey, Mann, du Wichser, was luegsch mi so aa? Wottsch eis i d Eier?» Vorbeigehende junge Frauen werden angemacht. Die 14- bis 24-Jährigen sind zu einem grossen Teil ausländischer Nationalität: Schulabgänger ohne Stelle, Gelegenheitsbüezer – «Verlierertypen».

Ein Donnerstag, nach 16 Uhr: Quietschend fährt ein Streifenwagen der Polizei vor. Markus Vetsch, Chef der Gemeindepolizei Wetzikon, steigt aus und geht zielstrebig auf den gross gewachsenen Burim A. (Bild) zu. Wo er gestern Abend gewesen sei, herrscht Vetsch den 15-Jährigen an. Der Jugendliche weicht aus. Ein kurzer Wortwechsel, dann stösst der Beamte den Jungen ins Polizeiauto und fordert seinen Kollegen am Steuer auf loszufahren.

Die rund zehnminütige Fahrt geht vom Bahnhof Kempten ZH in Richtung Bäretswil. Beim Wasserreservoir im Kemptner Wald lässt der Polizeichef das Fahrzeug anhalten. Die drei Personen steigen aus. Erneut fragt der Kommandant Burim A., wo er am Vorabend gewesen sei. «Zu Hause», erklärt dieser und korrigiert auf Nachfrage, er habe die Pfäffiker Chilbi besucht. Polizeichef Vetsch hat genug – er hat sich nicht mehr im Griff.

«Darauf schlug der Angeschuldigte mit seinem rechten Knie dem Geschädigten heftig zwischen die Beine, so dass dieser erhebliche Schmerzen erlitt», steht im späteren Protokoll der Untersuchungsbehörde. Dann habe der Polizeichef den Jugendlichen bedroht, «ihn mit dem Messer in Scheiben zu schneiden (‹rädle›), wenn er weiter lüge». Danach schickte der Polizist Burim A. nach Hause – auf einen zwanzigminütigen Fussmarsch. Vetsch setzte sich mit seinem Untergebenen ins Polizeiauto und fuhr auf den Posten zurück.

Schockierter Gemeinderat
Die halbstündige Einschüchterungsaktion endete mit einem Strafbefehl für den Polizeichef von Wetzikon: drei Monate Gefängnis bedingt und die Übernahme der Gerichtskosten. Er wurde «der Freiheitsberaubung, des Amtsmissbrauchs, der Körperverletzung und der Drohung» schuldig gesprochen. Vetsch ist geständig und akzeptiert die Strafe. Sein Mitfahrer kassierte einen Verweis.

«Wir waren alle schockiert», erklärt der Wetziker Gemeindeschreiber Peter Imhof. «Natürlich hören wir ab und zu Beschwerden über die Polizei», sagt Gemeindepräsident Max Homberger; dies sei aber der erste Fall, der zu einer Anzeige geführt habe. Der Gemeinderat eröffnete ein Disziplinarverfahren, das vor kurzem abgeschlossen wurde. Vetsch wurde ins Provisorium versetzt – gemäss Gemeindeschreiber die «schärfste Massnahme» neben der Entlassung. Ausserdem muss er sich einer psychologischen Betreuung unterziehen.

«Es ist ein krasser Fall», sagt auch Thomas Leins von der Bezirksanwaltschaft Zürich, die den Vorfall untersucht hat. Bis heute haben die Behörden von Wetzikon Stillschweigen bewahrt. Weil es «nur» um einen Einzelfall geht? Oder aus Angst, «Öl ins Feuer zu giessen», wie Imhof sagt? Über die Hintergründe der Tat machen sich die Verantwortlichen nun Sorgen.

Gemeindeschreiber Imhof, der direkte Vorgesetzte von Vetsch, spricht vom «ausgeprägten Gerechtigkeitsempfinden» seines Untergebenen. Immer wieder müsse die Polizei Jugendliche wegen kleiner Delikte aufgreifen und der Jugendanwaltschaft zuführen. Diese lasse sie nach einer Ermahnung oft rasch wieder «springen». «Unsere Polizisten werden von diesen Jugendlichen häufig ausgelacht.» Vetsch habe «aus der Ohnmacht heraus und im Affekt» gehandelt. Das sei verständlich, aber nicht zu entschuldigen.

Vetsch selbst bereut im Nachhinein sein massives Ausrasten: «Mir brannten die Sicherungen durch, weil Burim immer alles leugnet, obschon er ja kein Engel ist.» Er habe es einfach satt gehabt, sich ständig Klagen der von Burim geschädigten Jugendlichen anzuhören. «Und ich konnte nicht mehr länger den Vorwurf der polizeilichen Untätigkeit stehen lassen.» Mit Bestimmtheit, so Polizeichef Vetsch, würde er heute anders handeln: «Nach 27 Jahren Polizeidienst hätte ich mir meine weitere Zukunft lieber anders gestaltet.»

Burim A. ist kein unbeschriebenes Blatt. Bei der Gemeinde- und der Kantonspolizei sowie beim Bezirksgericht Hinwil ist er seit zwei Jahren aktenkundig wegen Raubüberfall auf andere Jugendliche, Diebstahl, Töff- und Autofahren ohne Ausweis. Der erwachsen wirkende heute 16-jährige Bursche räumt gegenüber dem Beobachter ein, dass sein Verhalten «schon nicht so gut» sei. Er sei momentan ohne Arbeit und lebe bei seiner Familie, die vor acht Jahren aus dem Kosovo in die Schweiz kam und hier eine Niederlassungsbewilligung besitzt. Zum Vorfall meint Burim: «Klar, der Polizist muss seinen Job machen. Aber er darf mich nicht schlagen.» Auf die Frage, ob er denn die Polizei mitunter provoziere, murmelt er nur: «Das kann schon sein…»

Drohung nach Handtaschenraub
Burim A. ist kein Einzelfall. Gemeinderätin Rosmarie Frey, Chefin des Sozialressorts in Wetzikon, macht die zunehmende Jugendgewalt zu schaffen: «Viele Schweizer Jugendliche beklagen sich, dass sie erpresst, bedroht oder bestohlen werden. Sie getrauen sich nicht mehr, eine Anzeige zu machen. Das beunruhigt mich.»

Üble Erfahrungen machte die 57-jährige Anita U. Die leicht behinderte Frau wurde letzten Sommer Opfer eines Handtaschenraubs in Wetzikon. Nachdem sie den jüngeren Bruder von Burim A. als vermutlichen Täter angezeigt hatte, drohte Burim dem Freund des Opfers massiv: «Wenn sich herausstellt, dass mein Bruder und ich nicht die Täter gewesen sein können, wirst entweder du oder ich nicht mehr in Wetzikon sein.»

Auf den Einwand des Beobachters, diese Reaktion sei nicht zulässig und stelle eine weitere Drehung an der Gewaltspirale dar, weiss Burim A. nichts zu entgegnen. Dafür hat er nun ein Strafverfahren wegen Drohung am Hals.