Ein stattlicher Bau, das Haus Nummer 75 an der Monbijoustrasse mitten in der Stadt Bern. Doch das Gebäude ist viel weniger trutzig, als es aussieht. Schon rumpelnde Trams und brummende Camions lassen die Mauern erzittern. «Am schlimmsten sind Dieselfahrzeuge», sagt ein Mann in einer oberen Etage. «Sie erzeugen extrem tiefe Schwingungen, die mein ganzes Zimmer vibrieren lassen.» Und das stört die Nachtruhe.

Auch in einem unteren Stockwerk erzählt ein Bewohner von den «Vibrationen, die sich vom Boden über die Füsse auf den Körper ausbreiten». Als «störend» empfindet die junge Frau in einer anderen Wohnung die Erschütterungen. Zum Glück sei sie tags an der Arbeit und nachts im tiefen Schlaf. «Aber mit einer Familie müsste ich mir einen Umzug überlegen», sagt sie.

Ein Haus wie Tausende in diesem Land. Und doch typisch. Denn eine steigende Zahl von Menschen ist dauernd Erschütterungen ausgeliefert – in ihrer Wohnung oder am Arbeitsplatz. «Immer mehr Mobilität drängt sich in immer dichter besiedeltes Gebiet», sagt Urs Jörg, Lärmschutzexperte im Bundesamt für Umwelt, Wald und Landschaft (Buwal). Nicht eben präventiv wirkt die moderne Architektur. Jörg: «Die leichte und schwingende Bauweise unserer Zeit verstärkt das Problem.»

Die möglichen Quellen von Erschütterungen sind so vielfältig wie die Technik: Strassen, Bahnen, Baustellen, Heizungen, Klimageräte. Die Schwingungen können in Wohnhäusern die Decken und Wände zum Tönen bringen – wie das Holz einer Geige. Auch muss die Vibration mit zunehmen-der Distanz nicht abnehmen. So kann die Schwingstärke zwischen einer Quelle auf der Strasse und einem Messpunkt im Haus um das Drei- bis Achtfache zunehmen. «Es gibt auch Situationen, wo eine Verstärkung um mehr als das Dreissigfache gemessen wurde», weiss Ingenieur und Vibrationsexperte Gérard Rutishauser.

Vibrationsursache oft unbekannt
Das Thema weckt Emotionen. Enorm war das Echo, als der Beobachter über eine geplagte Arztfamilie berichtete (Nr. 23/99). Leichte Vibrationen und diffuse Geräusche im Wohnhaus machten die Familie krank – als Ursache wurde die Heizung im neuen Nachbarhaus vermutet. Dem Arzt zitterte beim Nähen von Wunden die Hand, seine Frau klagte über Schwindel und Brechreiz, der Sohn litt unter Kribbeln in den Beinen und Muskelverspannungen.

«Ihr Problem ist auch unser Problem», liessen Samuel und Margrit Kägi aus Winterthur die Arztfamilie wissen. Vor zwei Jahren hörten sie plötzlich in ihrer Wohnung «diesen aggressiven, einfahrenden, stressigen Ton – 24 Stunden am Tag». Auch sie vermuten eine neue Heizung als Quelle. Der Ton sei «wie gespeichert in meinem Hirn», sagt Margrit Kägi. «Im Wald, in der Kirche, bei Freunden, überallhin begleitet er mich.»

Beinahe sein Haus verkauft hätte der Churer Willi Münger. Das Brummen im Haus war so stark, «dass wir wenn irgend möglich nur noch draussen waren». Ursache der Schwingungen: unbekannt. Von Fachleuten fühlte sich die Familie «belächelt und nicht ernst genommen». Klar schien nur, dass das Haus voll elektrischer Störungen war. «Eines Tages hatten wir die Idee, Heizung und Heizkörper zu erden», sagt Olivia Münger. Zudem wurden die Eisen in der Betondecke freigespitzt und ebenfalls geerdet. Jetzt ist es der Familie «so wohl, dass wir am liebsten gar nicht mehr nach draussen gehen möchten».

Eine andere Lösung fand der Appenzeller Sepp Reichmuth. «Monotone Geräusche und das Nervensystem strapazierende, feine Erschütterungen» störten lange Zeit seinen Schlaf. Sie stammen vermutlich «von drei starken Motoren im Umkreis von 40 bis 80 Metern»: die Ventilation in der Gastwirtschaft, die Kühlanlage im Lebensmittelladen und die Kältemaschine der Metzgerei. Dank autogenem Training kam Reichmuth wieder zur Ruhe. «Damit ersparte ich mir Ärger und einen Wegzug», sagt er. Denn eine rechtliche Handhabe gab es nicht: «Alle drei Anlagen entsprechen den Lärmschutzvorschriften.»

Genau hier liegt das Problem. Den Vibrationen ist juristisch kaum beizukommen. Das soll anders werden. Eine vom Buwal eingesetzte Fachgruppe arbeitet an einer «Richtlinie zum Schutz des Menschen vor Erschütterungen». Schliesslich heisst es im 1983 verabschiedeten Bundesgesetz über den Umweltschutz: «Luftverunreinigungen, Lärm, Erschütterungen und Strahlen werden durch Massnahmen an der Quelle begrenzt.» Und: «Im Sinne der Vorsorge sind Einwirkungen, die schädlich oder lästig werden könnten, frühzeitig zu begrenzen.» Daraus soll jetzt eine verbindliche Verordnung keimen. Für nächstes Jahr kündigt Buwal-Experte Urs Jörg «einen ersten Entwurf» an.

Jeder reagiert anders
Die Aufgabe ist nicht einfach. «Lärm empfängt man nur übers Ohr», sagt Jörg. «Doch eine Erschütterung spüren die Betroffenen am ganzen Körper.» Kommt hinzu, dass die Menschen ungleich empfindlich sind. Die einen lassen sich nicht aus der Ruhe bringen; andere reagieren mit Schlaflosigkeit, Seekrankheit, erhöhtem Puls, Magenbeschwerden oder Knochen- und Gelenkkrankheiten. Und weil das Thema bisher keines war, spricht Jörg von «30 Jahren Rückstand auf das verwandte Problem des Lärms».

Auf die Experten wartet deshalb viel Grundlagenarbeit. So müssen ein einheitliches Messverfahren definiert oder mögliche Grenzwerte diskutiert werden. Heikler Punkt dabei: die finanziellen Folgen bei verschiedenen Grenzwertszenarien.

In einer Schnellübung lancierte das Buwal vor einem Jahr wenigstens eine Weisung für den Bau von Eisenbahnen. Die Neat- und Bahn-2000-Schienen werden bereits mit weichen Matten unterlegt, die die Schwingungen isolieren und dämpfen.

Ein Grenzwert allein verhindert aber noch keine Belästigung. Das zeigen zehn Jahre Erfahrung mit der Lärmschutzverordnung. In der Fachwelt ist ohnehin klar: «Priorität haben neue Bauten und Anlagen», sagt Ingenieur Gérard Rutishauser. So können Strassen, Schienen oder Maschinen auf Gummi, Kork oder Mineralwolle gelegt werden. In Basel wurden Gebäude, die von der Autobahn unterfahren werden, auf riesige Federn gestellt.

Sanierungen kosten viel Geld
Bei der Sanierung bestehender Probleme dagegen rechnet Rutishauser «mit langen Übergangsfristen». Denn diese Arbeit geht schnell ins Geld. Allein die Suche nach der Ursache einer Vibration kann aufwändig und teuer sein. «Es gibt wenige Leute, die die Materie kennen und bei Erschütterungen die richtigen Schlüsse ziehen», sagt der Basler Ingenieur Karl Trefzer. «Vor allem in städtischen Gebieten ist es häufig sehr schwierig, die Quelle einer Erschütterung zu finden.»

Ist die Ursache gefunden, muss auf dem Weg zum Empfänger eine Schwingungsbremse eingebaut werden – am besten an der Quelle. Das geht nicht immer. Denkbare Eingriffe sind deshalb ein mit Dämm-material gefüllter Bodenschlitz oder das Verstärken der schwingenden Wände und Decken. «Die Massnahmen können sehr teuer sein», sagt Gérard Rutishauser. Er spricht von «mehreren zehntausend bis mehreren Millionen Franken».

Oft würde es jedoch genügen, wenn der Nachbar einen Blick auf seine Heizung zulassen und einer Isolation zustimmen würde. So vermutet auch ein Ehepaar aus dem Kanton Zürich die Ursache der quälenden Erschütterungen im Keller des Nachbarn. Doch dieser zeigt sich wenig kooperativ. «Meine Frau schläft am Boden auf einem Bettrost mit Antivibrationsmatten», erzählt der Hausbesitzer. In seiner Verzweiflung hat das Paar bereits ein neues Haus gekauft, ist aber nach kurzer Zeit zurückgekehrt. Denn am neuen Ort war das Leben noch unerträglicher: Der Nachbar betrieb eine Güggelzucht.