Der Korporal der Regionalpolizei wendet seinen Blick ab vom Fenster, es sieht nicht gut aus. Er steigt über ein Fenster ein in das von innen abgeschlossene Haus und geht den Flur entlang, hin zur Blutlache, in der Eva Knupp* liegt. Es ist kurz vor drei Uhr an einem Nachmittag im August 2010, Eva Knupp öffnet die Augen, am Kopf klafft eine Wunde. Später, als die Kriminalpolizei die Spuren gesichert hat und die 50-jährige Hausfrau sich im Spital befindet, schreibt der Korporal in seinem Bericht: «Knupp Eva ist mir von diversen Fällen häuslicher Gewalt bekannt, in denen ich ausrücken musste.»

Drei Jahre später sitzt in der Stube seiner Wohnung irgendwo im Kanton Aargau Hugo Knupp*, 57, und sagt mit einem Lächeln, dem die Verzweiflung von damals noch immer anzusehen ist: «Und schon war ich es wieder gewesen. Wer sonst? Ich, der Schläger. Der brutale Ehemann, der seine Frau die Treppe hinunterstösst.»

Aber Hugo Knupp ist es nicht gewesen. Zwei Monate nach dem Vorfall kommt die Polizei zum Schluss, Eva Knupp sei «ohne Dritteinwirkung» die Treppe hinabgestürzt; das Verfahren wird eingestellt. Knupp ist es auch all die anderen Male nicht gewesen – nichts war dran an all den Anschuldigungen seiner Frau, die zusammen mit Polizeiakten, Einvernahmeprotokollen und Strafbefehlen einen Ordner füllen und ihn einmal gar in Untersuchungshaft brachten.

Er wurde von Ämtern vorverurteilt

Im Oktober 2011 sprach das Bezirksgericht Bremgarten den Reklamegestalter frei vom Vorwurf der mehrfachen Tätlichkeit gegen seine Ehefrau, entschädigte ihn mit gut 7500 Franken aus der Staatskasse und gab damit indirekt seinem Anwalt Recht, der während der Gerichtsverhandlung festgestellt hatte: «Der Angeklagte wurde von den Strafuntersuchungsbehörden als Mann stereotypisch vorverurteilt.»

Vorverurteilt aufgrund des Geschlechts. Laut Oliver Hunziker, Präsident des Vereins verantwortungsvoll erziehender Väter und Mütter, ist das keine Seltenheit. «Behörden und Gesellschaft gehen davon aus, dass es in Fällen häuslicher Gewalt allein der Mann ist, der zuschlägt», sagt er. Vielfach trifft das zwar zu: Die Kriminalstatistik zählte 2012 fast 16'000 Straftaten im Bereich der häuslichen Gewalt; Männer sind viermal öfter Täter als Frauen. «Aber es ist ein Tabu, dass es Frauen gibt, die dieses Männerbild ausnutzen», sagt Hunziker. «Vor allem bei Trennungen und Scheidungen werfen manche Frauen dem Mann Tätlichkeiten oder gar Missbrauch vor, um ihm zu schaden.»

Die Ämter sind verpflichtet, den Anschuldigungen nachzugehen – häusliche Gewalt ist ein Offizialdelikt. Wohin das im Extremfall führen kann, erlebte Hugo Knupp: unzählige Male Blaulicht vor dem Haus, Vorladung auf den Polizeiposten, Wegweisungen, Gerede im Dorf. «Ich hatte das Gefühl, in eine grosse, absurde Maschinerie geraten zu sein», sagt er. «Ich hatte nichts getan, und niemand glaubte mir.»

In die Maschinerie der Behörden gerät Knupp – zierliche Gestalt, runde, randlose Brillengläser – erstmals Anfang 2010. Die Stimmung in seiner Ehe ist angespannt. Seit seine Frau einen Herzinfarkt erlitten hat und zwei Operationen über sich ergehen lassen musste, beobachtet Hugo Knupp bei ihr eine Veränderung der Persönlichkeit. Sie kommt gesundheitlich nicht auf die Beine, sie scheint ihn nicht mehr zu ertragen, beschimpft ihn.

Längst hat er sich in ein Zimmerchen zurückgezogen und überlässt den Rest des Hauses seiner Frau. Dazu kommt: Eva Knupp betäubt sich mit Medikamenten, die sie wegen ihrer Beschwerden erhält. Als er den Hausarzt darauf hinweist und dieser auf die Bremse tritt, wechselt seine Frau kurzerhand den Arzt. Knupp schreibt diesem Anfang 2010: «Ich möchte Sie darauf aufmerksam machen, dass meine Frau unkontrolliert starke und gefährliche Medikamente zu sich nimmt und dabei oft nicht mehr sich selbst ist.» Der Hinweis verhallt ungehört, der Medikamentenkonsum der Frau bleibt so hoch, dass die Krankenkasse wegen «Überschreitung der Dosierung» nicht mehr dafür aufkommt.

Wegweisung um Wegweisung

Die Situation eskaliert, als Hugo Knupp seinen Job verliert: Sein Arbeitgeber geht in Konkurs und bleibt ihm zwei Löhne schuldig, finanzielle Engpässe zeichnen sich ab. Am 27. Januar 2010 ruft Eva Knupp die Polizei – sie sagt, ihr Mann habe sie angegriffen und sei nun unterwegs mit einer Waffe, um seinen früheren Arbeitgeber zu erschiessen. Knupp erfährt davon, als er beim Mittagessen bei den Schwiegereltern sitzt: Ein Arbeitskollege ruft ihn an und sagt, die Polizei suche nach ihm. Er fährt sofort zum nächsten Polizeiposten, um das Missverständnis aufzuklären. Die Beamten drücken ihn an die Wand, er muss sich ausziehen und landet im Bezirksgefängnis Baden in Untersuchungshaft. Am Tag darauf kommt er frei, wird jedoch für zehn Tage von zu Hause weggewiesen.

Von da an fährt die Polizei immer öfter vor dem Haus vor. Einmal wirft Eva Knupp ihrem Mann vor, er habe sie gegen ein Regal geworfen. Ein andermal soll er die Ölheizung manipuliert haben, dann wieder mit der Wasserwaage auf sie losgegangen sein. Er kassiert Wegweisung um Wegweisung – bis hin zum Erlass, dass er nicht mehr wohnen darf in dem Haus, das seine Frau schon vor der Heirat bewohnt und in dessen Renovation er nachweislich über 100'000 Franken seines Erbes gesteckt hat. Eva Knupp nutzt die Abwesenheit ihres Mannes, um dessen Gegenstände und Unterlagen zu entsorgen, seine Siebdruckmaschine verschenkt sie. Ihre Anschuldigungen reissen nicht ab, dazu kommen ein Scheidungsverfahren, hohe Unterhaltsforderungen. Hugo Knupp gibt der Polizei zu Protokoll: «Ich bin langsam, aber sicher auch psychisch angeschlagen.»

Der Ehemann weist in allen Befragungen auf den hohen Tablettenkonsum seiner mittlerweile von der Spitex betreuten Frau hin; alle zwei Wochen lade sie sich «einen Rausch, wo sie nicht mehr weiss, was sie tut». Auch sonst gibt es immer wieder Zweifel an den Aussagen der Ehefrau. Ihre Mutter etwa glaubt nicht an die Übergriffe des Schwiegersohns. «Vielleicht wollte sie ihm eine ‹putzen›, und er hat sie gehalten. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass er sie geschlagen hat», gibt sie zu Protokoll. Einmal vermerkt ein Polizist: «Verschiedene Aussagen von Knupp Eva wirkten auf den Schreibenden unglaubwürdig.» Nach Alibiüberprüfungen und Nachforschungen fallen die Vorwürfe in sich zusammen; Eva Knupp hatte sich die blauen Flecken und Verletzungen bei Stürzen ohne Zutun ihres Mannes zugezogen. Doch kaum erhebt sie neue Anwürfe, geht das Prozedere von vorne los.

Ein Alptraum, der kein Ende nimmt

Anfang 2011 stirbt Eva Knupp an den Spätfolgen ihres Herzinfarkts. Einige Monate darauf spricht das Gericht ihren Mann von allen Punkten frei. Der Alptraum ist zu Ende, könnte man meinen. Doch so einfach ist es nicht. «Die Sache hat mich in ein Loch stürzen lassen, aus dem ich bis heute nicht ganz herausgekommen bin», sagt er.

Hugo Knupp hält eine Fotografie, sie zeigt ihn und seine Frau, zwei glückliche Gesichter. Geheiratet hatten sie 1998, für ihn war es die zweite Ehe, für sie die dritte, sie brachte zwei Töchter aus früheren Beziehungen mit. «Ich wollte eine Familie», sagt er. «Menschen um mich herum, die es alle gut haben miteinander.» Er hebt die Schultern. Die Frau ist tot, der Kontakt zu den Töchtern abgerissen, das frühere Haus der Familie wurde zwangsversteigert. In schlaflosen Nächten fragt sich Hugo Knupp manchmal, wie er weiterleben soll.

* Name geändert