Der Fall der vier Monate alten Antonia, die zu Hause zu Tode gequält wurde, erschüttert die Schweiz. Die Methoden, mit denen der Vater das Baby misshandelte, wurden durch die Gerichtsverhandlung öffentlich. Man erfuhr auch, wie die Mutter das Kind versteckte - vor den Grosseltern, dem Kinderarzt, den Behörden. Fassungslos fragt man sich: Wie ist es möglich, dass niemand etwas gemerkt hat?

«Wenn Eltern wirklich wollen, können sie ihr Kleinkind abschotten», sagt Yvo Biderbost, Rechtsdienstleiter bei der Zürcher Vormundschaftsbehörde. Das Kind geht noch nicht in den Kindergarten oder zur Schule. Niemand sieht die blauen Flecken oder die Brandwunden. Es gibt keine Pflicht für die Eltern, einen Kinderarzt aufzusuchen oder mit der Mütter- und Väterberatung zusammenzuarbeiten. Selbst wenn Nachbarn oder Grosseltern bei der Vormundschaftsbehörde eine Meldung machen und diese das Gespräch mit den Eltern sucht, können die Eltern den Termin mehrmals platzen lassen. Mehrere Wochen vergehen dann, bis die Behörde die Polizei losschickt.

Immer wieder sterben misshandelte Kinder
Wertvolle Zeit. Ulrich Lips leitet die Kinderschutzgruppe am Kinderspital in Zürich. Er sagt: «In wenigen Wochen kann so viel geschehen.» Den Besuch beim Kinderarzt zur Pflicht zu machen, wie das derzeit in Deutschland diskutiert wird, ist für ihn keine Lösung - wegen der Wochen, die zwischen jeder Konsultation liegen. «Nachdem der Vater mit dem Baby beim Arzt war, kann er es wieder schlagen, er weiss, dass die Blutergüsse bis zum nächsten Mal nicht mehr zu sehen sind.» Und wenn der Kinderarzt doch etwas entdeckt, Brandwunden, Rippenbrüche? In der Schweiz gibt es - ausser im Kanton Tessin - keine Meldepflicht für Ärzte.

Gemäss Ulrich Lips sind die Kinderärzte sensibilisiert und würden bei einem Verdacht die Eltern mit dem Säugling zur Abklärung ins Kinderspital schicken. «Wir von der Kinderschutzgruppe entscheiden dann, wie es weitergeht.» Wenn die Eltern einsichtig sind, schaltet die Kinderschutzgruppe ihre Sozialarbeiter ein. In gewissen Fällen übergibt sie den Fall auch an die Vormundschaftsbehörde. «Und manchmal sagen wir ganz klar, dass das Kind nicht mehr zurück in die Familie darf.» Regelmässig - bis zu zwei Mal im Jahr - sterbe ein schwer misshandeltes Kind, das ihm gebracht worden sei, auf der Intensivstation, sagt Lips. Meistens seien es Kleinkinder.

Jeder Meldung wird nachgegangen
Wie selbstverständlich geht man davon aus, dass Eltern ihr Baby liebevoll behandeln. Das stimmt auch fast immer. Aber es gibt Ausnahmen - und auf Ausnahmen ist der Kinderschutz nicht eingerichtet. Babys, die verwahrlost sind oder sogar geschlagen werden, kann man wegsperren, unsichtbar machen. Niemand vermisst sie. Je jünger ein Kind, desto eher ist es von den Schwachstellen im Kinderschutz betroffen. «Säuglinge und Kleinkinder fallen teilweise durch die Maschen», sagt auch Rolf Nägeli, Leiter der Kinderschutzgruppe der Stadtpolizei Zürich.

Der beste Schutz vor Misshandlungen durch die Eltern ist für ein Kind der Kontakt zur Aussenwelt, zu Menschen, die im Verdachtsfall Alarm schlagen.

«Wir sind auf Hinweise von Dritten angewiesen», sagt Yvo Biderbost von der Zürcher Vormundschaftsbehörde. Er plädiert dafür, besser einmal zu viel einen Verdacht zu melden als einmal zu wenig. Jeder Meldung werde nachgegangen, auch anonymen. Jüngste Fälle aus Deutschland zeigen, dass aber selbst nach Verdachtsmeldungen nicht immer rettende Massnahmen eingeleitet werden. So verhungerte die fünfjährige Lea-Sophie aus Schwerin, obwohl ihr besorgter Grossvater dem Jugendamt rechtzeitig einen Hinweis gegeben hatte. Den Eltern gelang es, die Leute vom Amt abzuwimmeln.

Ist es auch in der Schweiz so einfach für die Eltern, sich die Behörden vom Hals zu halten? Und was ist konkret gemeint mit «einer Anzeige nachgehen»? Laut Yvo Biderbost läuft das Vorgehen nach Eingang einer Meldung in Zürich so: Die Vormundschaftsbehörde beauftragt die Sozialarbeiter der städtischen Sozialzentren mit den ersten Abklärungen. Die Sozialarbeiter kontaktieren die Eltern, laden sie zu einem Gespräch ein, machen mindestens einen Hausbesuch. Ist ein Säugling im Haushalt, muss die Mutter ihn in ihrer Anwesenheit wickeln. Claudine Cadel, Sozialarbeiterin im Sozialzentrum Zürich-Selnau, erklärt: «Wenn die Körperfalten schmutzig und entzündet sind, wissen wir, dass wir genau hinschauen müssen.» Es bestehe Verdacht auf Verwahrlosung. Zwar gebe es dafür keine messbare Grösse, so Cadel. Aber wenn die Matratze des Kindes feucht und schimmlig sei, die Wohnung fast unmöbliert und voller Abfall, dann seien das Indizien. Und wenn beim Hausbesuch die Familie heile Welt vorspielt? Cadel: «Wir beziehen immer auch das Umfeld in die Abklärungen ein, sprechen mit Lehrern oder Kindergärtnerinnen, aber auch mit Angehörigen oder Freunden der Familie.»

Danach entscheiden die Sozialarbeiter, welche Massnahme getroffen werden muss, und stellen bei der Vormundschaftsbehörde die entsprechenden Anträge. Eine mögliche Massnahme kann sein, dass eine Familienbegleiterin beauftragt wird, Eltern und Kind über mehrere Monate mehrmals die Woche zu Hause zu besuchen. Ebenfalls möglich ist, dass die Familie einen Beistand erhält. In extremeren Fällen wird ihr die Obhut für das Kind entzogen.

Absolute Sicherheit gibt es nicht
Wenn die Eltern sich verweigern, beispielsweise indem sie die Wohnungstür verschlossen halten, geht der Fall zurück an die Behörde. Wieder vergeht Zeit. «Wir machen eine amtliche Aufforderung oder entscheiden bei Dringlichkeit aufgrund der Akten, welche Massnahme sinnvoll ist», sagt Biderbost. Im schlimmsten Fall gehe man mit der Polizei zur Familie.

Ein Rest Unsicherheit bleibt immer - weil Behörden die Balance halten müssen zwischen Einmischung und dem Recht auf Privatsphäre.

Verdacht auf Kindsmisshandlung: Was tun?

Eine nichtstaatliche Beratung durch Fachleute kann Tipps geben, wie Sie mit den Betroffenen am besten in Kontakt treten, ohne dass gleich die Behördenmaschinerie in Gang kommt. 

  • Die Dargebotene Hand: Telefon 143; www.143.ch
  • Bei Kinderschutz Schweiz erfahren Sie, welche Fachstellen in der Region helfen: Telefon 031 398 10 10; www.kinderschutz.ch
  • Bei der Vormundschaftsbehörde am Wohnort des Kindes können Sie jederzeit eine Gefährdungsmeldung machen.
  • In Notfällen wenden Sie sich am besten an die Polizei: Telefon 117
  • Eltern, die Hilfe brauchen, können sich an den Elternnotruf wenden: Telefon 044 261 88 66; www.elternnotruf.ch
  • Kinder und Jugendliche erhalten Hilfe bei der SMS- und Telefonberatung der Pro Juventute: Telefon 147; www.147.ch