«Ich strapaziere unsere Äbtissin manchmal schon»
Ordensschwester Rut-Maria liebt nicht nur Gott, sondern auch Fussball, Velofahren und gute Krimis. Dafür steht sie jeden Morgen um 4.20 Uhr auf.
Veröffentlicht am 2. Februar 2009 - 11:00 Uhr
Die Chance konnte sie sich nicht entgehen lassen. Schliesslich trägt sie seit Kinderzeiten das Fussball-Virus in sich, übertragen vom Vater, der sein Nesthäkchen schon früh zu Nationalliga-A-Spielen mitnahm. So überlegte sie nicht lange, als sie im letzten Herbst vom Präsidenten des FC St. Gallen zu einem Match im neuen Stadion geladen wurde. «Da musste ich hin!»
Schwester Rut-Maria nahm den selbstgestrickten grün-weissen Schal hervor, der sie vor über 20 Jahren an jedes Spiel ihres Lieblingsklubs begleitet hatte, legte ihn um den Kragen des schwarzen Nonnenkleides und machte sich auf den Weg zur Tribüne. Einen so guten Platz hatte sie noch nie. Einen so ruhigen allerdings auch nicht. «Früher gehörte ich zum harten Fan-Kern», sagt sie. «Doch inzwischen verspüre ich kein Bedürfnis mehr danach – und es ginge heute wohl auch zu weit.»
Darüber, was zu weit geht und was nicht, scheiden sich im Frauenkloster St. Andreas im obwaldnerischen Sarnen ab und zu die Geister. «Ich strapaziere unsere Äbtissin manchmal schon etwas», sagt die 38-Jährige und rückt energisch ihre Haube zurecht. Die aus elf Nonnen bestehende Schwesterngemeinschaft lebt in Klausur und untersteht der Regel des heiligen Benedikt, in deren Zentrum Gebet, Arbeit und geistliche Lesung stehen. An den strikten Tagesablauf mit Gebetsrunden, Schweigezeiten und vielen klösterlichen Aufgaben hält sich auch Schwester Rut-Maria – «und zwar mit grosser Freude und Befriedigung».
Aufgewachsen ist die quirlige Frau in einer sechsköpfigen, katholisch geprägten, nicht strenggläubigen Familie. Nach der Sekundarschule in Goldach hatte sie den «Schulverleider» und wählte statt des Gymnasiums als «Notlösung» eine kaufmännische Ausbildung. Drei Jahre später geschah etwas, was sie heute «Berufung» nennt: Beim Schmieden von Ferienplänen wurde ihr klar, dass es sie weder an den Strand noch in die Stadt zog. «Plötzlich dachte ich: Warum nicht Ferien in einem Kloster?» In den Monaten zuvor hatte sie immer wieder den Wunsch verspürt, nach St. Gallen zu fahren und in der Klosterkirche zu beten. «Die feierliche Atmosphäre und die Stille taten mir wohl.» Sie verbrachte drei Wochen bei den Dominikanerinnen in St. Niklausen und erzählte danach einem ihr bekannten Priester so begeistert davon, dass er erwiderte: «Das Klosterleben wäre doch etwas für dich!» Im ersten Moment verwarf sie die Hände. «Ich ging so gern in Konzerte, ins Theater, war jedes Wochenende in Fussballstadien. Wie sollte ich das unter einen Hut bringen?»
Sie brachte es unter eine Haube – das zeigen die letzten 17 Jahre ihrer Biographie. Doch an Grenzen stösst sie immer wieder. Wie viel Zeit jenseits der Klostermauern erlaubt ihr streng geregelter Alltag als Benediktinerin? Wo liegt das richtige Mass zwischen Stille in Klausur und pulsierendem Leben draussen vor der Pforte? Welche Freiheiten stehen einer Nonne zu? Trotz dem lebendigen Austausch in der Schwesterngemeinschaft fand Schwester Rut-Maria auf manch drängende Frage keine Antwort. So entschied sie sich nach Absprache mit ihren Oberen zu einem Theologiestudium. Bis vor kurzem reiste sie regelmässig nach Freiburg und schwang sich für den Weg vom Bahnhof zur Universität jeweils aufs Velo. Das Nonnenkleid habe sich zwar nie in den Speichen verfangen, berichtet sie, «doch der Wind weht dort oft so kräftig, dass ich anstandshalber lange Hosen unter der Kutte tragen musste».
Mitunter scheint ihre Energie zu überborden. Stets ist sie mit fliegendem Kleid unterwegs, manchmal flitzt sie auch mit dem Trottinett über das Areal. Während sie erzählt, wirbeln ihre Hände durch die Luft, und ihre dunklen Augen blitzen immer wieder auf. «Ich würde so gern regelmässig schwimmen», sagt sie nun. Doch der Besuch einer öffentlichen Badeanstalt geziemt sich für eine Ordensschwester nicht. «Bewegung aber brauche ich.» Jeden Morgen rattert ihr Wecker um 4.20 Uhr, worauf sie zu Fuss ihre Runden im Klostergarten dreht. Vor dem ersten gemeinsamen Gebet um sechs Uhr bleibt dann gerade noch Zeit für einen Blick in die Zeitung: «Ich überfliege die Schlagzeilen, um Menschen in Not ins Gebet einschliessen zu können, und widme mich kurz dem Sportteil, der mich besonders interessiert.»
Zur Hauszeitung, der NZZ, hat sie eine besondere Verbindung: In den letzten Monaten verfasste sie für die Online-Ausgabe wöchentlich Kolumnen aus dem klösterlichen Alltag. Seit wenigen Tagen sind die gesammelten Texte in Buchform erhältlich.
Fünf Stunden verbringen die Schwestern täglich im gemeinsamen Gebet – «meine Erholungszeit», sagt Schwester Rut-Maria. «Das Beten hilft mir, ganz zu mir zu kommen; daraus schöpfe ich Kraft.» Und die braucht sie für ihre bis zur letzten Minute ausgefüllten Tage. Neben der Äbtissin ist sie die treibende Kraft in der Gemeinschaft. Sie hilft in der Administration, ist eine der wenigen im Kloster, die mit Computer und Internet umzugehen wissen, wird in Kürze die Buchhaltung übernehmen und widmet sich notgedrungen auch dem Fundraising: 2005 wurde das Kloster infolge Hochwassers komplett überschwemmt. Nicht nur Kirche und Erdgeschoss waren überflutet, sondern auch ein unterirdischer Schutzraum, der eine bedeutende Sammlung an jahrhundertealten Kulturgütern beherbergte. Für die notwendigen Restaurationsarbeiten war St. Andreas auf Spenden in Millionenhöhe angewiesen.
Abends nach der letzten Gebetsrunde wirft Schwester Rut-Maria einen letzten Blick ins Internet. «Ich möchte auf dem Laufenden bleiben und mitverfolgen, was nah und fern geschieht.» Manchmal schaltet sie im Gemeinschaftsraum auch den Fernseher ein und verfolgt Fussballspiele oder einen Tennismatch. Und wenn sportlich nichts Spannendes läuft, zieht sie sich in ihr kleines Zimmer zurück, am liebsten mit einem Krimi von Agatha Christie. Aber auch Frisch, Dürrenmatt oder Borchert begeistern sie: «Diese Autoren sagten, was sie dachten; sie schwammen gegen den Strom. Das gefällt mir.»
Zeiten, in denen sie lieber nicht mehr Nonne wäre, kennt sie nicht. Wohl aber Tage, an denen sie den «Verleider» hat – «so wie ihn wohl alle Menschen zwischendurch haben». Dann sei die Rückbesinnung an die «Anfangssehnsucht» wichtig, die sie ins Kloster führte. «Damals verliebte ich mich in Gott.» Wie jede Verliebtheit im Leben draussen sei auch diese nüchterner geworden, habe sich gewandelt. Und nun strahlt es unter der Haube: «Heute liebe ich Gott.»
Buchtipp
Schwester Rut-Maria: «Auch Nonnen haben Parkplatzprobleme. Mein Leben im Kloster»; Herder-Verlag, 2009, 140 Seiten, 24.90 Franken