«Faustrecht!» Der ältere Herr schlägt mit der Hand auf die Tischkante. «Das ist Faustrecht! Hab ich Recht?» – «Das ist nichts anderes als Faustrecht», sagt sein Nachbar. «Zum Birnenkotzen», sagt ein Dritter. Der Jüngste murmelt: «Fuuscht i d Schnore, fertig!» Es geht laut zu im «Rössli».

Krinau liegt malerisch in seinem Toggenburger Talkessel. Die Blumen leuchten in den Vorgärten, die Wäsche flattert im Wind. Die Bänklein auf den umliegenden Hügeln sind der Gemeinde zugewandt. Krinau ist das kleinste Dorf des Kantons St. Gallen. Drei Tannen hat es in seinem Wappen; rundherum das Gelb des Löwenzahns.

Dreigeteilt ist auch das Rund der Verbotstafel am Eingang der Älplistrasse. Sie darf nicht befahren werden von: Personenwagen, schweren Motorrädern, leichten Motorrädern. Gestattet ist die Durchfahrt nur für die Land- und die Forstwirtschaft – «sowie mit Bewilligung». Wo man diese Bewilligung erhält, ist auf der Tafel nicht ersichtlich.

«Dem Toni seiner Schwester haben sie neulich wieder eine Busse angehängt.» – «Dem Toni seiner Schwester? Ausgerechnet! Der!»

Die Älplistrasse ist knapp drei Meter breit und etwas mehr als drei Kilometer lang. Sie verbindet den unteren Teil Krinaus mit dem höher gelegenen Chapf und dem Älpli. Beidseits des Asphalts weiden Kühe. Das maximale Gefälle des Weges beträgt 12 Prozent. Die Strasse erschliesst zehn zum Teil abgelegene Haushalte. Zuoberst befindet sich ein Restaurant.

Heinrich Stiefel ist Jagdaufseher, Fleischkontrolleur und Hotelier in Krinau. Sein «Löwen» ist eine der drei Beizen im Dorf. Wer die Kurve nach seinem Haus weiter hinansteigt, befindet sich nach wenigen Schritten in der Älplistrasse.

Seit Jahren sorgt das Fahrverbot für Streit im Dorf. «Wo sind wir denn hier?

In der Schweiz? Oder wo?!» Stiefel hat genug. Aischa, seine bayrische Gebirgsschweisshündin, schmiegt sich zärtlich an sein Knie. «Die ganze Region spottet über uns! Es ist lächerlich. Das muss jetzt ein Ende haben!» Stiefel ist Meisterschütze.

Hoch über Krinau, gleich über dem Älpli, trifft sich Stiefel mit seinen Kollegen aus dem Aargau, aus Winterhur, aus Zürich, zur Herbstjagd. Samstags.

Dazu brauchts eine Bewilligung zur Befahrung der Älplistrasse. Sie kann auf der Kanzlei an der Poststrasse gelöst werden. Die Kanzlei hat samstags geschlossen. Für einen Tagesausweis «Älplistrasse» werden benötigt: Name des Autoinhabers, die Ziffern des Kontrollschilds, die Unterschrift des Gemeindeangestellten. «Der Ausweis ist während des Befahrens der Strasse und während der Parkzeit gut sichtbar an der Windschutzscheibe anzubringen», steht auf dem Papier. Kosten: zehn Franken.

Krinau erstreckt sich über rund sieben Quadratkilometer. Von den 292 Einwohnerinnen und Einwohnern sind 200 stimmberechtigt. Die nächste Disco heisst «Halli Galli» und befindet sich in Degersheim.

Frühling und Herbst sind die meisten Autoparkplätze im Dorf belegt. Das mittlere Toggenburg ist ein beliebtes Wandergebiet. Die dreissig Ferienhäuschen im Dorf gehören mehrheitlich Zürcherinnen und Zürchern.

«Ich könnte verrecken hier oben, keiner käme mich holen.» Köbi Bühler ist allein stehend, zu 50 Prozent invalid und seit elf Jahren allein im Haus hinter der Älplistrasse. Nein, viel Besuch hat er nie gehabt. Aber er braucht hie und da Hilfe.

Köbi Bühler erzählt: Albin, ein Freund, habe ihm 24 Kubik Bauholz hochgebracht, sechs Tage lang, nach Feierabend. Die Gemeindekanzlei war geschlossen, und ausserdem habe er «keine Zeit für die Bewilligung» gehabt. «Sternesiech! Dem Albin haben sie Bussen von total sechshundert Franken anhängen wollen.»

Bussen haben auch schon Köbis Schwestern erhalten. Bezahlen mussten sie sie nicht. Aber die Polizei bot sie zu Abklärungen auf.

Sowohl die Schwestern als auch Albin waren privat angezeigt worden. Köbi Bühler sagt: «Ich bin fünfzig geworden, und ich habe das Gefühl: Jetzt fängt der Kindergarten an.»

B., der nicht namentlich genannt sein will, wohnt seit 1972 in Krinau. Sein Haus stösst an die Älplistrasse. B. ist pensioniert. «Das ist eine lange Geschichte», sagt er und zückt seinen roten Ordner. Hier ist ein Schreiben des Meliorationsamts aus dem Jahr 1975. B. fährt mit dem Zeigefinger über die Zeilen. «Dieser Strassenzug führt in ein grösseres Wandergebiet.» B. spricht laut und langsam: «Wir würden eine strikte Begrenzung des Verkehrs auf Land- und Forstwirtschaft sehr begrüssen. Ein Brief des Meliorationsamts!»

B. schaut triumphierend auf. Die vielen Autofahrten haben ihn seit Jahren geärgert. B. kommt aus dem Zürcher Oberland. Er suchte hier in Krinau seine Ruhe. Was er fand, war Lärm.

Anfang 1994 machten einige Anwohner der Älplistrasse eine interne Eingabe zuhanden des Korporationspräsidenten: «Von verschiedenen Seiten wird dazu animiert, das Fahrverbot zu missachten.» Und im Protokoll von 8. Juni 1985 hielt man fest: «Es ist die Pflicht der Kommissionsmitglieder, fehlbare Lenker – zum Beispiel bei einer Metzgete – an den Gemeinderat zu verzeigen.»

Vor 250 Jahren ging in Krinau ein gewisser Ueli Bräker zur Schule, der erst lange nach seinem Tod als «der arme Mann im Tockenburg» bekannt wurde. Der Kleinbauer und Garnhausierer hatte den Kampf mit seinen Schulden, die ehelichen Zänkereien und die kleinen Vorfälle Tag für Tag in einem Buch festgehalten. Es zählt heute zur Weltliteratur.

Im September 1998 begann B. sämtliche Autos zu registrieren. Er hebt den Finger, weist auf ein dicht beschriebenes Blatt. «Am 9. Mai beispielsweise fuhr um 11 Uhr ein roter Kombi Richtung Älpli. Er kam um 17.45 Uhr wieder ins Dorf.» B. notierte das Nummernschild. Um 11.35 Uhr gewahrte er einen «jungen Raser. BMW. Der Wagen raste um 14.35 ins Dorf zurück.» 11.55 Uhr: dunkler Kleinbus. Rückfahrt unklar. 14.14 Uhr: Sportcoupe, blau; 15.50 Uhr zurück. «15.30 dunkler Golf… Dies ist nur die Spitze des Eisbergs!»

Zwischen 1977 und 1984 wurde die Älplistrasse in Krinau geteert. Der Bund beteiligte sich an den Kosten. Bedingung: Der Weg muss für den allgemeinen Verkehr gesperrt werden. Am Verbotsschild ist heute ein Viehlader montiert.

B. lächelt. Er hat – als Korporationsmitglied – «einen Auftrag, irgendwie». Leider, erklärt er, sei seine Liste nicht immer vollständig; die Gemeinde Krinau anerkenne eine Anzeige nur, wenn er Autonummer, Marke und Farbe aufgeführt habe.

Ist dies der Fall, werden B.s Meldungen von Krinau an die Polizei in Wattwil weitergeleitet. In Wattwil wird dann der betreffende Halter eruiert. Die Resultate aus Wattwil gehen zurück nach Krinau. Hier wiederum wird abgeklärt, wer von den angezeigten Haltern im Besitz einer Bewilligung ist.

Eine Dauerbewilligung haben alle Anwohner der Älplistrasse; deren Freunde und Anverwandte haben keine.

Im Sommer 1999 gingen innert kurzer Zeit 82 Anzeigen ein. 13 davon erhielten eine Busse. Die restlichen 69 wurden nach gründlichen Abklärungen zurückgezogen.

«Zustände wie im alten Rom!», sagt Hansueli Bodenmann. Er ist Präsident des Landwirtschaftlichen Vereins Untertoggenburg. Sein Ärger: Auch die 60 Landwirte aus der Region, die ihr Vieh auf der Alp sömmern, werden regelmässig verzeigt und mit polizeilichen Befragungen belästigt. Und das, obwohl Bauern die Strasse legal befahren dürfen.

Marcel Ruoss, Geschäftsinhaber in Krinau, versteht das alles nicht. Allerdings aus einem anderen Grund: Er wurde noch nie verzeigt. Obwohl er die Strasse «zwei- bis dreimal wöchentlich» hochfährt.

Ruoss ist treuer Gast im «Älpli» – selbst im Militärdienst. Er lacht. Wird ernst. «Offensichtlich wird hier mit verschiedenen Ellen gemessen.»

Das Restaurant Älpli liegt 1140 Meter über Meer. Annerös, Emil und Anita Bösch führen den Betrieb seit drei Jahren. Die Bänke blieben im vergangenen Sommer oft leer. Die Verzeigungen haben die Gäste fern gehalten.
Für 1500 Franken im Monat hütet Emil Bösch die Rinder des Landwirtschaftlichen Vereins. «Wenn die Beiz nicht mehr läuft, bleibt uns nicht mehr viel übrig.»

Madlen Früh ist seit Juni 1999 Präsidentin der Gemeinde. Uber den «Riesenstoss Anzeigen» hat sie «schon etwas gestaunt»; es seien Pannen geschehen; sie werde sich «persönlich entschuldigen». Früh bezweifelt, dass je «eine befriedigende Lösung» gefunden werde. Sobald Krinau das Fahrverbot aufhebt, müssten nämlich die Subventionsgelder des Bundes zurückbezahlt werden. Es handelt sich um eine Summe, die den Steuereinkünften von zwei Jahren entspricht.

275 Jahre alt ist die Kirche. Die Zahl ist in Blumen auf dem Beet davor angelegt. Die Hügel rundum sind sanft, die Luft ist rein. Das «Rössli» hat die einzigen Fremdenzimmer.

«Eine gottvergessene Sauerei ist das, eine himmeltraurige!» Der Gast ist müde, nippt am Bier.

Krinau, heisst es in der Dorfchronik, habe im Mittelalter «eine Freiheit errungen, wie sie im Toggenburg nicht üblich war» – jene nämlich eines «selbstherrlichen Gerichtsbezirks». Das war vor 400 Jahren.

Neben dem Kanzleischalter hängt heute ein Kalender. «Gemeinsam ist das Leben gesprächiger», steht drauf.