Die Haltung des Heimleiters wurde seinen Briefen, dem Jahresbericht und zwei Telefongesprächen entnommen. Der Stiftungsrat willigte zwar grundsätzlich zu einem Gespräch ein, lehnte jedoch alle rechtzeitig gemachten Vorschläge des Beobachters für einen Termin vor Redaktionsschluss ab.

Adrian Kenzer (Name von der Redaktion geändert), Psychologe mit Berufserfahrung in Jugendheimen, wollte im Landheim Brüttisellen ZH die Erziehung und die Berufsausbildung entscheidend verbessern. Nur die besten Fachleute sollten in seinem Heim tätig sein, die andern mussten gehen. Nachzulesen im Jahresbericht 1998: «Diese hohen Ansprüche konnten einige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nicht erfüllen. Trennungen – trotz langjähriger Betriebstreue – waren unvermeidbar.»

Seit April 1996, als Adrian und Regula Kenzer (Name von der Redaktion geändert) die Heimleitung übernommen haben, hat mehr als die Hälfte der rund 40 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter das Heim verlassen. Vielen hat Kenzer gekündigt oder ihnen die Kündigung nahe gelegt. Einige sind ihm mit diesem Schritt zuvorgekommen. In Kenzers Sprache heisst dies, sie hätten eine «neue berufliche Herausforderung» gefunden.

Doch Kenzers harter Kurs, der eine Wende zum Besseren hätte bringen sollen, hat das Gegenteil bewirkt. Im Landheim Brüttisellen hat sich die Situation nur verschlechtert. Chris Weilenmann, der Präsident des Stiftungsrates, gesteht im letzten Jahresbericht gleich selbst: «Auch wir befinden uns in einer Krise.»

Zugegeben, die Aufgabe des Jugendheims Brüttisellen ist schwierig: Rund 30 Burschen im Alter von 15 bis 22 Jahren sollen hier Selbstvertrauen entwickeln, ein normales Leben ohne Zuflucht zur Gewalt führen lernen und eine Lehre oder Anlehre machen können. Es sind geschädigte junge Leute, bei denen Eltern und Erzieher nicht selten versagt haben. Einige kommen aus Kriegs- und Krisengebieten.

Schlendrian und Übergriffe
Gerade für diese jungen Leute, die ohnehin auf der Schattenseite des Lebens stehen, haben sich die Aussichten verdüstert. Ehemalige Pädagogen und Handwerkermeister berichten von Disziplinlosigkeit und Schlendrian unter den Insassen – mit schwerwiegenden Folgen. Der Ruf des Heims sei so schlecht geworden, dass Handwerker aus der Nachbarschaft kaum mehr Lehrverträge mit Heiminsassen abschlössen. Ende August soll es gar zu brutalen sexuellen Ubergriffen unter einigen Insassen gekommen sein. Die Polizei wurde nicht alarmiert.

Symptomatisch für die ungute Entwicklung im Heim ist der Rauswurf von Erwin Girod. Der 60-jährige Chef der Schlosserei hat zehn Jahre in Brüttisellen gearbeitet und gilt unbestritten als tüchtiger Handwerker. Er hat viele Jugendliche durch die Lehre oder Anlehre geführt und sie zu Berufsleuten gemacht, die in der Arbeitswelt bestehen können. Girod hat unter anderem nicht hinnehmen wollen, dass seine Lehrlinge die Berufsschule nur nach Gutdünken besuchten und am Morgen im Bett bleiben konnten, nur weil ihnen die Arbeit zu mühsam erschien.

Dass solche Zustände in allen internen Ausbildungsstätten – Schlosserei, Schreinerei, Gärtnerei und Landwirtschaft – eingerissen haben, bestätigen nicht nur die Handwerker, sondern auch Sozialarbeiter und Pädagogen des Heims. Doch Adrian Kenzer habe nichts unternommen, um einen geordneten Betrieb sicherzustellen.

Dabei ist es nicht so, dass Psychologe Kenzer aus reiner Menschenfreundlichkeit die Zügel schleifen liess. Seinen Mitarbeitern gegenüber zeigte er sich nämlich höchst unzimperlich. Im Abgangszeugnis für Schlossereichef Girod schrieb Kenzer: «Diese schwierige Zusammenarbeit lässt jedoch nicht den Schluss zu, dass Herr Girod an einem andern Arbeitsplatz unter anderer Betriebsführung ein guter Mitarbeiter wäre.» Gegenüber dem Beobachter räumte der Heimleiter ein, dieses Zeugnis hätte er «in einer emotionalen Phase» verfasst, er wäre bereit, es neu zu formulieren.

Fehler werden abgeschoben
Nach der Kündigung scheint sich bei Adrian Kenzer das soziale Gewissen doch noch gemeldet zu haben: Wovon soll ein 60-jähriger Handwerker ohne Stelle leben? Von der IV, befand Heimleiter Kenzer. «Um die Trennung sozial verträglich zu machen und um Herrn Girod Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, bitte ich Sie, eine vertrauensärztliche Untersuchung anzuordnen. Ich bin persönlich überzeugt, dass Herr Girod unverschuldet, das heisst krankheitsbedingt, die erwarteten Leistungen nicht erbringen kann», schrieb er an die Beamtenversicherungskasse.

Bei der ärztlichen Untersuchung ergab sich, was zu erwarten war: Erwin Girod ist kerngesund. Eine IV-Rente kann nicht ausgerichtet werden. Kenzer argumentiert, die ausgesprochenen Kündigungen seien zum Wohl des Heims erfolgt. Zwei Mitarbeiter hegen aber auch einen anderen Verdacht: Leute über 60 seien einfach zu alt.

«Hohe Anforderungen» und «Leitbild» sind Schlüsselwörter für Kenzer. Er schwört auf die Theorie des US-Psychologen Carl Rogers und ist wild entschlossen, alle Mitarbeiter darauf einzuschwören.

Zu Carl Rogers schreibt Psychologe Koni Rohner im Beobachter-Ratgeber «Psychotherapie», der Therapeut versuche, «durch echte Anteilnahme, Wertschätzung und Einfühlung eine angstfreie Atmosphäre zu schaffen, in der die Klienten lernen, Gefühle, Gedanken und Erfahrungen zu klären und eigene Widersprüche anzunehmen.» Die Aufgabe des Therapeuten sei, mit einer akzeptierenden Haltung die Selbstheilung der Klienten zu fördern.

Laisser-faire funktioniert nicht
Koni Rohner ergänzt, die Rogers-Theorie sei eine gute Grundhaltung, aber nicht einmal in der Schule eins zu eins umsetzbar: «In der Realität sind Massnahmen und Strafen nicht zu umgehen. Doch man kann den Betroffenen den Sinn dieser Massnahmen erklären.» Rogers selber setze dem Mass an Freiheit ein Mass an Strukturen gegenüber.

Das scheint – theoretisch wenigstens – auch den Verantwortlichen des Landheims klar zu sein. Der Jahresbericht hält fest: «Personenzentriertes Arbeiten ist weit vom Laisser-faire und weit von antiautoritärer Erziehung entfernt.» Nur: In der Praxis erscheinen die Lehrlinge im Landheim gleichwohl nicht zur Arbeit, wenn ihnen die Lust dazu fehlt. Dabei ist festzuhalten, dass sie sich nicht freiwillig einer Therapie unterziehen, sondern von Behörden ins Heim eingewiesen worden sind.

Ein ehemaliger Gruppenleiter kritisiert denn auch nicht das Modell Rogers, sondern dessen Umsetzung: «Rogers will ja, dass man auf den jungen Menschen eingeht, dass man ihn abholt, wo er ist. Ubel war nur, dass Kenzer sich uns Erziehern gegenüber nie an diese Richtlinien gehalten hat. Er wollte einfach befehlen.»

Dazu passt, dass Kenzer auch Kündigungen aussprach, ohne sich auf irgendwelche Theorien zu berufen. Ein Beispiel dafür ist die Kündigung der Köchin. Nach 23 Dienstjahren erhielt sie den blauen Brief – während der Ferien. Dabei hatten etliche Insassen bei ihr erfolgreich eine Lehre oder Anlehre absolviert. Und mit ihrer Kost war männiglich sehr zufrieden.

Drogenproblem totgeschwiegen
Aber Adrian Kenzer wollte eine Änderung der Ess- und Kochgewohnheiten durchsetzen. Er schwärmte von vegetarischer Kost, zumindest von möglichst wenig Fleisch und viel eigenem Gemüse. Das verwendete die Köchin zwar stets, und sie kochte auch ab und zu vegetarisch. Doch Kenzer ass ihre Suppe nicht. Im Kündigungsschreiben hielt er fest, dass sie sich nicht an seine Anweisungen gehalten habe.

Auch das Rauschgiftproblem «löste» Kenzer auf eigene Weise. So verbot er einem ehemaligen Gruppenleiter einfach, mit den Eltern über das Thema zu sprechen. «Dabei hatten wir ein massives Problem», sagt der Betroffene: «Von Hasch über LSD bis zu Heroin und Kokain wurde alles konsumiert. Aber davon sollte nichts nach aussen dringen.»

17 Mitarbeiter verlangten schliesslich eine Aussprache mit der Betriebskommission, dem Aufsichtsorgan der Stiftung. Nach etlichen Versuchen, die am Prozedere scheiterten, kam eine Zusammenkunft zustande – an der die heissen Eisen nicht diskutiert wurden. So jedenfalls sehen es die Betroffenen. Tatsache ist, dass sich die Aufsichtskommission voll hinter Adrian Kenzer stellte. Sie verlangte auch, dass sich sämtliche Teilnehmer davon distanzierten, den Rücktritt von Kenzer zu fordern. Doch die Kündigungen gingen weiter.

Untätig blieb auch Bruno Heuberger, der Chef der Jugendkommission des Bezirks Bülach. Zwar gefalle ihm nicht, was im Landheim vorgehe, doch fehle ihm die Kompetenz, einzugreifen, handle es sich doch um eine private Stiftung: «In letzter Zeit ist es doch eher ruhig geworden. Praktisch keine Jugendlichen gehen auf Kurve (ausreissen)», wiegelt er ab. «Was sollen sie auch auf die Kurve gehen», fragt ein ehemaliger Erzieher sarkastisch, «wenn sie im Heim nach Belieben bis in die Frühe haschen und saufen können?»

Ein Brief an die «Lieben Jungs»
Die Personalprobleme liessen sich natürlich vor den Jugendlichen nicht geheim halten. Adrian Kenzer sah sich denn auch genötigt, in einem psychologisch verbrämten Schreiben die «Lieben Jungs» über die Folgen der Trennung von den vertrauten Mitarbeitern aufzuklären.

«Jede Trennung löst Gefühle aus. Mitleid, Traurigkeit, Gefühle von Verlassenwerden und vor allem Wut und Angst. Wut auf mich als verantwortlichen Heimleiter und Angst vor der Unsicherheit, wer nun neues kommt. Beide Gefühle sind normal und passen zu Eurer Situation (…) Also, ich habe grosses Vertrauen in Euch, dass Ihr vor allem mit Eurer Wut auf mich so umgeht, dass wir gemeinsam eine sinnvolle Zukunft haben werden.»

Eine sinnvolle Zukunft sollte tatsächlich angestrebt werden. In erster Linie zum Wohl der jungen Männer. Und auch zum Wohl der Steuerzahler, die pro Tag und Insasse 250 bis 300 Franken bezahlen.