Donnerstag, 27. Januar, 7.20 Uhr. Messerscharf zeichnen sich die Bergkonturen über Davos vom klaren, wolkenlosen Himmel ab. Sanft weicht die Morgendämmerung dem Tag. Die verschneite Alpenstadt rüstet zum Weltwirtschaftsforum, und die ersten Skifahrer bewegen sich Richtung Parsennbahn.

Eine halbe Stunde später ist auch Roland Meister unterwegs. Er will hoch hinaus – auf den Gipfel des Weissfluhjochs. Seit 23 Jahren arbeitet er am Eidgenössischen Institut für Schnee- und Lawinenforschung (SLF). Heute hat er Pikettdienst. Zusammen mit zwei Kollegen ist er zuständig für das nationale Lawinenbulletin. Dieses gibt Auskunft über die aktuelle Lawinensituation und zeigt die Prognose für den nächsten Tag. Ab 17 Uhr wird Meisters Tageswerk über Radio, Internet, Telefonnummer 187, Teletext und Fax in der ganzen Schweiz abrufbar sein.

Aber noch ist der Tag jung. Die Lawinenwarner des SLF gehen so oft wie möglich «ins Gelände», wie sie sagen. Ausgerüstet mit Skiern, Fellen, Feldstecher, Schaufel und Pickel machen sich die Männer des Lawinenwarndienstes auf, um die Hänge zu begutachten.

Während der Fahrt auf den Weissfluhjochgipfel schweift Meisters Blick aufmerksam über die Berghänge. Das schöne Wetter trügt, denn die Situation ist heikel. Am vergangenen Wochenende sind fast 50 Zentimeter Neuschnee gefallen. «Trockener Schnee mit wenig Feuchtigkeit und viel Wind drin», erläutert Meister.

In den nördlichen Regionen habe sich der Neuschnee zwar etwas gesetzt, aber noch nicht genügend verfestigt. Auch wegen des plötzlichen Temperaturanstiegs ist die Lawinengefahr immer noch erheblich. Tatsächlich sieht man rechts und links der Skipiste niedergegangene Schneebretter. Schwer und unbeweglich liegen sie da.

Die Wucht, mit der sie zu Tal donnerten, lässt sich nur noch erahnen.«Einige haben sich von selbst oder durch Ski- und Snowboardfahrer gelöst, andere wurden vom Sicherheitsdienst der Bergbahnen künstlich ausgelöst», sagt Meister.

Auch der Fachmann staunt
Welche Verhältnisse müssen herrschen, damit die Situation ungefährlich ist? Meister lacht. «Wenn wir das so genau sagen könnten!» Auch nach 23 Jahren staune er täglich von neuem über die Naturgewalten. «Mein Respekt vor Lawinen ist nicht kleiner geworden – im Gegenteil. Und je länger ich dabei bin, desto weniger weiss ich», stellt er nüchtern fest.

Die Natur bleibt unberechenbar – auch für Kenner. Für die Lawinenbeurteilung sind verschiedene Faktoren massgebend: der Aufbau der Schneedecke, die Neuschneemenge, Wind- und Wetterverhältnisse, die Sonneneinstrahlung, die Hanglage. Um all diese Faktoren in die richtige Beziehung zueinander zu setzen, braucht es viel Erfahrung.

Seit drei Jahren wird das nationale Lawinenbulletin nicht mehr am Vormittag, sondern am späten Nachmittag gemacht. So können sich vor allem Skitourengänger besser auf die nächste Tour vorbereiten. Mit den regionalen Bulletins für die vier Bergregionen Nord- und Mittelbünden, Oberwallis, Unterwallis und Zentralschweiz wird dann jeweils am nächsten Morgen nachgedoppelt.

Die Bahn erreicht den Gipfel, und die Skifahrer streben dem Ausgang zu. Viele sind «Variänteler», wie sie von den Schneeforschern genannt werden. Sie werden die Pisten verlassen und eine eigene Spur durch den Tiefschnee wählen. Die Wahrscheinlichkeit, dass einer von ihnen ein Schneebrett auslöst, ist heute immer noch erheblich. «Die Sonneneinstrahlung wirkt jetzt stark auf den Schnee», erklärt Meister. Tatsächlich: Während das Thermometer auf der Anfahrt durchs Landwassertal noch minus 16 Grad anzeigte, ists auf dem Weissfluhjochgipfel bereits minus 3 Grad.

Neben dem Bergbahnzentrum steht das alte Gebäude des SLF, und oben auf dem Gipfel ragen gleich mehrere Messstangen in die Höhe. Hier haben im Herbst 1936 sechs Wissenschaftler mit der Schneeforschung begonnen – in einer kleinen Holzhütte neben der Bergstation, wo sich jetzt nebelgeplagte Flachländer auf einer Terrasse sonnen. 1942 wurde an derselben Stelle der erste Teil des Instituts gebaut.

Bis vor drei Jahren war auch Roland Meisters Arbeitsplatz hier oben. Doch es wurde zu eng, und der ganze Tross von 50 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zog talwärts – in ein neues Gebäude in Davos. Seither bleibt Meisters kleines Holzbüro mit atemberaubendem Blick über die Berge meist verwaist.

Einziger «Gast» dort ist momentan Martin Laternser. Der Geograf schreibt an seiner Doktorarbeit und muss als «Hauswart» jeden Tag Schneemessungen vornehmen und per Modem in die Zentrale nach Davos melden. Insgesamt 80 Beobachter im ganzen Alpenraum tun jeden Tag dasselbe. Dazu kommen die Daten von 80 automatischen Messstationen und von den Wetterstationen der Schweizerischen Meteorologischen Anstalt. All diese Messwerte laufen in einem grossen Rechner in Davos zusammen und liefern die Grundlage für die täglichen Lawinenbulletins.

Noch bleiben viele Rätsel
Das ist nicht alles: Das Bulletin ist zwar die bekannteste Dienstleistung des SLF, mindestens so wichtig ist aber die Forschung. Geografen, Physiker, Ingenieure und Informatiker versuchen in hartnäckiger Kleinstarbeit, das Phänomen Schnee weiter zu entschlüsseln. Denn viele physikalische Prozesse, die eine Lawine auslösen können, sind bis heute ein Rätsel.

Ein paar hundert Meter unterhalb des Gipfels liegt das Versuchsfeld des Instituts. Auf der abgesperrten Fläche, so gross wie ein Sportplatz, ragen Messstangen und technische Konstruktionen aus dem glitzernden Schnee. Die weissen Geräte wirken filigran, fast unwirklich. Kaum vorstellbar, dass sie rund um die Uhr wichtige Daten übermitteln. Es ist still hier. Die Skipisten sind auf der andern Seite der Bahn.

Einer der wenigen Farbtupfer im weissen Feld ist eine schwarzrote Messlatte. Sie hat historischen Wert: Seit der Institutsgründung 1936 wird an dieser Latte jeden Tag die Schneehöhe abgelesen. Auch Doktorand Laternser ist heute früh hier gewesen und meldete nach Davos: «1,48 Meter.» Ausserdem hat er auf einem kleinen ausgelegten Brett die Neuschneehöhe und -dichte gemessen, das Wetter beurteilt, die Einsinktiefe des Schnees eruiert und die in seinem Gebiet niedergegangenen Lawinen protokolliert.

Präzise Analyse des Schnees
Alle 14 Tage erstellen die 80 Beobachter im Alpenraum ein Schneeprofil. Heute übernimmt Roland Meister diese Aufgabe. Mit der Rammsonde, einem Stock, den er in den Schnee fallen lässt und mit kleinen Hammerbewegungen bis auf den Grund stösst, beurteilt er die Konsistenz des Schnees. Je weicher der Schnee ist, desto schneller dringt die Rammsonde ein. Anschliessend hebt er mit der Schaufel ein Rechteck aus, um dann mit Hilfe eines schwarzen Rasterblechs die verschiedenen Schneeschichten und Schneekristalle zu untersuchen. Anhand dieses Schneeprofils ist deutlich zu sehen, dass sich die oberste Neuschneeschicht noch nicht ganz gesenkt hat.

Während die Beobachter im Alpenraum noch mit den gleichen Messgeräten arbeiten wie in den vierziger Jahren, tüfteln die Forscher des Instituts an der Entwicklung von immer neuen, automatischen Messgeräten. Zum Beispiel Christine Pielmeier: Neben dem Versuchsfeld hat sie den Prototyp einer automatischen Rammsonde installiert. Langsam dringt die ferngesteuerte Sonde in den Schnee ein. «Wir messen den Widerstand in jedem Viertausendstel Millimeter Schnee», erklärt die Wissenschaftlerin.

Nüchterne Forschung und unvorsichtige Skifahrer – wie vereint Roland Meister diese Extreme? Immerhin kommt eine kürzlich veröffentlichte Studie des SLF zum Schluss, dass neun von zehn Lawinenopfern die tödlichen Schneemassen selber in Bewegung gesetzt haben. Ist das nicht frustrierend? «Eigentlich nicht. Wir leisten einen wichtigen Beitrag zur Prävention», sagt Meister. «Trotz der enormen Zunahme an Bergtouristen beträgt die Zahl der Lawinenopfer konstant rund 25 pro Jahr. Das zeigt, dass wir gute Arbeit leisten.»

Das ist auch nötig, denn laut Roland Meister ist rund jeder dritte Wintertag ein Lawinentag. Das heisst, alle drei Tage geht irgendwo eine Lawine runter. «Natürlich ist es traurig, wenn man an einen schweren Unfall kommt; vor allem wenn man feststellen muss, dass unsere Warnungen nicht ernst genommen worden sind.»

Mehr Frust mit unvorsichtigen Skifahrern und Snowboardern erlebt Romano Pajarola, der Chef des Pisten- und Rettungsdienstes der Parsennbahnen: «Viele Leute sehen nur den blauen Himmel und den Pulverschnee. Sie überlegen sich nicht, ob es gefährlich oder ungefährlich ist.»

Gefahr durch Variantenfahrer
Dann passierts. Wie zum Beispiel dem Snowboarder und den beiden Skifahrern, die tags zuvor je ein Schneebrett ausgelöst haben. Durch die Fenster des Sicherheitsbüros auf der Gipfelstation zeigt Pajarola auf die Hänge, wo die niedergegangenen Schneebretter zu sehen sind. «Ich habe nicht grundsätzlich etwas gegen Variantenfahrer. Wenn sie aber Lawinen auslösen und damit die gesicherten Pisten gefährden, ärgert mich das.» Schliesslich sei er verantwortlich für die Skigäste.

«Die Risikobereitschaft hat allgemein zugenommen», findet Pajarola. Mit dem Aufkommen von Snowboards und breiten Skiern sei das Fahren im Neuschnee einfacher geworden – auch für unerfahrene Skifahrer. «Einigen gehts gar nicht darum, dass es schön ist. Nur extrem muss es sein.»

Pajarolas Ausführungen werden durch das Klingeln des Telefons unterbrochen. Ein Skilehrer, der im Gelände war, meldet, dass er ein Schneebrett ausgelöst hat. Zu Schaden ist niemand gekommen. «Erfahrene Variantenfahrer wie dieser Skilehrer melden uns, wenn sie etwas auslösen.

Das ist gut», sagt Pajarola. Später wird er – wie bei allen ihm gemeldeten Lawinen in seinem Einzugsgebiet – ein Formular ausfüllen und ans SLF faxen.

Was weiter weg passiert, interessiert Pistenchef Pajarola weniger. Sein Augenmerk liegt auf der Sicherung der Pisten. Dazu löst er an gefährlichen Hängen neben der Piste regelmässig Lawinen künstlich aus. So auch vor zwei Tagen. Wegen der starken Schneefälle veranlasste Pajarola rund 80 Sprengungen. Im Extremwinter 1999 verbrauchte der Sicherheitsdienst der Parsennbahnen drei Tonnen Sprengstoff. Auch diesen Winter hat Pajarola bereits eine Tonne versprengt.

Inzwischen ist es 14 Uhr. Roland Meister hat seinen Arbeitsplatz von den Schneehängen im Parsenngebiet in den Lawinenwarnraum am Institut in Davos verlegt.

An den Wänden hängen Diagramme, Wetterkarten, alte Bulletins, Statistiken, Landkarten und Lawinenmeldeformulare aus den Bergregionen. Im Computer sind die neuen Daten der Beobachter und der automatischen Messstationen bereits abrufbar. Die Informatiker im Haus haben daraus Diagramme und Karten erstellt.

Meister, der um 15 Uhr die Sitzung zur Erstellung des nationalen Bulletins leiten wird, informiert sich nochmals. Bis zur Stunde sind zwei Lawinenniedergänge mit Personenbeteiligung gemeldet worden: Der erste Vorfall ereignete sich um 12.20 Uhr an einem Südwesthang am Parpaner Rothorn. Dort hat ein «Variänteler» ein Brett ausgelöst. Zum zweiten Niedergang kam es am Piz Dolf ob Laax, ausgelöst durch eine Tourengruppe. Auf beiden Meldeformularen ist vermerkt, dass der Unfall «glimpflich» ausgegangen sei. Also keine Schwerverletzten.

Gering, erheblich – oder gross?
An der Bulletinsitzung wird abgewogen, diskutiert und verglichen. Roland Meister, Sievi Gliott und Teamchef Thomas Stucki beugen sich über Diagramme und Karten.

Gliott erzählt von seiner Erkundungstour im Gelände. Er hat die gestern abgegangenen Lawinen inspiziert: «Ich glaube, da hat einer gleich zwei Lawinen ausgelöst.» Auf einer Karte zeigt er den beiden andern die genaue Abrissstelle und die wahrscheinliche Route des anonymen Skifahrers – wieder einer, der sich nicht gemeldet hat.

Doch welche Gefahrenstufe ist angebracht? «1» für gering, «2» für mässig, «3» für erheblich, «4» für gross oder gar «5» für sehr gross? Nach einigen Diskussionen beschliessen die drei Lawinenwarner, die Gefahrenstufe von erheblich auf mässig zu senken, mit dem Hinweis, dass in den Mittagsstunden die Lawinengefahr ansteigt.

Nun ist es an Roland Meister, das Bulletin zu verfassen und am Computer die dazugehörenden Karten zu generieren. Es gilt die richtigen Worte zu finden, um auf einer A4-Seite all das zusammenzufassen, was Tourengänger, Bergbahnbetreiber, Lawinendienste und Wintertouristen für den morgigen Tag wissen sollten. Punkt 17 Uhr kann Roland Meister das nationale Lawinenbulletin Nummer 74 übermitteln. Er meldet «mässige Lawinengefahr», aber: «Am zentralen und am östlichen Alpennordhang und in Nordbünden steigt die Lawinengefahr in den Mittagsstunden auf Stufe erheblich.»

Drei Tage nach dem Beobachter-Besuch kommt in Adelboden ein 29-jähriger Skifahrer abseits der gesicherten Pisten in einer Lawine ums Leben. Er ist das sechste Lawinenopfer dieses Winters.