Sind die Gottesdienste hierzulande einfach schlecht? Oder warum sind die Kirchenbänke in der Regel leer? Diesen ketzerischen Fragen stellten sich fünf Fachleute aus den Bereichen Rhetorik und Theologie: Sie sollten im Auftrag des Beobachters sieben Predigten beurteilen, die am Wochenende vom 16./17. Februar in verschiedenen katholischen und reformierten Kirchen gehalten wurden.

Erstaunliches Fazit: In den «Vorzeigekirchen» wie etwa im Zürcher Grossmünster wird den Gläubigen viel Schwerverdauliches zugemutet - aussergewöhnliche Predigten hört man eher in kleineren Kirchen wie beispielsweise in Lützelflüh im Emmental. Hätten die Experten eine Rangliste erstellen müssen, wäre die Sonntagspredigt von Pfarrer Stephan Bieri im Gotthelf-Dorf obenaus geschwungen. Ausgehend von einem Dialog zwischen Jesus, Maria und ihrer Schwester Martha, sinnierte er über Wellnessboom, Körperkult und Jugendwahn. Das habe zwar nur entfernt mit dem zitierten Bibeltext aus dem Lukasevangelium zu tun, meint Monika Jakobs, Leiterin des Religionspädagogischen Instituts der Universität Luzern. Aber immerhin war die Botschaft überraschend, und Bieri schaffte den Spagat zwischen der jahrtausendealten Bibel und der heutigen Lebenswelt der Gläubigen.

Und vor allem bot der Pfarrer rhetorisch einiges: Bieri modulierte seine Stimme, seine Sprache war konkret und bildhaft, er machte Pausen, damit die Zuhörenden eigene Gedanken entwickeln konnten. «Der Pfarrer spricht meine Sprache und wohl auch jene des Publikums», urteilt Thomas Skipwith vom Vorstand des Rhetorik-Clubs Zürich, «eine Wohltat!»

Monoton, zu lang, schwerverständlich

Das klingt selbstverständlich - ist aber offensichtlich nicht Alltag in Schweizer Kirchen. Nur sehr selten kreuzten die vom Beobachter beauftragten Fachleute auf dem Fragebogen den Punkt «Weitere Predigten dieses Pfarrers würde ich gern hören» an - im Fall von Lützelflüh taten das immerhin vier der fünf Experten. «Vielleicht lag es daran, dass es die einzige in Mundart gehaltene Predigt war», vermutet Musikproduzent Chris von Rohr.

Ganz anders der Eindruck in der «Zwingli-Kirche», im Grossmünster in Zürich. Satte 24 Minuten referierte der Pfarrer über den Hebräerbrief und den Zusammenhang mit der Verheissung. Viel zu lang, mit einer monotonen Stimme und gespickt mit Fachbegriffen. Nicht einmal den Theologen war am Ende klar, was die Botschaft hätte sein sollen. «Die Rede bleibt im elfenbeinernen Turm», meint Rhetoriker Skipwith. Es habe sich um eine Ferienvertretung durch einen pensionierten, fast 80-jährigen Pfarrer gehandelt, entschuldigt sich das Grossmünster-Pfarramt; der normale Standard sei höher.

Kaum besser das Fachurteil zur Sonntagspredigt im katholischen St. Galler Dom (Stiftskirche). Felix Büchi sprach über Ansgar, der im neunten Jahrhundert in Skandinavien missionierte, über seine eigene Tätigkeit in einer Pfarrei in Norwegen und über das Ansgar-Werk Schweiz, das den Katholiken in der nordischen Diaspora hilft. Der Zusammenhang blieb aber vage, er verlor zwischendurch den Faden. «Ein konkretes Beispiel zu Beginn zieht das Publikum viel mehr rein», so Kommunikationsberater Patrick Rohr, dessen Rhetorikratgeber im April im Beobachter-Buchverlag erscheint.

Keine guten Noten gabs auch für Pater Damian Mennemann, der in der als Wallfahrtsort bekannten Kapelle in Flüeli-Ranft darüber sinnierte, dass jeder Gottesdienst die Besucher ein Stückchen näher zu Gott bringe. Berge stünden in der Bibel für Orte, wo man Gott nahe sei, deutete der Pater die Verklärungsgeschichte im Matthäusevangelium. «Theologisch bleibt er an der Oberfläche», meint Professorin Jakobs, die sich zudem von seinem bedeutungsschweren, stockenden Redestil stark an eine Predigtparodie des deutschen Kabarettisten Hanns Dieter Hüsch erinnert fühlte. Die anderen Fachleute monieren, dass der Bibeltext zu wenig in die Gegenwart übersetzt worden sei.

«Predigt hat in den Bann gezogen»

Bei der Offenen Kirche Elisabethen in Basel halten sich Positives und Negatives die Waage: einfache Sätze, ein guter Einbezug der Zuhörenden, eine klare Botschaft - aber auch viele Wiederholungen und keinerlei Aktualitätsbezug, so das Fazit der Fachleute. Im Rahmen des monatlichen Gottesdienstes der Lesbischen und Schwulen Basiskirche sinnierte die reformierte Pfarrerin darüber, warum sich die drei Weisen aus dem Morgenland auf ihrem Weg zum Jesuskind so verlaufen konnten: weil sie ihr Ziel zu kennen glaubten und tagsüber eilten, statt sich nachts vom Stern Gottes führen zu lassen. Wer Gott finden wolle, müsse sich überraschen lassen und sich auf Gottes Tempo einlassen, so ihr Rat an das gute Dutzend Kirchgänger.

Nur wenig mehr Zuhörer waren es in der katholischen Kirche von Wassen UR, die jeder kennt, der schon einmal per Bahn durch den Gotthard gefahren ist. Pfarrer Karl Muoser rief auf der Grundlage einer Kampagne des Fastenopfer-Hilfswerks dazu auf, sich für eine gerechtere Welt einzusetzen. Die bildhafte Sprache, die konkreten Beispiele von Ungerechtigkeiten, der Appell an die Verantwortung jedes Einzelnen beeindruckten die Jury: «Die Predigt hat mich insgesamt in den Bann gezogen», so Albrecht Grözinger, Theologieprofessor an der Universität Basel.

Nicht immer sind aber die Predigten in kleinen Kirchen denen in den Vorzeige-Gotteshäusern überlegen. Zu abstrakt, ohne Bezug zur Lebenswelt der Gläubigen, ohne erkennbaren Aufbau, dafür mit Fachwörtern und komplizierten Sätzen wollte Pastoralassistent Petre Karmazicev den Gläubigen in der katholischen Kirche in Spreitenbach AG den Zusammenhang zwischen Fastenzeit, Verklärung Gottes und Tod erklären. Theologin Monika Jakobs kritisiert das negative Menschen- und Weltbild, das Karmazicev vermittle. Und Rhetoriker Thomas Skipwith bemängelt, die Predigt habe den Glauben nicht bestärkt, sondern im Gegenteil eher neue Zweifel gesät.

Der Spreitenbacher Pastoralassistent hätte gescheiter auf eine bessere Predigt eines Kollegen zurückgegriffen. Längst nicht jede Predigt, die am Sonntag auf der Kanzel gehalten wird, ist nämlich vom jeweiligen Pfarrer selbst geschrieben worden. Phantasielose Geistliche oder solche unter Zeitdruck können auf Vorlagen zurückgreifen. Die Deutsche Bibelgesellschaft etwa verkauft CD-ROMs mit 3000 vorwiegend von deutschen Pfarrern gehaltenen Predigten. Ein Mausklick zaubert den passenden Bibeltext auf den Bildschirm; ein zweiter Mausklick, und der computergewohnte Pfarrer hat aus der Vorlage eine eigene Predigt gebastelt.

Nach 31 Amtsjahren kommt Stephan Bieri, Pfarrer in Lützelflüh, zwar auch nicht mehr dauernd etwas Neues in den Sinn; die eingangs gelobte Predigt war seine insgesamt 1302te. Die Vorlagensammlungen nutzt er dennoch nur «als Steinbruch», um Ideen, Anregungen oder literarische Texte zu finden. Einen bis anderthalb Arbeitstage setzt er pro Predigt ein. «Abgeschrieben, wären das einfach nicht meine Worte.»

Quelle: Daniel Rihs