Der Spuk von Zimmerwald begann vor 100 Jahren. Vier Kutschen trafen am 5. September 1915 in Zimmerwald ein. Ihnen entstiegen 38 führende Sozialisten aus ganz Europa, getarnt als ornithologische Gesellschaft, weil sich Geheimdienste kaum für Vogelkundler interessieren. In der konspirativen Gruppe waren Männer, von denen manche Geschichte schreiben sollten: aus Russland Lenin und Leo Trotzki, aus der Schweiz Fritz Platten und Robert Grimm.

Zwei Kutschenstunden von Bern entfernt hielten die Männer in Zimmerwald eine internationale Konferenz ab, mit dem Ziel, den Weltkrieg zu beenden und den Klassenkampf voranzutreiben. «Im Ersten Weltkrieg war das Proletariat nur noch Kanonenfutter in den Schützengräben. Es war ein sinnloses Abschlachten», sagt die Berner Geschichtsprofessorin Julia Richers. Zusammen mit dem Basler Historiker Bernard Degen hat sie ein Buch über die Zimmerwalder Konferenz geschrieben, «Zimmerwald und Kiental – Weltgeschichte auf dem Dorfe» heisst es.

Lenin, mit bürgerlichem Namen Wladimir Iljitsch Uljanow, war vor der Konferenz allenfalls bei Exilrussen bekannt und galt als Sektierer. Er lebte zurückgezogen in Bern, vertieft in Bücher und Schriften. «In Zimmerwald hat er zum ersten Mal sein kleines Ghetto verlassen und ist als internationaler Führer in Erscheinung getreten», sagt der Historiker Bernard Degen.

Ohne Schweizer keine Revolution

Um Lenin herum bildete sich die «Zimmerwalder Linke» mit Karl Radek, Grigori Sinowjew und Fritz Platten. Sie blieben an der Konferenz in der Minderheit, Lenins Positionen wurden lediglich als «Vorbehalte» ins Protokoll aufgenommen. Es war der Berner Sozialdemokrat Robert Grimm, der die Konferenz 1915 organisiert hatte. Grimm erlangte später umstrittene Berühmtheit als führender Kopf des Schweizer Landesstreiks von 1918.

Es war ein cleverer Schachzug, die drei Dutzend Kriegsgegner ins abgelegene Zimmerwald zu bringen. In der Idylle waren die Sozialisten vor Spitzeln sicher und fielen als Ausländer nicht allzu sehr auf, da Zimmerwald mit seinem guten Blick auf Eiger, Mönch und Jungfrau ein kleiner Kurort war. «Grimm war ein brillanter Organisator und zudem ein gewaltiger Redner – vielleicht die grösste politische Persönlichkeit, die die Schweiz im 20. Jahrhundert gekannt hat», sagt Historiker Degen.

Lenin 1917 auf dem Titelblatt der «Schweizer Illustrierten Zeitung».

Quelle: Archiv Gemeinde Wald BE

Die Sozialisten tagten in der Pension Beau Séjour und debattierten und stritten bis in alle Nacht. Lenin und Grimm scharten ihre Gesinnungsgenossen um sich: Lenin die Hardliner, die für den revolutionären Umsturz kämpften, Grimm die Gemässigten, die den demokratischen Weg suchten. «Schurke», schrieb Lenin später über seinen Gegner Grimm.

In der Nacht des 9. Septembers wurde das gemeinsame Manifest verabschiedet. «Über die Grenzen, über die dampfenden Schlachtfelder, über die zerstörten Städte und Dörfer hinweg: Proletarier aller Länder, vereinigt euch!», proklamierten sie.

Knapp zwei Jahre später reiste Lenin mit seinen Genossen in einem Sonderzug durch deutsches Kriegsgebiet nach Russland. Grimm und Platten hatten den «extraterritorialen» Zug organisiert und die Erlaubnis des Bundesrats und der deutschen Heeresführung eingeholt (siehe Box). Im April 1917 erreichte die Gruppe Sankt Petersburg, und wenige Monate später führten sie die Oktoberrevolution an, übernahmen gewaltsam die Macht und errichteten einen neuen Staat: die «Diktatur des Proletariats». «Ohne diesen Zug – und damit ohne Zimmerwald, Grimm und Platten – hätte es die Russische Revolution ver-mutlich nicht gegeben», sagt Richers.

Historisch: Lenins Zug ab Zürich

Am 9. April 1917 verliess ein Zug mit russischen Revolutionsführern Zürich – mit Ziel Sankt Petersburg. Nach der gescheiterten Revolution von 1905 waren Lenin und andere Oppositionelle in die Schweiz geflohen. Als der Zar 1917 gestürzt wurde, versuchte Lenin, durch das Kriegs-gebiet nach Russland zurückzukehren. Zunächst verhandelte Robert Grimm, doch Lenin misstraute ihm und übertrug Fritz Platten die Führung. Die Deutschen stimmten zu, weil sie den Kriegsfeind Russland destabilisieren wollten.

Der Zug wurde zum staatenlosen Gebiet erklärt. Er durfte an keinem Zoll kontrolliert werden, keiner durfte die Wagen betreten oder verlassen. Er war aber nicht plombiert. Die Plombierung hatte man offenbar erfunden, um von der Kollaboration mit der deutschen Heeresleitung abzulenken. Eine Woche später erreichte der Zug Sankt Petersburg.

30 Jahre lang herrschte Ruhe in Zimmerwald. Am 3. Mai 1945 flatterte der erste Brief ins Haus der Gemeindeverwaltung. Ob man ihm etwas über die Konferenz von 1915 erzählen könne, schrieb ein Herr aus Lausanne.

Der Gemeindeschreiber antwortete prompt und unmissverständlich: «Als Gemeindeschreiber bin ich mit Arbeit derart überlastet, dass ich keine Zeit finde», und weiter: «Ich bin nicht geneigt, einem politischen Extremisten Material zu verschaffen, welches einer staatsfeindlichen Organisation Dienste leisten könnte.» In den nächsten Jahrzehnten erhielten die Zimmerwalder eine wahre Flut von enthusiastischen Postkarten und Briefen aus dem Osten, wurden mit «Genossen!» begrüsst und mit «sozialistischem Pioniergruss» verabschiedet.

Die Post kam nicht gut an. «Das Dorf war zutiefst antikommunistisch», sagt Julia Richers. Man antwortete mal aggressiv, mal trocken, mal gar nicht. «Es ist die Geschichte einer grossen unerwiderten Liebe im Kalten Krieg.»

Für die Kommunisten aus dem Osten war es schlicht undenkbar, dass man in Zimmerwald nicht genauso stolz auf den grossen Lenin war. «Jedes sowjetische Kind kannte Zimmerwald», sagt Richers. Auf sowjetischen Europakarten war manchmal in der Schweiz nur Zimmerwald vermerkt.

Kein Denkmal und kein Museum

Die Absender hatten eigentümliche Vorstellungen von der Schweiz. Viele Briefe richteten sich an die «Ureinwohner» des Dorfes, an die «Stadt» Zimmerwald oder den «Direktor des Lenin-Museums». Ein Lenin-Museum gab es jedoch nicht – und sollte es auch nie geben: Die Gemeinde liess das sogenannte «Lenin-Haus» abreissen und schrieb ein Denkmalverbot ins Baureglement, unter dem kuriosen Titel «Gesundes Wohnen». Später weigerte sich die Gemeinde, eine sowjetische Delegation zu empfangen, und verhinderte den Verkauf einer Liegenschaft an die russische Botschaft. «Es war wie ein Spuk, der Zimmerwald nicht mehr losliess, ein ernstes Problem», sagt Richers. Die Briefe und Postkarten aber warfen die Beamten nicht weg, sie lochten sie und legten sie in einen Bundesordner ab.

Post aus dem Osten landete auch via Satellitenschüsseln in Zimmerwald. Die Zentrale des Satellitenabhörsystems Onyx befindet sich noch immer im Dorf. 1986 installierte die Schweizer Armee die geheime Abhöranlage am Dorfrand, um Funksignale aus dem kommunistischen Feindesland abzufangen. «Der Lage wegen», sagt der Gemeindepräsident Fritz Brönnimann, «es gibt hier Richtung Osten keine Berge.»

Als sich die Konferenz 1965 zum 50. Mal jährte, war noch Brönnimanns Vater Gemeindepräsident. Er organisierte eine antikommunistische Gegenveranstaltung, damit bloss keine Genossen auf die Idee kamen, vor Ort eine Gedenkfeier zu organisieren. Heute weht in Zimmerwald ein anderer Wind. 100 Jahre nach der legendären Konferenz hat Brönnimann junior die Archive für Historiker und Journalisten geöffnet und an einer Ausstellung über die Konferenz mitgearbeitet. Zum Jahrestag hat der 62-Jährige eine Gedenkfeier organisiert. Es gebe heute noch Zimmerwalder, die sich für die Konferenz schämten, erzählt Brönnimann. «Sie murren über die Feier und sagen: ‹Da gibt es doch nichts zu jubilieren.›» Einige Bewohner nehmen die Geschichte ihres Dorfes inzwischen mit Humor: Sie spielen im Spassfussballklub «FC Lenin» und in der «Hot Lenin»-Jazzband.

Der Berner Robert Grimm hatte die Konferenz von Zimmerwald organisiert.

Quelle: Archiv Gemeinde Wald BE
Zimmerwald und die tödlichen Folgen

In der Sowjetunion überlebte keiner der Zimmerwalder Linken die «Säuberungen» unter Lenins Nachfolger Stalin. Der hatte sie zu Staatsfeinden erklärt und allesamt ermorden lassen. Der Schweizer Platten wurde an Lenins Geburtstag 1940 erschossen. Trotzki wurde im selben Jahr in Mexiko erschlagen, Sinowjew war bereits 1936 in Moskau hingerichtet worden. Nur Lenin, Begründer des Roten Terrors, war 1924 eines natürlichen Todes gestorben. Und wurde posthum zum Helden, der die grosse Revolution quasi im Alleingang gestartet hatte – in Zimmerwald bei Bern.