Dolores* geht. Als Erstes zum Freund. Als Zweites mit Irena in den Ausgang. Vor allem aber: weg von hier. Die beiden grossen Koffer sind bereits unten. Im Zimmer, das neun Monate ihr Zuhause war, stehen für die letzte Nacht nur noch eine kleine Tasche und ein Schminkkoffer. Es gibt wenige Schminkkoffer in Gadmen.

Noch über Mittag hat Dolores in der Gaststube serviert, im dunklen Deux-Pièces, mit weisser Bluse und hochgestecktem Haar. Sie hat gekonnt serviert, guten Appetit gewünscht und alle paar Minuten Wasser nachgeschenkt oder sich beim Gast nach Wünschen erkundigt. Wie eine ganz normale, freundliche Kellnerin in einem ganz gewöhnlichen Gasthaus.

Die «Alpenrose» ist kein gewöhnliches Gasthaus. Sie war es einmal, aber das ist lange her. Pächter kamen, wirteten ein paar Jahre, steckten mehr Geld hinein, als sie einnahmen, und gingen wieder. «Forellen, Poulets, Glaces» und «Zimmer, Chambres, Rooms» steht aus diesen Zeiten noch immer an der Aussenwand. Es ist schwierig, rentabel zu wirten in Gadmen am Sustenpass, 1200 Meter über Meer. An schönen Sommertagen, wenn schwere Töffs, Wohnmobile und lange Autoschlangen durch das Dorf in Richtung Uri lärmen, sind die Plätze auf der Terrasse zwar oft gut besetzt. In der übrigen Zeit aber finden nur wenige Touristen den Weg ins Gadmertal. Die Strasse endet dann 100 Meter hinter der «Alpenrose». Sieben, manchmal acht Monate ist es dann still in Gadmen. Sehr still.

Es ist der perfekte Ort für eine «Alpenrose», wie sie sich Matthias Hehl vorstellt. Jugendlichen in schwierigen Lebenssituationen eine neue Perspektive zu geben und gleichzeitig die Wirtschaft in einer Randregion zu stärken, diese Idee hatte «Mättu» schon seit einigen Jahren mit sich herumgetragen. 2004, noch in seinem ursprünglichen Beruf als Lehrer, begann er den geeigneten Ort dafür zu suchen. Ein Gasthaus sollte es sein, das die Jugendlichen mit Betreuern zusammen führen können, möglichst weit weg von der Stadt, in einer strukturschwachen Gegend. Matthias Hehl landete schnell einmal in Gadmen.

260 Einwohner, das Durchschnittsalter hoch, die Arbeitsplätze rar, die Post zu, die Buslinie ins zwölf Kilometer entfernte Innertkirchen von der Einstellung bedroht und die «Alpenrose» geschlossen.

Hehl schrieb an den Gemeinderat, durfte sein Projekt vorstellen – und musste erst mal Überzeugungsarbeit leisten: Man befürchtete Radaubrüder, Asoziale, «Drögeler» im Dorf. Eltern wähnten ihre Kinder in Gefahr. Schliesslich liess ein ganz simples Argument die Skeptiker verstummen: die Aussicht auf Menschen, die hin- statt wegziehen und vielleicht sogar Arbeitsplätze schaffen und Steuern bezahlen. Es war der 1. August 2006, als die erste Bewohnerin in der neu eröffneten «Alpenrose» eintraf.

Gepackte Koffer: Dolores verabschiedet sich von der «Alpenrose»

Quelle: Tomas Wüthrich
Zur letzten Chance verdonnert

Seither sind viele gekommen und wieder gegangen: junge Menschen, die eine Zeitlang aus ihrem gewohnten Umfeld hinausmüssen, um ihren Platz zu finden. Junge Menschen mit Problemen: keine Lehrstelle, kein Job, Stress in der Familie, Probleme mit der Polizei, Drogen. Sie kommen irgendwie freiwillig und irgendwie doch nicht, werden vom Sozialdienst oder vom Fürsorgeamt zugewiesen. Verdonnert, die letzte Chance hier oben im stillen Tal zu packen. Elf Jugendliche leben und arbeiten bei Vollbetrieb in der «Alpenrose».

Am langen Tisch in der Ecke der Gaststube sitzt ein Mann in Überkleidern und trinkt ein Feierabendbier. Allein. Im Winter ist unter der Woche wenig los. Ab und zu kommen Pensionierte auf einen Kaffee oder ein Bier, manchmal ein einsamer Schneeschuhwanderer, der sich im gemütlichen Raum aufwärmt. Dörfler finden den Weg nur selten hierhin. Zu abgelegen ist der Weiler Obermaad.

«Es hat gut getan hier», sagt Dolores und nimmt einen Schluck Prosecco. Sie feiert mit ihren Mitbewohnerinnen und -bewohnern der vergangenen Monate ihren letzten Abend.

Aamir, der Koch werden will, hat am Nachmittag unter Anleitung des Küchenchefs eine Fleischplatte angerichtet. Es gibt selbstgebackenes Brot, Prosecco und Orangensaft. Aamir und Erich spielen Billard.

«Dummheiten», habe sie gemacht, als sie keine Lehrstelle fand, sagt Dolores. «Ich hing nur noch herum und machte Sachen – mit Drogen und so.» Mehr will sie dazu nicht sagen. Über den Weg, der sie hierhin ins hinterste Gadmertal geführt hat, verliert keiner der jungen Menschen gern viele Worte. «Dummheiten» oder auch «illegale Aktivitäten», das muss als Erklärung für den Besucher reichen.

Von diesen Dummheiten sei sie in der «Alpenrose» losgekommen, versichert Dolores. Nun zieht sie in eine betreute Wohngemeinschaft und geht noch einmal zur Schule. Gelernt hat sie hier oben auch im individuellen Lerncoaching, wo sie mit Hilfe einer Lehrerin selber gesteckte Ziele erarbeitet hat, und im «ABU», im «allgemeinbildenden Unterricht», der einmal pro Woche auf dem Programm steht. Und gelernt hat sie im Betrieb der «Alpenrose», im Gastrokurs bei Thomas Infanger, dem «Gastgeber». Die Gläser auf dem Tisch richtig ausrichten, Servietten perfekt falten, Betten beziehen, Handtücher bereitlegen, die sechs einfachen Gästezimmer putzen – was es halt so braucht, wenn zahlende Gäste im Haus sind. Nun hofft Dolores auf eine Lehrstelle als Hotelfachangestellte.

Aamir will Koch werden

Quelle: Tomas Wüthrich

Für die Teilnehmer im Wirtshaus gelten strikte Regeln: Betreuer Simon Blaser mit Irena bei der wöchentlichen Zimmerkontrolle

Quelle: Tomas Wüthrich
Wenn Irena Stress hat, wird es laut

Irena findet es überhaupt nicht gut, dass Dolores geht. Sie ist sauer, denn Dolores ist ihre beste Freundin hier. Und Selim, Irenas Freund, ist auch nicht da. Er wurde für eine Woche ausquartiert auf einen Bauernhof weiter unten im Tal, weil die beiden sich ständig in den Haaren lagen. Dolores auf dem Absprung, Selim weg – das ist Stress für Irena. Sie pflügt durch den Internatstrakt der «Alpenrose», rein in ihr Zimmer, raus aus dem Zimmer, wieder hinein. «Schiisst mi aa!» – die Zimmertür knallt hinter ihr ins Schloss. Die Hip-Hop-Bässe, die schon vorher kräftig gewummert haben, dröhnen noch einmal lauter aus ihrer Stereoanlage.

Es ist neun Uhr abends, und es ist Donnerstag: Zimmerkontrolle. Einmal pro Woche überprüft ein Mitglied des fünfköpfigen Teams von Sozialpädagogen die persönlichen Wohnräume der Teilnehmer. Es wäre ein Job für einen Feldweibel, doch Simon Blaser ist keiner. Der 30-jährige Lehrer und Sozialpädagoge arbeitet als Betreuer in der «Alpenrose». Fragte man seine Schützlinge, würde «Simu» wahrscheinlich nicht so schlecht abschneiden. Immer ein Lachen im Gesicht, etwas zwischen Kumpel und Vorgesetztem, immer freundlich. Jetzt gerade allerdings sorgt er für Ärger.

Mit einer Liste kontrolliert er Zimmer um Zimmer. Es ist eine pingelige Liste: Bettwäsche gewechselt? Ein Haken auf der Liste. Lavabo geputzt? Ein Haken. «Hast du den Boden tatsächlich feucht aufgenommen?» Erichs Blick verfinstert sich. Erich, 21, ist seit sechs Wochen hier. Wenn er es nicht packt, dann bekommt er Ärger, «mit dem Regierungsstatthalter», und das will er nicht. Das würde die Lehrstelle gefährden, die er in Aussicht hat. Also lässt er die Kontrolle über sich ergehen. Widerwillig. «Klar habe ich feucht aufgenommen.» – «Zeig mal deine Nase. Okay, du sagst die Wahrheit.» Simon lacht, Erichs Blick wird noch eine Spur finsterer. Und als Simon auch noch in die Schubladen schauen will und sich wundert, dass von den vom Arzt verschriebenen Tabletten schon wieder so viele weg sind, wird Erichs Kopf endgültig rot. Simon steckt das Döschen ein: «Da reden wir morgen darüber, gäll!» Erichs Nacken spannt sich an. Er nickt und blickt aufs Bett. Der Duvetanzug zeigt einen Palmenstrand.

Erichs Wut verraucht nicht so schnell. Um halb acht Uhr morgens ist sie immer noch da, und der obligatorische Morgenspaziergang vor dem Frühstück ist sowieso nicht sein Ding. Es schneit, es stürmt im Gadmertal. Erich stapft der Gruppe voraus wie ein wütender Stier.

Breites Spektrum: Einmal in der Woche steht Allgemeinbildung auf dem Lehrplan.

Quelle: Tomas Wüthrich
«Ich bin froh, bin ich da raus»

Alain steht um diese Zeit bereits in Nessental, ein paar Kilometer unterhalb von Gadmen, im Stall und putzt den Schorgraben. Die letzten drei Jahre hat er Tag und Nacht gemeinsam mit anderen aus seiner «Gilde» die Heimat gegen die «untoten Schrecken der Geissel» verteidigt, immer auf der Suche nach neuen Quellen «arkaner Energie». Alain war eine «Blutelfe» in «World of Warcraft», einem Fantasy-Gemetzel im Internet. Aus dem Haus ging er höchstens, um neue Energy-Drinks zu besorgen. Oder für die Termine beim Sozialamt. Manchmal wachte er mit dem Kopf auf der Tastatur auf. Nun putzt er seit zwei Wochen Klauen, füttert Kühe, repariert Zäune. Er geht früh ins Bett und steht um sieben Uhr auf.

«Es geht gut», sagen Thomas Bircher und Angelika Schöneborn, das Bauernpaar, bei dem der 23-Jährige untergekommen ist, und Alain sagt: «Ich bin froh, bin ich da raus. Was ich in den letzten drei Jahren trieb, war nicht mehr real.» Nur das Internetverbot, das ihm sein Betreuer auferlegt hat, das stört ihn.

Birchers Hof gehört zum Netzwerk, das «Alpenrose»-Initiator Matthias Hehl und sein Geschäftspartner André Wernli mit ihrer Firma Qualifutura in den vergangenen vier Jahren im Oberhasli gesponnen haben. Ihr Ziel, Jugendliche in die Arbeitswelt zu integrieren und gleichzeitig in dem engen Tal wirtschaftliche Perspektiven zu schaffen, kommt an. Die Betriebe sind froh um die Praktikantinnen und Praktikanten, die sie von kleinen Arbeiten entlasten, die Teilnehmer der Qualifutura-Projekte können Erfahrungen sammeln: was es heisst, pünktlich zur Arbeit zu erscheinen zum Beispiel oder zuverlässig zu arbeiten, nicht davonzulaufen.

Der Weg zu einem Praktikum führt meist über die «Alpenrose». Erst wer ein paar Wochen oder Monate im Internat in Gadmen gelebt und sich dort bewährt hat, wird schrittweise in die Arbeitswelt begleitet, zuerst vielleicht für zwei Tage pro Woche in einem Betrieb im Tal, später für mehr. Eine Garage, eine Bäckerei, eine Coiffeuse im Tal machen mit, und selbst die Kraftwerke Oberhasli bieten Praktikumsplätze an. «Man hat uns hier im Tal akzeptiert», sagt Matthias Hehl. Und etwa 60 Prozent der Teilnehmerinnen und Teilnehmer würden sich dank ihrem Aufenthalt in der «Alpenrose» ins Berufsleben integrieren. Und das – dieser Punkt ist Matthias Hehl wichtig – «ohne Subventionen!». Finanziert werden die Plätze in der «Alpenrose» und in den übrigen Qualifutura-Projekten durch die zuweisenden Sozial- und Jugendämter und die Vormundschaftsbehörden. Die «Alpenrose» allein kommt so auf einen Umsatz von 1,2 Millionen Franken pro Jahr. Das ist viel Geld in Gadmen, wo das Gemeindebudget 1,6 Millionen beträgt.

Gemeindepräsidentin Barbara Kehrli ist denn auch des Lobes voll über das Projekt – und Präsidentin des Vereins «Alpenrose». Ein Spagat sei das nicht, sagt Kehrli. Die Probleme, die man in der Gemeinde einst befürchtete, seien weitgehend ausgeblieben, die «Rose» sei mittlerweile der grösste Arbeitgeber im Dorf: «Die jungen Leute bringen Leben ins Tal.»

Für die elf Teilnehmerinnen und Teilnehmer ist es ein Leben auf Zeit in der Enge zwischen den hohen Felswänden von Gadmerflue und Radlefshorn. Sechs, manchmal neun oder zwölf Monate verbringen sie hier, fassen im Idealfall wieder den Tritt, den sie vorher verloren hatten. Es ist ein entschleunigtes Leben auf Zeit, auch während des Aufenthalts: Am Wochenende gehts für 48 Stunden nach Hause. Zurück bleiben nur ein Betreuer und zwei Teilnehmer, die über das Wochenende für den Betrieb im Gasthaus zuständig sind.

«Super Lösung, Erich, ganz cool!»

Auch Erich fährt heim. Sein Blick ist nicht mehr so düster wie am frühen Morgen. Er sprach nach dem Mittagessen in seinem wöchentlichen «Bezugspersonengespräch» über eine Stunde mit Simon. Und er hat sein Pillendöschen wieder. Nicht einfach so. Er hat für Simon eine Liste geschrieben, auf der exakt aufgeführt ist, wann er bis Mitte Jahr wieder neue Pillen braucht. Schluckt er mehr, so verwaltet Simon die Medikamente. «Super Lösung, Erich, ganz cool!», hat Simon zu diesem Vorschlag gesagt. Und Erich hat aufgeblickt und ganz kurz ein klein wenig gelächelt.

Neben der Arbeit darf auch der Spass nicht zu kurz kommen: «Alpenrose»-Initiator Matthias Hehl (Mitte) am Abschiedsabend für Dolores

Quelle: Tomas Wüthrich