Strich durch die Rechnung
Die Stadt Olten wollte ihren Strassenstrich aufheben – und hat sich neue Probleme eingehandelt: aggressive Freier, gefährdete Dirnen.
Veröffentlicht am 12. April 2005 - 11:45 Uhr
Freitagabend an der Haslistrasse im Industriegebiet von Olten, die Uhr am Armaturenbrett des geräumigen VW-Busses zeigt fünf Minuten vor Mitternacht. Seit einer Stunde steht der Bus des Vereins Lysistrada unter einer Strassenlaterne am Rande eines abgesperrten Fabrikareals. Im Innern des Wagens haben Tatiana Waeber und ihre Kollegin soeben Kaffee und Tee auf den Tisch gestellt, als eine dunkelhäutige Frau anklopft. «Mais ce qu’il fait froid!», sagt Alice (Name geändert) und setzt sich auf einen Hocker. Heute sei kein guter Tag; die Kälte sei «horrible», die Männer wollten nur schauen, aber kaum ins Geschäft kommen. Ansonsten mag die Afrikanerin nicht mit der Presse sprechen.
Seit einem halben Jahr fährt Waeber mit dem Frauenbus auf den Oltner Strassenstrich, um die Sexarbeiterinnen zu betreuen. Getränke und Präservative werden abgegeben und dabei auch Probleme und Sorgen besprochen. Und davon gibt es im Moment reichlich: Per 1. Januar 2005 hat der Stadtrat einen Beschluss von 1992 aufgehoben, der die Prostitution an die Industriestrasse zuwies. In den neunziger Jahren bildete sich dort «der längste Strassenstrich der Schweiz»; zu Spitzenzeiten standen 70 Frauen am Wegrand, gegen 1000 Autos fuhren pro Nacht vor. Andreas Kohler, Dienstchef Sicherheit bei der Stadtpolizei, erinnert sich: «An Wochenenden gab es oft Stau, da fuhren die Freier im Stossverkehr dem Strich entlang. Und die Dirnen kamen aus der ganzen Schweiz nach Olten.»
Damit ist jetzt Schluss: An der Industriestrasse stehen nun Fahrverbotstafeln, zwischen 20 und 5 Uhr ist nur mehr «Zubringerdienst» gestattet. Wer sich nicht dran hält, muss mit einer Busse rechnen. Mit der Aufhebung der zugewiesenen Strichzone wolle Olten «sein Image als Sündenmeile ablegen und für Investoren attraktiver werden», sagt Doris Rauber, Direktorin für öffentliche Sicherheit. Denn: Exakt an der Industriestrasse planen die Firma Gerolag einen Businesspark und die SBB ein Verwaltungszentrum; es winken Investitionen von 40 Millionen Franken und Hunderte von Arbeitsplätzen. Der Geldsegen wurde an die Bedingung geknüpft, dass zuvor das erotische Nachtprogramm verschwinden müsse.
Die Freier drücken die Preise
Verschwunden ist der Strich aber keineswegs – er hat sich nur ein paar Meter verlagert. Tatiana Waeber steigt aus dem Bus und blickt auf die Haslistrasse. Ein Auto nach dem andern fährt durch, die Nummernschilder bunt gemischt von AG über BL bis LU, SO, ZH. «Das Vorspiel» nennt Waeber das Rauf und Runter des Autokorsos schmunzelnd. Aus einer nahen Diskothek tönt gedämpfte Latin-Musik, auf dem Parkfeld davor stehen auffällig viele Wohnmobile mit verdunkelten Scheiben. Der Strasse entlang sind etwa ein Dutzend Frauen auszumachen, die in der Kälte auf und ab gehen. «Ein Strassenstrich lässt sich nicht einfach in Luft auflösen», sagt Waeber, es gebe eine Nachfrage – und also auch ein Angebot. Und: «Man kann über den Strich geteilter Meinung sein, aber die Arbeit der Frauen ist legal. Sie verdienen damit ihr Leben.»
Ähnlich argumentiert Stadtpolizist Kohler. Seit den siebziger Jahren ist er in Olten, einen Strich habe es immer gegeben. Zuerst beim Amtshaus, dann wurde 1992 die Polizeiverordnung geändert, der Strich ins Industriegebiet verlegt und amtlich abgesegnet. Zur Sicherheit der Frauen installierte die Stadt damals Videokameras – ein Novum in der Schweiz. Dass sich der Strich nun einfach aus dem Staub mache, daran können, so Kohler, «nur Fantasten» glauben: «Was wir an einem Ort verbieten, wird sogleich anderswo gemacht.»
Die Behörden sind anderer Meinung. In einer Mitteilung Ende 2004 hiess es: «Der Stadtrat wird die Bildung eines neuen Strassenstrichs zu verhindern suchen. Allfällige Ansätze zu einer Verlagerung der Szene werden von der Polizei unterbunden.» Zwar gibt Stadträtin Rauber zu, dass der Strich in reduziertem Ausmass an die Haslistrasse ausgewichen sei, doch werde man das Problem in den Griff bekommen. Am Grundsatz der repressiven Politik wolle man nicht rütteln: «Wir haben den Strich erfolgreich aufgelöst und werden sicher nicht wieder eine neue Zone bezeichnen.»
Wers glaubt, zahlt einen Taler; wer nicht, noch ganze 30 Franken – für französisch. Der Markt hat längst auf die Schliessung reagiert und seine Spielregeln angepasst – zum Nachteil der Sexarbeiterinnen. Die drogensüchtigen Frauen sind zwar wegen der Polizeipräsenz gänzlich verschwunden, ebenso die illegalen. Doch weil der Strich nun kleiner ist, habe sich der Konkurrenzkampf unter den verbliebenen Frauen massiv verschärft, erzählt Carolina (Name geändert). Die Argentinierin fährt seit Jahren von Zürich nach Olten, um den Lebensunterhalt für sich und ihren arbeitslosen Mann zu verdienen. An der Industriestrasse habe das gut funktioniert; innert zweier Wochen habe sie das Geld für Miete, Essen und Krankenkasse jeweils beisammen gehabt. Nun geht sie viermal die Woche nach Olten – und verdient doch nicht genug. «Ich habe Schulden, es wird immer schwieriger.»
An der Haslistrasse müssen die Frauen um die besten Plätze kämpfen, das Angebot ist grösser als die Nachfrage: Für oralen Service wollten viele Freier nur noch 30 Franken bezahlen, sagt Carolina, manche wollten Verkehr für 50 statt 100, andere verlangten Sex ohne Gummi. Ständig tauchen neue Frauen auf, die sich noch billiger verkauften, manche werden von Zuhältern hergefahren. Bereits haben einzelne Eigentümer im Gebiet Haslistrasse das Geschäft gewittert: Sie vermieten den Frauen Parkplätze für bis zu 500 oder Absteigen in einer Baracke für bis zu 1500 Franken pro Monat – dieses Geld müssen die Frauen zusätzlich einnehmen. Im Stundenhotel kostet das Zimmer 35 Franken pro Viertelstunde.
«Dann werden sie wütend»
Weil die Stadt keine Videoüberwachung mehr montieren will und die Beleuchtung am neuen Ort schlechter ist, hätten viele Frauen Angst, sagt Carolina. Der Strich sei zu klein, für den Service weiche man oft in dunkle Seitengassen aus. Früher hätten die Frauen immer in Hörweite zueinander gearbeitet, um sich bei Gefahr helfen zu können – dies sei nicht mehr möglich. Und weil die Männer die Preise drückten, habe die Aggression zugenommen: «Sie wollen, dass ich für 50 alles mache. Wenn ich Nein sage, werden sie wütend.»
Der Strich wird sich in der warmen Jahreszeit wieder vergrössern. Damit rechnete auch Polizist Kohler. Doch die Politiker schliessen vor dieser Realität die Augen: Die Stadt wolle ja nichts tun, um den Strich am neuen Ort zu akzeptieren, sagt Tatiana Waeber: «Nicht einmal Abfallkübel werden aufgestellt, wo man Kondome entsorgen könnte.» Resultat: Der herumliegende Müll heizt die negative Stimmung gegen die Strichfrauen zusätzlich an.
Zudem führe die Polizei «mühsame Kontrollen» durch, sagt Iris Schelbert-Widmer, die als Gemeinderätin der Grünen einen Vorstoss im Parlament lanciert hat und die Schliessung als «unüberlegten Schnellschuss» bezeichnet. Die Freier müssen ihren Ausweis zeigen und ins Röhrchen blasen. Die Autos werden auf Mängel überprüft. Diese Repression kostet einiges an Steuergeldern; allein für Absperrungen und Signaltafeln waren 20'000 Franken nötig – so viel, wie der Frauenbus Lysistrada von der Stadt für ein ganzes Betriebsjahr erhält. Die Kosten der Polizeipräsenz (rund 900 Personenkontrollen im Januar) sind noch nicht beziffert. Doch schon heute sei klar, dass die Rechnung nicht aufgehen werde, meint Schelbert: «Die Frauen arbeiten unter viel schlechteren Bedingungen; aber ich denke, sie haben letztlich den längeren Schnauf als die Stadtkasse.»
Es brauche eine Grundsatzdebatte über den Strich, den man als «Teil unserer Gesellschaft» akzeptieren müsse, wie Iris Schelbert-Widmer sagt. Solche Impulse landeten bisher in der Schublade – die Sexarbeiterinnen sehen sich gezwungen, auf andere Städte auszuweichen. Es sei aber schwierig, in Bern, Thun oder Luzern zu arbeiten, sagt Carolina, weil das Milieu von Zuhältern abgeschirmt werde. Ein Salon komme für die meisten nicht in Frage, die Fixkosten wären zu hoch. Einen anderen Job findet Carolina, gelernte Krankenpflegerin, auch nicht; der Arbeitsmarkt sei ausgetrocknet. «Wenn es so weitergeht», sagt sie, «bleibt nur noch das Sozialamt.»