Fast jeder dritte Schweizer wird einmal in seinem Leben psychisch krank – und es werden immer mehr. Allein im Kanton Zürich nahm die Zahl der Psychiatriepatienten seit 1991 um rund 40 Prozent zu. In der Psychiatrischen Universitätsklinik verdoppelte sich die Zahl der Eintritte sogar. Die Akutstationen sind in Spitzenzeiten zu mehr als 100 Prozent belegt. Dann müssen zusätzliche Betten in den Zweierzimmern oder in den Gängen aufgestellt werden.

Ähnlich ist die Situation in den Psychiatrischen Universitätskliniken in Basel und Bern. Auch hier sind die Akutstationen seit geraumer Zeit überbelegt.

Ein Blick auf die Patientenstatistik zeigt: Drei Viertel aller Akutpatienten der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich sind erwerbslos, und auch der Anteil der Suchtkranken ist gestiegen. Viele Patienten kommen aus anderen Kulturkreisen und haben mit Migrationsproblemen zu kämpfen. Eine wachsende Zahl von psychisch Kranken lebt vereinsamt ohne jegliches soziales Beziehungsnetz.

«Immer mehr psychiatrische Probleme treten in Kombination mit sozialen auf», sagt Daniel Hell, ärztlicher Direktor der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich. Zwar fehlen wissenschaftliche Studien, die einen direkten Zusammenhang zwischen gesellschaftlichen Problemen und psychischen Erkrankungen herleiten. Nachgewiesen ist aber der Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit und Suchtkrankheiten oder Depressionen.

Drastisch formuliert: Wird die Psychiatrie zum Auffangbecken all jener, die in unserer stromlinienförmigen Leistungsgesellschaft nicht mehr mithalten können? «Die Psychiatrie soll immer dann eingreifen, wenn man mit den gesellschaftlichen Problemen nicht mehr fertig wird», sagt der Arzt und Psychiatriekritiker Marc Rufer. Und Adriano Vasella, Leiter Fachbereich Psychosoziales der Stiftung Pro Mente Sana, kritisiert: «Hier besteht eine Schwäche des Systems. Die Patientinnen und Patienten landen in der Psychiatrie aus Mangel an Alternativen. Niemand sonst fühlt sich für sie zuständig.»

Mit dieser Situation sind auch die Ärztinnen und Ärzte nicht glücklich. «Wir stehen ganz am Schluss der Kette», sagt Fritz Ramseier, stellvertretender Chefarzt der Psychiatrischen Klinik Königsfelden AG. «Bei uns landen alle möglichen Menschen, für die es in der Gesellschaft keinen Platz mehr hat – von der verzweifelten Asylbewerberin bis hin zum verwirrten Aidskranken. Viele von ihnen kommen unfreiwillig, und wir sind verpflichtet, sie aufzunehmen.»

Doch wie meistern die Kliniken den Zuwachs auf ihren Akutstationen? «Da die Patientinnen und Patienten zunehmend komplexere Krankheitsbilder haben, wird auch die Behandlungssituation komplizierter», sagt Daniel Hell. «Es bräuchte mehr Abklärung, mehr Betreuung, mehr Abstimmung mit Angehörigen und externen Therapeuten und Kostenträgern.»

Zudem häufen sich die administrativen Arbeiten, die das Klinikpersonal bewältigen muss – und das bei gleichbleibendem Personalbestand.

Mit rund 230 offenen Stellen besonders akut ist die Personalsituation im Kanton Zürich, wo das psychiatrische Fachpersonal schlechter verdient als in den umliegenden Kantonen. In der Klinik Hard in Embrach ZH zum Beispiel reagierte das Personal im April mit einer Kündigungswelle auf die unbefriedigende Lohnsituation und den Berufsstress. Zunehmend gewalttätige Patienten beschleunigen das berufliche Burnout.

Viele Psychiatriepflegerinnen und -pfleger beschreiben ihre Arbeit als eine Gratwanderung zwischen Befriedigung und Frustration. Da die durchschnittliche Verweildauer auf den Stationen immer kürzer wird und immer mehr Patientinnen und Patienten eintreten, hat das Pflegepersonal kaum mehr Zeit für eine eingehende individuelle Betreuung. «Ich fühle mich oft wahnsinnig hilflos», klagt ein Pfleger.

Kranke werden abgeschoben
Sparen heisst das Gebot der Stunde – und das hat qualitative Konsequenzen. «Natürlich hat diese Kostenpolitik einen Einfluss auf die Behandlung», sagt Daniel Hell von der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich. Die Krankenkassen üben Druck aus, damit die Hospitalisationszeit möglichst kurz ist.

Die Folge: Seit einigen Jahren werden schweizweit die Langzeitabteilungen in den psychiatrischen Kliniken abgebaut und die Patienten in Wohnheimen untergebracht. Es findet eine Verlagerung der Kosten von den Krankenkassen zu andern Sozialversicherungen statt. So verzeichnete etwa die Invalidenversicherung (IV) zwischen 1985 und 1995 eine Zunahme der Rentenbezügerinnen und -bezüger von 148'000 auf 207'000 – das sind rund 40 Prozent mehr!

Auch der Anteil der Erwerbslosen unter den IV-Bezügerinnen und -Bezügern ist in den letzten sieben Jahren markant angestiegen. Ebenfalls stark zugenommen hat die Gruppe der Rentenbezüger mit psychischen Krankheiten: Sie macht inzwischen rund 30 Prozent aus.

Während die Zahl der chronisch Kranken in den psychiatrischen Kliniken kontinuierlich abnimmt, boomt die Akutpsychiatrie. Hier werden die Patientinnen und Patienten so kostengünstig wie möglich behandelt.

«Die Aufenthaltsdauer der Patientinnen und Patienten soll dank fortentwickelter Behandlungsmethoden sowie wirksamerer und besser verträglicher Medikamente verkürzt werden», sagt Fritz Jenny, Direktor der Psychiatrischen Universitätsklinik Basel. In der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich beispielsweise beträgt die durchschnittliche Behandlungsdauer nur noch 27 Tage.

Fortschrittliche Psychiatriekonzepte wie jene der Kantone Basel und Zürich zielen darauf ab, die Kliniken zu entlasten und kleinere, patientennähere Einheiten zu fördern. An sich ist eine kurze Hospitalisationszeit wünschenswert – auch für die Patientinnen und Patienten.

Voraussetzung dafür ist jedoch eine gut funktionierende Infrastruktur ausserhalb der Kliniken. Doch vielfach mangelt es an Tagesheimen, Tageskliniken und ambulanten Behandlungsmöglichkeiten.

Der Druck in den psychiatrischen Akutstationen ist immens. «Die Auflage, innert kürzester Zeit Krankheiten zu heilen, erzeugt einen Behandlungsdruck, der den Bedürfnissen der Patientinnen und Patienten oft widerspricht», sagt Daniel Hell, «denn diese kommen unter anderem auch zu uns, weil sie hoffen, hier Raum und Zeit zu finden. Die psychiatrische Klinik soll nicht den Druck von aussen widerspiegeln, denn das schmälert den Behandlungserfolg.»

Wenn schnelle Lösungen nachhaltigen Konzepten vorgezogen werden, steigt auch die Zahl der Wiedereintritte – der sogenannte Drehtüreneffekt. In den USA würden unter dem zunehmenden Kosten- und Zeitdruck wieder mehr Elektroschocktherapien durchgeführt, sagt Daniel Hell: «Es besteht die Gefahr, dass in der Psychiatrie vermehrt wieder ruhig gestellt statt behandelt wird.»

Pillen statt Gesprächstherapie
Das ist nicht zuletzt auf die «biologische» Ausrichtung der modernen Psychiatrie zurückzuführen. Die sogenannte Sozialpsychiatrie, die die Ursachen für psychische Erkrankungen vorwiegend im gesellschaftlichen Umfeld des Patienten ortet, hat heute stark an Bedeutung verloren.

Auf dem Vormarsch ist jene Richtung der Psychiatrie, die psychische Krankheiten als Hirnfunktionsstörungen begreift und pharmakologische Behandlungsmethoden favorisiert.

Allein in den letzten sechs Jahren verdreifachte sich der mit Psychopharmaka erzielte Umsatz der Apotheken auf über 130 Millionen Franken. Eine Entwicklung, die auch den Krankenkassen Sorgen bereitet. Laut dem Konkordat der schweizerischen Krankenversicherer sind die Kosten für ambulante ärztliche Psychotherapie und Medikamente zwischen 1993 und 1997 von 211 auf 280 Millionen Franken gestiegen.

Tabletten statt Gesprächstherapie: Dieser Trend wird auch von der Pharmaindustrie gefördert. Wen wunderts: Die Pharmamultis haben ein existenzielles Interesse an der flächendeckenden Verbreitung ihrer Produkte, denn die Entwicklung eines neuen Medikaments kostet zwischen einer halben und einer Milliarde Franken.

Dabei wird zurzeit über kaum einen Aspekt in der Psychiatrie so intensiv gestritten wie über den Umgang mit Psychopharmaka. «In Fachkreisen wird sogar diskutiert, ob die "Seelenärzte" neu nicht als "klinische Neurowissenschaftler" bezeichnet werden sollten», sagt der Psychiatriekritiker Marc Rufer, «denn die psychischen Probleme werden heute einfach auf biochemische Vorgänge reduziert.»

Dem setzen andere Stimmen entgegen, dass ein massvoller Einsatz von Medikamenten durchaus sinnvoll sein kann: «Heutzutage muss man als Sozialpsychiater die medizinische Entwicklung kennen und nutzen. Medikamente gehören ganz einfach zu einer psychiatrischen Behandlung – allerdings nicht im Sinne einer allein selig machenden Lösung», sagt Wulf Rössler, Direktor der Zentralen Sozialpsychiatrischen Dienste in Zürich.

Für Marc Rufer besteht die grösste Gefahr in der Bevorzugung des pharmakologischen Wegs darin, dass dabei andere Lösungsansätze verloren gehen: «Wer seine Depression ausschliesslich mit Medikamenten bekämpft, muss sich nicht mit sich selbst befassen. Das gilt generell für krankmachende Situationen. Auch bei der Arbeitslosigkeit zum Beispiel werden keine Anstrengungen unternommen, um etwas zu verändern.»

Der Frust der Angestellten wächst
Gibt es ein Entrinnen aus der Kosten- und Zeitdruckspirale? «Wir sollten die Psychiatrie als personalintensiven medizinischen Bereich anerkennen und die Sparvorgaben vehement zurückweisen», sagt Adriano Vasella von der Stiftung Pro Mente Sana.

Rund 75 Prozent der Kosten in der Psychiatrie entfallen auf das Personal. Im Durchschnitt aller medizinischen Bereiche sind es lediglich 17 Prozent. Adriano Vasella: «Aus diesem Grund treffen Personaleinsparungen die Psychiatrie sehr viel stärker als zum Beispiel die hochtechnisierte Apparatemedizin.»

Tatsächlich wächst die Frustration bei den Angestellten. So haben zum Beispiel die psychiatrischen Kliniken im Kanton Zürich der Gesundheitsdirektion unlängst einen Forderungskatalog überwiesen. Verlangt werden mehr Akutbetten, mehr Personal und bessere Anstellungsbedingungen.

Darüber hinaus braucht es aber auch Weiterbildungsmöglichkeiten im Bereich der «transkulturellen Psychiatrie», um den besonderen Problemen von ausländischen Patientinnen und Patienten gerecht zu werden. Und schliesslich auch einen Ausbau der ambulanten und teilstationären Einrichtungen: «Man kann nicht die Hospitalisationszeit verkürzen, ohne ausserhalb der Klinik Auffangnetze bereitzustellen», sagt Daniel Hell.

Doch das Dilemma der Psychiatrie ist nicht nur ein finanzielles. «Es braucht generell mehr Vernetzung», sagt Adriano Vasella. Nur die Zusammenarbeit verschiedener Institutionen könne verhindern, dass Menschen überhaupt zu «psychiatrischen Fällen» werden. «Gefordert sind alle», sagt Daniel Hell, «vom Politiker über den einzelnen Arzt bis hin zu den Angehörigen.»

Wirtschaft muss sozialer werden
Auch von Seiten der Wirtschaft ist mehr soziale Verantwortung gefragt. Adriano Vasella: «Geschützte Arbeitsplätze sind der Rezession zum Opfer gefallen. Die Bereitschaft der Arbeitgeber, auf psychisch Angeschlagene Rücksicht zu nehmen, ist geschwunden.»

Die Weltgesundheitsorganisation WHO prognostiziert eine Zunahme der psychisch Kranken um 50 Prozent bis zum Jahr 2020. «Langfristig kommen wir nicht darum herum, psychische Erkrankungen in einem gesamtkulturellen Zusammenhang zu sehen», sagt Daniel Hell. «Die Psychiatrie wird ihre Probleme nicht allein lösen können.»