Gedränge im Zürcher Volkshaus. Rund 300 Zuschauer sind im Saal, nur ganz hinten sind noch Plätze frei. Für einmal findet hier kein Rockkonzert statt, auch Gewerkschafter machen sich rar an diesem Abend. Gegeben wird das Musical «Lemuel – der Mann zwischen Himmel und Erde».

Auf der Bühne stehen 15 Personen, darunter auch Kinder. Das Bühnenbild wirkt handgestrickt. Das Publikum scheint dies nicht zu stören. Hauptdarsteller ist Ivo Sasek: einst Automechaniker, heute Chef von Obadja. Die konservativ-christliche Gruppierung zählt rund 1000 Mitglieder. Ihre Ideologie: Die Familie ist zentral, Frau und Kinder sind dem Mann untertan.

«Lemuel» wird auch in Chur aufgeführt. Ausserdem führt die Tour durch Süddeutschland. Bereits letztes Jahr stand der zehnfache Vater mit seiner Familie auf der Bühne und gab eine Eigenproduktion zum Besten. Damals geriet Sasek auch mit der Justiz in Konflikt, weil er die Züchtigung von Kindern mit der Rute als legitimes Erziehungsmittel propagierte.

Sasek betreibt im appenzellischen Walzenhausen das «Panorama», ein Sozialwerk für ehemalige Drogenabhängige, und einen eigenen Buchverlag. Die Zahl der Bücher und Kassetten aus dem Verlag geht in die Tausende. An den Wochenenden, wenn in Walzenhausen die «Freundschaftstreffen» der Obadja-Gruppe stattfinden, sind die Parkplätze voll.

Soeben hat Sasek noch eine weitere Liegenschaft gekauft, denn Obadja hat Platzprobleme. Weil die Gruppe die Mehrzweckhalle im Ort nicht mehr für ihre Versammlungen benutzen darf, ist Sasek nach Buchs ausgewichen.

Obadja ist eine von vielen freikirchlichen Gruppen in der Schweiz, die in den letzten Jahren wie Pilze aus dem Boden geschossen sind. Georg Otto Schmid von der Evangelischen Informationsstelle Kirchen, Sekten, Religionen geht von rund 600 Vereinigungen mit je über 100 Mitgliedern aus. 1994 waren es noch rund 380.

Keine will eine Sekte sein
Daneben existieren unzählige Klein- und Kleinstgruppen. Allein in den Kantonen Basel-Stadt und Baselland zählten Sektenkenner unlängst an die 300 spirituelle und esoterische Vereinigungen. Laut Schmid dürften in der Schweiz rund 3000 solcher Gemeinschaften tätig sein. Viele Gruppen agieren in kleinen Zellen auf dem Land – wie etwa die Adullam-Vereinigung im sankt-gallischen Wattwil. Für deren Führer, den ehemaligen Sekundarlehrer und Sektenwarner Werner Arn, ist die Bibel die einzige Referenz. Sein Exemplar ist voll von Markierungen und Notizen.

Arn beschäftigt 15 Angestellte – zu einem Lohn, «der sich an dem bemisst, was es zum Leben braucht», wie er sagt. In Wattwil kaufte er vor einigen Jahren das frühere Waisenhaus und baute es zu einer Pension um, in der auch alte Menschen wohnen. Der Aufwand, mit dem das Haus umgebaut wurde, ist Dorfgespräch. Arn erklärt den Wohlstand allein mit Gottes Segen. Man habe nie von Testamenten oder Legaten profitiert. Und wie fast alle religiösen Kleingruppen verwahrt sich auch die Adullam-Vereinigung gegen die Bezeichnung Sekte. Unfreiheit und Abhängigkeit herrschten allenfalls bei den Landeskirchen mit ihrem Steuerzwang, sagt Arn, «aber nicht bei uns».

Ob Sekten oder nicht – religiöse und spirituelle Kleingruppen sind landesweit auf dem Vormarsch. Die einen sind streng christlich-fundamentalistisch ausgerichtet wie Obadja oder Adullam. Andere sind eher esoterisch geprägt oder propagieren den Partnertausch zur Befreiung von sexueller Leidenschaft – etwa die Komaja-Gruppe im schwyzerischen Gersau. Geleitet wird sie von Aba Aziz Makaja alias Franjo Milicevic. Ziel der Vereinigung ist die geistige Höherentwicklung zum Übermenschen und die Rückkehr zu Gott. Franjo Milicevic selbst glaubt, als Leonardo da Vinci inkarniert gewesen zu sein.

Die international tätige Gruppe Avatar wiederum lehrt, dass man sich die Wirklichkeit nach den eigenen Wünschen erschaffen könne. Die Vereinigung wurde von einem ehemaligen Scientologen gegründet und findet insbesondere unter Kaderleuten Anklang. Ziel der Gruppe Avatar, die in der Schweiz rund ein Dutzend Zentren führt: Materielle Güter sollen kreiert und alle Hindernisse aus dem Weg geräumt werden – ein perfektes Programm für Egotrips, die im Extremfall dazu führen, dass Anhänger Knall auf Fall ihre Familie verlassen.

Der Überblick geht verloren
Die wachsende Zahl religiöser Klein- und Kleinstgruppen steht in einem krassen Gegensatz zur Informationslage und zu den Hilfsangeboten. Einige wenige Beratungsstellen – vorab der private Verein Infosekta oder die Informationsstelle der evangelischen Kirche – versuchen, den Überblick zu behalten. Sie bewältigen mehrere tausend Anfragen pro Jahr.

75 Prozent davon beziehen sich mittlerweile auf Kleinsekten, fragwürdige Heiler und Lebensberater, während Anfragen zu grossen Gruppierungen wie Scientology, Zeugen Jehovas oder Christian Science abnehmen. «Häufig geht nur eine einzige Anfrage zu einer Gruppierung ein», sagt Infosekta-Beraterin Susanne Schaaf. «Es ist daher nicht möglich, zu jeder Gemeinschaft umfassend zu recherchieren oder jeder Einzelanfrage vertieft nachzugehen.» Mit ein Grund für die dünne Infolage ist, dass viele der Gemeinschaften zurückhaltend bis gar nicht missionieren.

Mit drei Sorten von religiösen Kleingruppen haben es die Sektenberater vornehmlich zu tun – mit esoterischen und christlich-fundamentalistischen Gruppen sowie mit Vereinigungen, die sich um Psychologen scharen, die mehr und mehr guruhafte Züge angenommen haben. «Es kommt auch vor, dass die Leiter solcher Psychogruppen die Rolle des Gurus gar nicht übernehmen wollen, sondern von den Mitgliedern dazu gedrängt werden», sagt Georg Otto Schmid.

Ein Muster ist allen Gruppierungen gemeinsam: Je mehr sich eine Vereinigung nach aussen abschottet und je stärker sie von ihrer Überlegenheit gegenüber anderen Weltanschauungen oder Religionen überzeugt ist, desto mehr vernachlässigen die Mitglieder ihr bisheriges soziales Umfeld. Sie entfernen sich von Familie, Freunden und Verwandten und geraten oft in psychische Abhängigkeit von der Gruppe. «Manchmal werden die Mitglieder auch gezielt von ihren Angehörigen und Freunden entfremdet», sagt Sektenspezialistin Susanne Schaaf. «Abschottung ist eine sektenlogische Konsequenz.»

Einfluss aufs Privatleben

Nicht immer spielt Geld eine zentrale Rolle – aber oft. Das Beispiel der Jasna-Steuder-Gruppe, die die Mitglieder – vorab Frauen – gezielt aufrief, andere auszunehmen, ist laut Sektenexperten jedenfalls kein Einzelfall.

Die Auswirkungen der Abhängigkeit sind zum Teil gravierend. Bei der Zürcher Popkirche ICF etwa entstanden Probleme in Schulklassen, weil die eine Klassenhälfte zur Anhängerschaft der Kirche gehörte und die andere nicht. Die Lehrer standen überfordert dazwischen. Zudem werden die ICF-Mitglieder dazu angehalten, neue Anhänger anzuwerben. Auf diese Weise wird nach und nach der ganze Bekanntenkreis mit der Vertrauensfrage konfrontiert.

Während die kleinen Gruppen immer mehr Zulauf haben, stagnieren die grossen. Vorab Scientology trudelt. Über die genaue Mitgliederzahl schweigt sich die Gemeinschaft allerdings aus. Scientology-Schweiz-Chef Jürg Stettler lässt immerhin durchblicken, dass man die Zahlen bestenfalls habe halten können. Ihr früheres Zürcher Hauptquartier, ein mehrstö-ckiges Bürogebäude, das mit einem Jahresmietzins von rund zwei Millionen Franken zu Buche schlug, haben Hubbards Schweizer Jünger mittlerweile verlassen. Heute arbeiten sie in einem kleinen Büro.

Anders sieht es in Osteuropa aus, wo Scientology laut Stettler in den letzten zehn Jahren rund 50 Stützpunkte aufbauen und die Mitgliederzahl verzehnfachen konnte.

Auch die Zeugen Jehovas haben redimensioniert. Ihre Druckerei im Thuner Hauptquartier wurde geschlossen. Die Zeitschrift «Der Wachtturm» und sämtliche anderen Drucksachen werden heute in Deutschland hergestellt. Der Rückzug wird mit «Synergiebildung» und bewusstem Einsparen von Spendengeldern erklärt. Tatsache ist, dass die Zeugen Jehovas in den letzten zwei Jahren in der Schweiz rund 700 Mitglieder verloren haben und jetzt noch rund 17300 Anhänger zählen.

Ähnlich siehts für die Neuapostolische Kirche oder Christian Science aus – die Schweiz ist abgeerntet.

Diese Rekrutierungsprobleme der grossen Gruppierungen erklärt Infosekta-Beraterin Susanne Schaaf mit der relativ guten Aufklärung der Bevölkerung. «Man merkt, dass in den letzten Jahrzehnten viel Arbeit geleistet wurde.» Dass auch Kleinstgruppen abhängig machen können, selbst wenn man sie auf den ersten Blick nicht als Sekten einordnet – diese Botschaft sei allerdings noch nicht überall angekommen.

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