Samnaun: Wolken über dem Konsumparadies
Das Zollprivileg hat Samnaun reich gemacht. Doch die Duty-free-Sonderregelung wankt – und die Einkaufsoase steht vor politisch brisanten Entscheiden.
Veröffentlicht am 10. August 2000 - 00:00 Uhr
«So lang war der Stau noch nie!» Loisl steht am Gartenzaun und äugt in den Feldstecher. Vor seinem Bauernhof liegt die Autobahn. «Wie eine Schnecke zieht sich das Blech durch die Landschaft!» Loisl schüttelt den Kopf. Im Hintergrund kläfft eine Kinderhupe. Loisl lächelt, kratzt sich am Hinterkopf. Er kann es nicht glauben.
Mehrzwecksaal Samnaun, im Februar. Das Lustspiel, das die Laiengruppe der Gemeinde zum Besten gibt, heisst «Millionen im Heu». Die Stimmung im Saal ist fröhlich. Nach dem ersten Akt gibts Sekt.
Das Bündner Dorf Samnaun hat 750 Einwohner, liegt 1846 Meter über Meer und befindet sich am östlichsten Rand der Schweiz. Die Gemeinde erstreckt sich über sieben Kilometer. Im einstigen Bauerndorf arbeiten noch knapp zwei Dutzend Landwirte. Die Region gehört zu den schneesichersten Skigebieten.
«Schnaps! Da kann ich einen kleinen Schluck brauchen!» Die kleine Bühne im Mehrzwecksaal bevölkert sich zusehends. Um die Wartezeit zu verkürzen, sind die Autofahrer scharenweise aus ihren stehenden Wagen gestiegen. Doch Loisl hat genug. Er mag die ungebetenen Gäste nicht mehr gratis bewirten. Ab sofort wird bezahlt. Die Gläser füllen sich, das Publikum lacht, und das Drama nimmt seinen Lauf.
Ein Dorf im Ausnahmezustand
Das Dokument ist handgeschrieben. Die Tinte ist alt: Am 25. April 1892 hielt der Bundesrat in seiner 46. Sitzung fest: «In Entsprechung des vom Gemeindevorstand in Samnaun gestellten und vom Kleinen Rat des Kantons Graubünden befürworteten Gesuchs wird in Anwendung von Artikel 4 des Zollgesetzes die Talschaft Samnaun aus der schweizerischen Zoll-Linie ausgeschlossen.»
Die Bestimmung hatte für die kleine Gemeinde schicksalhafte Bedeutung: Sonderangebote sind zum Kennzeichen von Samnaun geworden. Shops, Boutiquen, Duty-free-Center prägen das Bild.
«Erich! Erich! Komm, schau her!» Zwei Autofahrer machen in Loisls Scheune eine wundersame Entdeckung. Bis wir wissen, worum es sich handelt, dauert es eine Weile. «Erich! Erich!» Jetzt öffnet sich die Scheunentür. Die Aufregung ist gross. Die Glücklichen haben im Heu eine Tasche mit viel, viel Geld gefunden. Jetzt stellt sich die entscheidende Frage: Wohin damit?
Nein, Walter Zegg hat die Theatervorstellung nicht gesehen. Zegg, 54 Jahre alt, Sohn des früheren Gemeindevorstehers, ist mit einer kleinen Pause seit 19 Jahren Gemeindepräsident von Samnaun.
Über die Zeggs ist schon viel geschrieben worden. Walter Zegg ist Vorsitzender der Handelsfirma Interzegg, der Betonwerke Clis AG und Teilhaber der Luftseilbahn Samnaun AG. Seine Frau ist Schulratspräsidentin; seine Schwester Kirchenratspräsidentin; sein Bruder Verwaltungsratsdelegierter der Luftseilbahn.
Eine ungehörige Ämterkumulation?
«Wir Zeggs wurden nicht in die Ämter gewählt, weil wir beliebt sind, sondern weil sich niemand anders zur Verfügung stellte.» Wie in anderen Berggemeinden funktioniert die Politik hier nicht über Parteien: Entscheidend sind Familienverbindungen. Ein vom «Zegg-Clan» unterstütztes Seilbahnprojekt geriet 1986 massiv ins Schussfeld der Kritik und musste schliesslich begraben werden.
Der Wintertourismus boomt
«Es ist nicht wenig Zeit, die wir zur Verfügung haben, sondern es ist viel Zeit, die wir nicht nutzen.» Die kleine Weisheit steht über der neusten Nummer der Samnauner Gästezeitung. Das Logo lässt sich über die Homepage der Gemeinde herunterladen. Der Download benötigt elf Minuten. Samnaun ist aus Hamburg und Berlin innert vier Stunden zu erreichen. Wer Samnaun Dorf ohne Einkaufspause durchschreitet, benötigt dafür eine Viertelstunde.
Von wann an ist die Zeit genutzt?
«Eine schwierige Frage», lacht Alexandra Walliser. Sie ist seit Juni 1999 Kurdirektorin von Samnaun. Die ausgebildete Schneesportlehrerin und Schwester der dreifachen Gesamtweltcupsiegerin Maria Walliser warb bereits für Toblerone und Milka. In Colorado, USA, arbeitete sie als Praktikantin.
Die Winterbilanz lässt sich sehen: «Gut 70 Prozent Auslastung – das bedeutet Schweizer Rekord», sagt Walliser stolz. Seit 1978 Samnaun gemeinsam mit dem österreichischen Ischgl eine Luftseilbahn baute, boomt der Wintertourismus. Praktisch jedes Jahr wird hier ein neues Hotel eröffnet. Samnaun/Ischgl bildet das grösste Skigebiet in den Ostalpen. Die Winterbelegung ist auf knapp eine Viertelmillion Ubernachtungen angewachsen.
Promotours durch ganz Europa
Die Auftritte des Orts in «Wetten, dass…?» und «Top of Switzerland» bescherten Samnaun willkommene Publizität. Alexandra Walliser ihrerseits betreut die Touristen mit Diashows. Und mit dem aufblasbaren Modell der doppelstöckigen Luftseilbahn gehts auf Promotour durch ganz Europa. «Wenn wir eine Idee haben, scheitert das nicht an den Finanzen», erklärt die Tourismuschefin.
Ideen wären vor allem für den Sommer gefragt. Von den vielen Kurdirektoren sind bereits etliche ausgeheckt worden: Von einem Golfplatz war einmal die Rede, von einem Badesee oder einer Spielhölle. Das jüngste Projekt sieht einen Streichelzoo mit Alpentieren vor. «Unser Zielpublikum ist klar die Familie», sagt Alexandra Walliser. Heute bleibt an einem einzigen Wintertag so viel Geld in den Liftkassen liegen wie in einem ganzen Sommermonat.
Jetzt schaut Loisls Ehefrau durchs Fernglas. Sie kanns nicht fassen. Loisl gab vor, einer Passantin mit Panne behilflich zu sein. Und was muss sie jetzt sehen? Die Vorhänge des Wohnwagens dieser Frau sind plötzlich geschlossen! «Loisl! Du scheinheiliger Fünfziger! Du elender Tropf!», raunzt sie. Auch den Entdeckern der Millionen dräut Unheil. Das Geld, das sie im Heu entdeckt haben, befindet sich plötzlich nicht mehr am alten Ort. Zornige Abgänge. Uberraschende Auftritte. Die Verwirrung wächst.
Die Schultern sind nackt, die Blicke betörend: In den Schaufenstern lächeln die Models auf glänzenden Kartons. Die Marken wechseln. Die Attitüde bleibt: Ob Lancôme, Yves Saint Laurent, Estee Lauder oder Chanel – die Schönheit lockt mit den Augen. Le Poudre blanc. Un Rouge magnetic: die offenen, bekannten Gesichter.
Vor den Schaufenstern Samnauns marschiert die reduzierte Eleganz. Vermummte Damen stakseln die Geschäftsstrasse entlang. Ihre steifen Skischuhe verdammen sie zum stramm gebrochenen Schritt. Sie bleiben vor den Postern stehen, die Skier auf den Schultern, einen Plastiksack in der Hand. Parfumerieartikel sind in Samnaun bis zu 40 Prozent billiger zu haben. Der Schnee knirscht. Der Abend kommt näher. Am Osthang gehen die Flutlichter an.
Zollprivileg als Entwicklungshilfe
Wie kommt eine Grenzgemeinde zu einem Zollprivileg? Samnauns Status ist einzigartig. Er kam nicht ohne zwingenden Grund zustande. 1892 ging es um nichts Geringeres als ums Uberleben. Samnaun war jahrzehntelang ohne Strassenverbindung zur Restschweiz geblieben. Die kleine Gemeinde war ausschliesslich nach Österreich orientiert. Eine Zollbelastung hätte die Bevölkerung unverhältnismässig stark belastet. 1912 veränderte sich die Situation: Mit einem gewaltigen Finanzaufwand brach sich der Bund sozusagen eine Verbindung nach Samnaun – in Form von unzähligen Sprengungen. Die einspurigen Rohsteintunnel sind bis heute die einzige Verbindung ins Engadin.
Die kleine Dorfkapelle ist eingerahmt vom Shopping-Center Muttler, vom Superdiscount Taxfree Bergland und von der Parfumerie Vege. Ein malerisches Glöckchen befindet sich auf dem Giebel; im Gebälk steht die Inschrift «Maria hilf mir die Gnad erwerben, glücklich zu leben und selig zu sterben». Der schmiedeiserne Opferstock befindet sich hinter Glas. Ein Kerzchen kostet einen Franken.
30 Millionen Liter Billigbenzin
Die Abgeschiedenheit verschaffte Samnaun einen Sonderstatus. Dieser beschert der Gemeinde heute die Invasion der Autos. 30 Millionen Liter Benzin werden jährlich per Tanklastwagen auf 1800 Meter hochgekarrt – und dann in PW-gerechten Häppchen wieder ins Tal chauffiert.
Als der Bundesrat 1996 eine Aufhebung des Samnauner Privilegs beantragte, setzte dies heftige Diskussionen ab. Mit einer Mehrheit von nur vier Stimmen lehnte der Nationalrat schliesslich die Aufhebung der alten Sonderregelung ab.
Im Zollfreizenter Erika sind Bündnerfleisch und Schinkenspeck zu haben. Das Haus ist ebenso «Fachgeschäft für Goldschmuck, Modeschmuck und Uhren». Die «breit gefächerte Messerkollektion» entspricht den EU-Gesetzen. Ein Kilo Zucker kostet 85 Rappen, die «Fränzi Alpensocken» 5 Franken, der Rossbacher Kräuterbitter 14 Franken. Ein Porzellanengel – 12 Franken. Der Bushmills Malt Whyskey kostet 13 Franken. Dennoch: Die Duty-free-Umsätze Samnauns haben sich in den letzten zehn Jahren halbiert.
Christine Jenal arbeitet seit 25 Jahren in der Parfumerie des Hotels «Montana». Den vergangenen Zeiten trauert sie nicht nach. Allerdings: Die Gäste seien heute ungeduldiger als früher, sagt sie. «Sie kaufen grundsätzlich gezielter ein als noch vor 20 Jahren.» Christine hat eine «ganz tolle» Stammkundschaft. «Rund 50 Prozent der Kunden kommen immer wieder!» Der Gebäudekomplex am Dorfeingang ist schwer zu übersehen. Drei gläserne Türmchen ragen über die Giebel; massige Felsimitationen bedecken die Aussenwand. Die Jahreszahl «1594» unter dem Dach ist leicht irreführend. Das Haus wurde 1997 erbaut. Bauherrin: die Firma Hangl AG, bestehend aus den Geschwistern Gaby, Marco, Sepp, Christian, Andreas und Martin. Martin Hangl wurde 1989 Skiweltmeister im Super-G.
Die Hangls besitzen unter anderem das Hotel «Post», zwei Sportgeschäfte, die Disco «Why Not», eine Bijouterie, diverse Parfumerien und ein Duty-free-Center. Andreas Hangl, der älteste Sohn, ist Geschäftsführer des «Euro-Centers» und der «Schmuggler-Alm». Für ihn gibt es in der Schweiz viele «gewachsene» Ungerechtigkeiten: «Die einen haben das Matterhorn vor der Nase, wir halt diesen Zoll-Sonderstatus.» Das nütze im Ubrigen nicht nur der Region, sondern auch der Nation.
Allerdings sieht auch Hangl die Notwendigkeit, sich längerfristig auf ein Uberleben ohne Sonderregelung einzurichten. Laut der von ihm präsidierten Dorfverschönerungskommission soll «Samnaun als organisches Ganzes aufgewertet» werden. Die Gemeinde soll vom Autoverkehr befreit werden; die Skipiste würde danach mitten durchs Dorf führen; Wintertouristen könnten so ohne Unterbruch von der Abfahrt oberhalb des Dorfs zur Doppelstockbahn am Dorfende gleiten. Oder – zwischendurch – noch etwas einkaufen.
Gewaltentrennung in Sichtweite
Erich und Helen campieren am Bühnenrand. Was heisst hier campieren? Sie lauern. Nervosität beherrscht die Szene. Die beiden Entdecker der Heumillionen wissen: Wer als nächster die Scheune verlässt, hat sie, die redlichen Finder, bestohlen. Loisl weiss von alledem nichts. Loisl verkauft Schnaps. Loisl schenkt ein. Loisl kassiert. Und Loisl ist glücklich.
Noch 1940 transportierten die Samnauner Bauern jeweils im Winter ihr Bergheu aus 2700 Metern hinunter ins Dorf. Im Sommer war es unter Lebensgefahr geschnitten worden. Erst das Eis ermöglichte den Transport mit Schlitten. Die Arbeit forderte Tote.
Diesen Herbst stehen für Samnaun wichtige Entscheide an. Der Souverän wird entscheiden, ob die Mehrwertsteuer eingeführt werden soll – oder ob diesbezüglich eine Pauschale definiert wird. Ebenso steht die Gewaltentrennung zur Diskussion. Samnauns Legislative und Exekutive waren bisher kaum getrennt.
Die Befürworter der Neuerungen erhoffen sich eine offenere Diskussion im Dorf. Noch findet diese nicht statt. Die Gegner der «Dorfverschönerung» möchten im Beobachter nicht namentlich genannt sein. Sie befürchten Repressionen.
Der Theaterverein «prägt das kulturelle Leben der Wintersaison», steht in der Gästezeitung. Der Verein existiert seit über 20 Jahren. Kein Zweifel: Heuer war Loisl der Star. Heimlicher Gewinner war aber ein anderer: Die Millionen behändigte nämlich der Kommissar.