Glücklich, die ihre Gärten nicht einzäunen: Sie werden den Applaus der Schmetterlinge haben.» Der jüngste Tätigkeitsbericht des «Schnäggehuus» ist mit blumigen Worten überschrieben. Doch die Realität will zur Poesie nicht passen. Gleich drei Elternpaare von Klientinnen bekamen 2003 vom Heim ein Hausverbot verpasst – Schmetterlinge hin oder her.

Das «Schnäggehuus» in Hosenruck TG ist eine therapeutische Wohngemeinschaft mit acht Plätzen, von der IV mit jährlich über 200'000 Franken unterstützt. Zielpublikum sind Frauen zwischen 18 und 30 Jahren mit Essstörungen.

Unter ihnen befinden sich die Töchter der Ehepaare Nansen, Beer und Schütz (alle Namen geändert). Der Eintritt der jungen Frauen liegt drei bis acht Jahre zurück; während dieser Zeit bekamen die Eltern ihre an Magersucht erkrankten Töchter kaum mehr zu Gesicht und wurden mit schwerwiegendsten Vorwürfen allein gelassen.

«Ihre Tochter hat ein Lebenstrauma», eröffnete die Leitung des «Schnäggehuus» Daniel und Helga Nansen nach knapp zwei Jahren. Hanni, hiess es wenig später, wünsche keinen Kontakt zu ihren Eltern. Ein Gespräch mit dem Hausarzt war nicht möglich. Am Telefon bekam die Mutter gerade noch mit, wie die Ko-Leiterin sie vor dem Auflegen als «fräche Siech» bezeichnete – im Beisein der Tochter.

Den Eltern wurde Hausverbot erteilt
Warum brach Hanni mit ihren Eltern? Was ist ein «Lebenstrauma»? Daniel und Helga Nansen erhielten bis heute keine Antwort. Hanni, mittlerweile 30 Jahre alt, lebt seit vier Jahren im Heim. Seit eineinhalb Jahren hüllt sich die Heimleitung in Schweigen. Helga Nansen: «Wir können mit dieser Unwissenheit kaum leben. Wir wissen nicht, wo und wie wir an Hanni schuldig geworden sein sollen.» Die einzige Erklärung, die aus dem «Schnäggehuus» drang, lautet: «Ihre Tochter wünscht nicht, dass wir mit Ihnen reden.»

26. Juli 2003. Die Eltern sprechen unangemeldet beim «Schnäggehuus» vor. Die Haustür bleibt verschlossen. Auf dem Balkon stehend, ruft die Heimleiterin die Polizei. Ein Hausfriedensbruch liegt nicht vor; dafür lässt der «Schnäggehuus»-Anwalt die Eltern wenig später wissen: «Namens und auftrags meiner Mandantin, der sozialtherapeutischen Wohngemeinschaft Schnäggehuus, teile ich Ihnen mit, dass Ihnen zum Schutz Ihrer Tochter ein Hausverbot ausgesprochen werden muss.»

Toni Brühlmann ist Chefarzt der Klinik Hohenegg in Meilen, die spezialisiert ist auf die Therapie von Essstörungen. Patientinnen mit dieser Diagnose verbringen im Schnitt 100 Tage in einer stationären Behandlung. «In aller Regel werden die Eltern in die Therapie mit einbezogen. Nicht ausgeschlossen ist eine vorübergehende Kontaktsperre, um die Patientin von familiären Spannungen zu entlasten», sagt Brühlmann. «Doch selbst dann wird der therapeutische Kontakt zu den Eltern meistens weitergeführt.» Der Facharzt gibt zu bedenken: «In ihrer schwierigen Situation ist eine Patientin beeinflussbar bezüglich Kontakten. Wenn ein unqualifizierter Therapeut eine Kontaktpause nahe legt, besteht Gefahr, dass dies ohne medizinische Notwendigkeit geschieht.»

Im «Schnäggehuus» wird über Therapieerfolge nicht Buch geführt. Susi Tschopp, Ko-Heimleiterin: «Seit 1985 hat das Heim 62 Personen aufgenommen.»

Die Feinerfassung ist nicht sehr erhellend: «31 Ehemalige haben eine Ausbildung abgeschlossen und/oder stehen im Arbeitsprozess; und/oder sind selbstständig wohnend. Einige sind verheiratet und haben Familien.» Die Ko-Leiterin betont: Nur ganz wenige hätten eine Kontaktsperre gewünscht. Es handle sich hier um mündige Personen, deren Entscheidung zu respektieren sei. Über konkrete Fälle dürfe sie nicht reden. Tatsache ist: Bei drei der aktuell acht «Schnäggehuus»-Klientinnen versiegte das Gespräch mit den Eltern. Dem Beobachter sind weitere Fälle bekannt, die weiter zurückliegen.

Die heute 22-jährige Laura Schütz lebt seit dem 2. April 2001 im «Schnäggehuus». Die Eltern hatten anfangs eine Kontaktpause von drei Monaten vereinbart. Nach deren Ablauf liess die Tochter ihre Eltern wissen, sie wünsche eine Verlängerung. «Falls ihr meine freie Entscheidungskraft bezweifelt, könnt ihr euch bei der Vereinspräsidentin melden», schrieb sie.

Fünf Monate später wurde das Ehepaar Schütz zu einem «Konfrontationsgespräch» aufgeboten. Armin Schütz erinnert sich: «Laura sass zwischen den Heimleiterinnen des ‹Schnäggehuus›. Was sie zu sagen hatte, las sie von einem Zettel ab. Ihr Vorwurf war unglaublich. Ich soll sie über längere Zeit sexuell misshandelt haben. Laura will dies aufgrund von ‹Erinnerungsbildern› festgestellt haben, und zwar eindeutig.» Als der Vater genauere Angaben verlangte, griff Heimleiterin Susi Tschopp ein: Die Schilderung von Details sei der Tochter nicht zuzumuten.

«Es kann zu Fehldeutungen kommen»
Einen Monat später holte Laura ihre Wintersachen aus ihrem Elternhaus, nachdem die Eltern versichert hatten, zu diesem Zeitpunkt nicht zu Hause zu sein.

Auf die Frage nach Lauras Ausbildung kam keine Antwort. Auch nicht auf jene nach der Dauer der Therapie. Die flehentliche Bitte um Auskünfte wies die Präsidentin des Vorstands ab: «Um spezifische Elternarbeit anzubieten, ist unser Werk zu klein.» Armin und Lisa Schütz erklärten: «Wir wollen nicht Hilfe im Sinn von Therapie. Wir verlangen, dass über die ehrverletzenden Aussagen gesprochen wird.» Eine Antwort des Vorstands blieb aus.

Michael Struck, leitender Arzt an der Psychiatrischen Universitätspoliklinik Basel, ist häufig mit persönlichkeitsgestörten Frauen konfrontiert. «Es stimmt: Frauen mit emotional instabiler Persönlichkeit berichten oft über Traumatisierungen in der frühen Kindheit. Jedoch kann es auch im Rahmen einer Psychotherapie zu Fehldeutungen von ‹Erinnerungsbildern› kommen – vor allem dann, wenn die Therapie nicht professionell gehandhabt wird.»

Der Ausschluss ungerechtfertigter Vorwürfe sei nicht leicht. «Da muss ein Weg gefunden werden, der die Sicht der Eltern wie auch der Patientinnen in einem einfühlsamen, professionellen Rahmen hinterfragt. Notfalls kann eine Selbstanzeige hilfreich sein.»

Regula Zürcher und Susi Tschopp, das Leiterduo des «Schnäggehuus», betonen, es würden externe Fachleute beigezogen. Dass sich die Leiterinnen zumindest früher auch selbst als Therapeutinnen verstanden, geht aus dem Hausprospekt von 2001 hervor: Sie versprechen hier, «die ganz persönliche Problematik der jungen Frauen in Einzel- und Gruppengesprächen anzugehen». An anderer Stelle schreiben sie: «Unsere Aufgabe besteht darin, Hilfeleistungen zu geben, wie die Vergangenheit neu verstanden werden kann.»

Regula Zürcher war ursprünglich Schuhverkäuferin. Sie machte Zusatzausbildungen als Maltherapeutin sowie als beratende Seelsorgerin. Beratende Seelsorgerin ist auch Susi Tschopp, die früher Krankenschwester war. Eine psychotherapeutische Ausbildung fehlt beiden.

«Zur Unselbstständigkeit erzogen»?
Das «Schnäggehuus», gegründet 1985 von Regula Zürcher, Susi Tschopp und deren Ehemännern, war von Beginn an «christlich orientiert». In den Anfangszeiten trafen sich die Hilfe suchenden Patientinnen immer wieder mit den Vereinsmitgliedern, die für sie beteten. Das Pfarrerehepaar Esther und Fredy Haubenschmid erinnert sich: «Die Veranstaltungen gipfelten regelmässig in der Klage der Heimleiterinnen, aus welch schlechtem Haus ihre Sprösslinge kämen. Es war überdeutlich, dass die Damen Tschopp und Zürcher sich als bessere Eltern verstanden.» Nach wachsenden Spannungen mit dem Leitungsteam kehrten Haubenschmids 1998 der Gemeinde den Rücken.

Im selben Jahr verliess auch Pfarrer Christian Münch die Trägerschaft des «Schnäggehuus». «Wer die Meinung des Leiterpaars nicht teilte, wurde sogleich ausgestossen. Ein Dialog kam nicht zustande.» Münch hegt den Verdacht, dass die «Schnäggehuus»-Patientinnen «zur Unselbstständigkeit erzogen werden». Nach seiner Verabschiedung wollten Tschopp und Zürcher den Pfarrer mit einem Redeverbot belegen. Susi Tschopp stellt beides «entschieden in Abrede».

Judith Beer, 28, lebt seit acht Jahren im «Schnäggehuus». Mit 14 erkrankte sie an Magersucht. Auch Judith belastet ihren Vater: Er soll sie während zehn Jahren sexuell misshandelt haben. Als Erste wurden aber nicht Judiths Eltern, sondern ihre ältere Schwester Lilli informiert – mit der Bitte Judiths, den Angeschuldigten selbst vorerst nichts wissen zu lassen. Als Lilli ihrem 24-jährigen Bruder davon erzählte, brach er zusammen.

Erst nach drei Monaten bot das «Schnäggehuus» auch Judiths Eltern auf. Die Tochter begann ihre Anschuldigung mit den Worten: «Niemand hat mich aufgefordert, das zu sagen, was ich jetzt sage.» Auch sie hatte sich schriftlich vorbereitet und machte «Erinnerungsbilder» geltend. Vater Beer sagt heute dazu: «In der Gewissheit, niemals etwas Unrechtes an Judith begangen zu haben, glaubte ich anfangs, ich könne mit dieser unseligen Offenbarung weiterleben. Lange wartete ich auf ein Wunder; dass Judith eines Tages vor mir stehen und sagen würde: Verzeih mir, Daddy, meine Krankheit hat mich zu diesem Vorwurf getrieben, es ist alles nicht wahr.» Aber Judith meldete sich nicht.

Tochter ist «wie hypnotisiert»
Einen Brief hingegen, den Beer an das Leiterteam gerichtet hatte, beantwortete umgehend der Anwalt des «Schnäggehuus»: «Namens und auftrags Ihrer Tochter habe ich Ihnen bereits am 31. August 2000 klar und unmissverständlich mitgeteilt, dass jegliche Kontaktaufnahme ausschliesslich über mich zu erfolgen hat.»

Zu den Vorwürfen konnten die Eltern nie Stellung nehmen. Über den aktuellen Gesundheitszustand ihrer Tochter wissen sie nichts.

Im März 2003 reichten Beers gegen das «Schnäggehuus» eine Aufsichtsbeschwerde ein. Die Hauptklagepunkte lauteten: mangelhafte Elternarbeit, ungenügende ärztliche Versorgung. Doch Mario Brunetti, Präsident der kantonalen Heimkommission, erklärte in seiner Antwort, dass eine zertifizierte Kontrollstelle die Leistungen für gut befunden habe. Zum selben Schluss sei das kantonale Fürsorgeamt gekommen. Indirekt aber qualifiziert er die Elternarbeit als problematisch: Ihr werde das Heim in Zukunft «besondere Beachtung schenken» müssen. Und der Leitung legte er nahe, Therapien künftig externen Fachpersonen zu überlassen.

Damit ist die Aufsichtsbeschwerde für Brunetti formell erledigt. «Ein gestörtes Vertrauensverhältnis können wir nicht wiederherstellen.»

Für Armin Schütz ist die Angelegenheit «alles andere als erledigt. Dass unsere Tochter keinen Kontakt mehr zu uns wünscht, können wir hinnehmen – so schmerzhaft dies auch ist. Ihren Vorwurf aber werde ich niemals akzeptieren.»

Die 25-jährige Rita Theiler verliess das «Schnäggehuus» nach vier Jahren. Sie lebt heute selbstständig, ist aus gesundheitlichen Gründen immer noch zu 100 Prozent erwerbsunfähig und arbeitet in einer geschützten Werkstatt. Auch Rita hatte ihren Vater der Misshandlung bezichtigt – dieser bestritt den Vorwurf klar.

Der Aufenthalt im «Schnäggehuus» hat Spuren hinterlassen. Wenn Rita auf der Strasse ihren Schwestern begegnet, geht sie ihnen aus dem Weg. Mutter Theiler sagt: «Ritas Wille wurde im ‹Schnäggehuus› gebrochen. Sie ist noch immer wie hypnotisiert.»