Erste Hinweise kommen aus der Bevölkerung. Im Spital würden sich immer wieder Zwischenfälle ereignen, Patienten seien gefährdet, heisst es. Der Beobachter forscht nach, spricht mit Ärzten, Pflegern und Hilfspersonal. Und es zeigt sich: In der Chirurgischen Klinik des Kantonsspitals Freiburg, in dessen Einzugsgebiet über 250'000 Menschen leben, herrschen Zustände, die man in der Schweiz nicht für möglich halten würde.

Was fünf Kaderärzte berichten, ist unmissverständlich: «Wir können die Verantwortung für Eingriffe nicht mehr tragen. Die Sicherheit der Patienten ist nicht mehr gewährleistet.» Sie alle wollen anonym bleiben, weil sie Druckversuche und die Kündigung fürchten.

Immer wieder, so die übereinstimmenden Aussagen der Chirurgen, würden Notfallpatienten stundenlang liegen gelassen, «obwohl wir die sofortige Operation angeordnet haben». Fast täglich sei das Leben von Patienten in Gefahr, «weil wir sie viel zu spät operieren können». Der Grund: Der Leiter der Operationssäle blocke dringende Eingriffe ab und verschiebe sie nach hinten, ohne dass sich die Chirurgen dagegen wehren können. Aktuelle Fälle verdeutlichen dies:

  • Am 23. November 2006 wird ein vierjähriges Mädchen nachts ins Kantonsspital Freiburg eingeliefert. Es hat starke Bauchschmerzen. Der Verdacht der Chirurgen: Das Kind hat einen entzündeten Blinddarm, der jederzeit platzen kann. Der verantwortliche Chirurg ordnet am nächsten Morgen um neun Uhr die Notfalloperation an. Doch die kleine Patientin wird liegen gelassen. Erst um 17 Uhr, mit achtstündiger Verspätung, wird sie operiert.
  • Am 24. November wird eine 90-jährige Frau ins Kantonsspital eingeliefert. Es ist 8.30 Uhr. Die Galle der Frau hat ein Leck, Gallenflüssigkeit läuft in die Bauchhöhle aus. Der Chefarzt ordnet die sofortige Notfalloperation an. Doch unters Messer kommt die Patientin erst elf Stunden später, um 19.30 Uhr.
  • Am 30. November ordnen die Chirurgen die sofortige Operation eines 55-jährigen Mannes an. Er weist eine geplatzte Darmverbindung auf, Dünndarmsaft läuft in die Bauchhöhle aus - es besteht Lebensgefahr. Doch der Eingriff wird erst zehn Stunden später vorgenommen, um 22 Uhr.


Gefährlich lange Wartezeiten
In allen diesen Fällen sei man sich in einem Punkt einig gewesen, sagen Chirurgen des Spitals: «Diese Eingriffe hätten innerhalb von höchstens sechs Stunden nach Diagnosestellung erfolgen sollen. Die lange Wartezeit hätte bleibende Schäden oder sogar tödliche Folgen haben können.» Professor Lukas Krähenbühl bestätigt auf Anfrage diese Vorfälle. Der international renommierte Viszeralchirurg, Chefarzt der Chirurgischen Klinik, verliess das Kantonsspital Anfang Dezember 2006 nach nur vier Jahren Amtszeit - im Zwist mit der Direktion. Krähenbühl sagt, er wolle zur Lage im Spital keinen Kommentar abgeben.

Spitalintern heisst es, Krähenbühl habe sich jahrelang gegen die Missstände gewehrt. Die Krise begann bereits vor fünf Jahren. Spitaldirektor Hubert Schaller stellte damals den Narkosearzt Dominique Thorin als neuen Leiter der Operationssäle ein. Dagegen hatte sich das Chefärzte-Gremium vehement gewehrt, ohne jedoch bei Schaller auf Gehör zu stossen. Der Direktor machte Thorin gar zu seinem direkten Untergebenen - und setzte ihn dem Chefarzt der Chirurgischen Klinik direkt vor die Nase. Dieser fühlte sich brüskiert; er verliess das Spital im Jahr 2002.

Seit da hat laut Kaderärzten des Spitals die Qualität der Versorgung von chirurgischen Notfallpatienten stetig abgenommen. Ineffiziente Abläufe seien allgegenwärtig, auch bei geplanten Operationen, sagt ein Arzt: «Die Operationen beginnen spät, die Säle bleiben zwischen einzelnen Eingriffen regelmässig bis zu 90 Minuten leer, und oft werden Säle bereits um 15 Uhr geschlossen.» Und weiter: «Thorin verschiebt immer wieder über unsere Köpfe hinweg Notfalloperationen. Als Narkosearzt besitzt er dafür schlichtweg nicht die medizinische Kompetenz.» Wartezeiten für dringende Eingriffe können in einem Spital an hektischen Tagen vorkommen. «Im Kantonsspital Freiburg aber», sagen mehrere Chirurgen übereinstimmend, «sind sie alltäglich.»

Erstaunlicherweise äussert sich Spitaldirektor Hubert Schaller nicht zu den Vorwürfen gegen seinen Leiter der Operationssäle und zur Kritik an den Abläufen. Er verweist bloss auf eine Stellungnahme von SP-Staatsrätin Ruth Lüthi, Vorsteherin der Freiburger Direktion für Gesundheit und Soziales und Präsidentin des Verwaltungsrats des Spitals. Zwar räumt Lüthi ein: «Es hat Engpässe bei der Nutzung von Operationssälen gegeben.» Doch auch sie setzt sich über die Kritik hinweg und lässt offen, weshalb Notfallpatienten über zehn Stunden liegen gelassen wurden.

Wie etwa Patient Otto Nösberger aus dem freiburgischen St. Antoni. Er ist überzeugt: «Ich wurde im Kantonsspital Freiburg viel zu spät operiert.» Der 61-jährige Landwirt ist heute auf die Hilfe seines Bruders und des Nachbarn angewiesen, seinen Hof kann er nicht mehr mit voller Kraft bewirtschaften. Als Nösberger am 6. März 2006 auf die Notfallstation des Kantonsspitals kommt, erbricht er, hat einen aufgetriebenen Bauch und Schmerzen. Der Verdacht der Ärzte: Darmverschluss. Sie wollen ihn sofort mit dem Computertomografen untersuchen. Doch das Gerät ist eine Woche in Revision, ein Ersatz steht nicht bereit. Die Ärzte müssen auf ein Diagnoseverfahren mit Kontrastmittel ausweichen, das acht Stunden dauert. Nösberger muss über Nacht bleiben, sein Zustand verschlechtert sich. Morgens um 8.15 Uhr ordnet der verantwortliche Chirurg die sofortige Notoperation an. Doch Nösberger wird liegen gelassen. Erst abends um 19.20 Uhr, mit über elfstündiger Verspätung, wird er operiert.

«Eine Katastrophe»
Die Analyse der Operationspläne zeigt: Nösberger hätte ein erstes Mal bereits morgens um neun und ein zweites Mal mittags um zwölf Uhr operiert werden können. Zu diesen Zeiten waren die Operationssäle mit weniger dringenden Knochenbrüchen verplant, deren Behandlung aus Sicht von Spitalchirurgen «ohne Probleme auch am Folgetag hätte durchgeführt werden können». Die Verzögerung hat für Patient Nösberger gesundheitliche Folgen. Weil tatsächlich ein Darmverschluss vorlag, starben grosse Teile seines Dickdarms ab, der deshalb vollständig herausgeschnitten werden musste. Aus medizinischer und ethischer Sicht seien Vorfälle wie dieser «eine Katastrophe und unverantwortlich», sagen dazu Kaderärzte des Freiburger Spitals.

Interne Dokumente, die dem Beobachter vorliegen, zeigen: Krähenbühl wurde von Schaller und Lüthi als Chefarzt ans Kantonsspital geholt, um die Chirurgie zu verbessern (allein die chirurgischen Instrumente stammten aus den siebziger Jahren). Krähenbühl hatte bereits im April 2002 in einem Brief zur Bedingung gemacht, dass drei Operationssäle für geplante Eingriffe und ein Saal für Notfälle zur Verfügung stehen müssen. Schaller garantierte dies schriftlich: «Ich werde ohne Vorbehalt Ihre Begehren unterstützen, die eine logische und nötige Entwicklung der Chirurgischen Klinik und des Spitals fördern.»

Doch es kam anders: Statt vier Operationssälen standen im Schnitt eineinhalb zur Verfügung und gar kein Notfallsaal - drei Jahre lang. Heute verkündet Lüthi, ab 2007 gebe es einen Notfallsaal, der Grosse Rat habe dafür zusätzliche Stellen bewilligt. «Die Direktion und der Verwaltungsrat des Spitals sowie die politischen Behörden haben somit die Situation erkannt, geeignete Massnahmen definiert und die nötigen Mittel bereitgestellt.»

Die Probleme wurden nicht angegangenTatsache ist: Sowohl Lüthi als auch Direktor Schaller liessen die Probleme mindestens fünf Jahre lang anstehen und nahmen laut Chirurgen «die ungenügende Behandlung von Patienten in Kauf». Bereits vor Krähenbühls Stellenantritt im Jahr 2002 wussten Lüthi und Schaller von Problemen mit den Operationssälen. Lüthi sagt, es sei falsch, dass Krähenbühl immer wieder das Missmanagement angeprangert habe. Doch interne Dokumente belegen: Krähenbühl setzte sie 2004 über «Kapazitätsprobleme» und ein Jahr später über eine drohende «Zunahme von Fehlern und Komplikationen» in Kenntnis, da Patienten «nicht mehr korrekt behandelt werden können».

Als sich Anfang 2006 die Krise schliesslich zuspitzte, sah sich das Chefärzte-Gremium des Spitals zum Handeln gezwungen. In einem Brief an Lüthi vom 4. April fordern die Chefärzte rasche Massnahmen. Denn zwischen Operationssaalleiter Thorin und der Chirurgischen Klinik sei «ein offener Krieg» ausgebrochen, es herrsche «eine schwere Vertrauenskrise», schreibt der Präsident des Gremiums. Dies gefährde die Behandlung der Patienten. Eine Zusammenarbeit zum Wohl der Patienten könne «nicht mehr garantiert werden».

Das Chefärzte-Gremium fordert Lüthi einstimmig auf, die Kompetenzen von Operationssaalleiter Thorin «sofort einzuschränken». Der Narkosearzt mische sich auf intolerable Weise in die Verantwortlichkeiten der Klinik ein. Das Schreiben hat politische Sprengkraft. Doch sowohl Lüthi wie Direktor Schaller ignorieren den dringenden Appell. Thorin bleibt fest im Sattel, der Abgang des Chefarztes der Chirurgischen Klinik dagegen wird immer wahrscheinlicher. Am 11. Mai wendet sich das Chefärzte-Gremium in einem Brief erneut an Lüthi und warnt eindringlich: «Ein Weggang von Krähenbühl würde zu einer katastrophalen Situation in der Chirurgie unseres Spitals führen.» Der Brief ist von 14 Chef- sowie leitenden Ärzten des Kantonsspitals handschriftlich unterzeichnet.

Doch Lüthi und Schaller hören wieder nicht hin, lassen stattdessen Krähenbühl fallen. Seit seinem Weggang Anfang Dezember droht die Situation in der Chirurgischen Klinik ausser Kontrolle zu geraten. «Wir können die Verantwortung kaum noch wahrnehmen, einige von uns sind nicht mehr frei im Kopf, haben Angst zu operieren», sagen Chirurgen. Lüthi entgegnet, es sei unverantwortlich, wegen Krähenbühls Weggang die Situation als «desolat und gefährlich» zu bezeichnen. «Alle notwendigen Massnahmen wurden ergriffen, um die Versorgung sicherzustellen.»

Nicht der erste Eklat
Das Spital schlittert unter Schaller, der es seit 13 Jahren führt, nicht zum ersten Mal in eine Krise. Bereits mit Krähenbühls Vorgänger gab es vor acht Jahren einen Streit, der ungehindert eskalierte. Schon damals war SP-Staatsrätin Lüthi involviert. Und schon damals sprach das Chefärzte-Kollegium von einem «zerstörten Vertrauensverhältnis zwischen Schaller und den Kaderärzten», wie spitalinterne Dokumente belegen.

Ende Dezember 2006 tritt die 59-jährige Lüthi nach 15 Jahren von ihrem Amt als Freiburger Gesundheitsdirektorin zurück. Direktor Schaller bekommt mehr Verantwortung: Er ist am 12. Dezember zum neuen Generaldirektor des Freiburger Spitalnetzes gewählt worden. «Unter seiner Leitung hat das Kantonsspital eine Entwicklung erfahren, die den neuen Anforderungen der Medizin und des Spitalmanagements entsprach», wird er in einer Pressemitteilung gelobt - verfasst von Lüthis Gesundheitsdepartement. Die einflussreiche Lüthi sass im sechsköpfigen Gremium, das Schaller «nach intensivem Auswahlverfahren» unter 37 Bewerbern den Vorzug für den Posten gab. «Schlimm ist», sagt ein Chirurg des Spitals, «dass uns die Bevölkerung arglos vertraut und von Missständen nichts erfährt.»