Stefan Müller ist 39,6 Jahre alt, 1,76 Meter gross und 77,3 Kilogramm schwer. Seine Frau Nicole ist zweieinhalb Jahre jünger, 1,64 Meter gross, wiegt 63,2 Kilogramm und lügt mindestens zweimal täglich - genau wie Stefan. Die beiden sind seit acht Jahren verheiratet und glauben an den Bund fürs Leben - und dies zu Recht: Die Scheidungsrate ist seit neustem auf 49 Prozent gesunken. Müllers Ehe hält. So will es die Statistik. Denn Müllers sind Schweizer Durchschnitt.

Parteien, Ämter, Firmen und Kirchen untersuchen, wann wir uns womit bewegen; wo wir hingehen und warum; sie studieren, wie wir denken und fühlen, was wir einkaufen, was wir haben und wovor wir uns fürchten. Der Beobachter hat solche Studien und Umfragen zusammengetragen und daraus das Porträt der typischen Schweizer Familie konstruiert: Müllers sind durchschnittlich alt, wohlhabend und gesund. Ihre Namen gehören zu den häufigsten der jeweiligen Jahrgänge; und müssen sie sich entscheiden, gehören sie immer zur Mehrheit oder zur grössten Gruppe. Sie sind die Meisten. Die Häufigsten. Müllers, das sind wir - niemand ganz, aber alle ein bisschen.

Familie Müller wohnt in einem Mehrfamilienhaus zur Miete. Wer in ihre Vierzimmerwohnung eintreten will, muss - wie bei drei Vierteln der Schweizer - die Schuhe ausziehen. Die Einrichtung widerspiegelt das Wesen von Müllers: freundlich, sauber und ordentlich (siehe unten «Selbstbild: Was sind typische Schweizer Eigenschaften?»). Im Wohnzimmer steht ein grosser, silbriger Fernseher mit DVD-Player; davor ein Mikrofasersofa in heiterem Hellblau, auf dem sich die Familie abends versammelt. Durch die halbtransparenten Vorhänge, die als Blickschutz dienen, fällt Sonnenlicht auf das Chlötzli-Parkett und auf die weisse Raufasertapete. Müllers haben eine Wohnwand aus naturbelassenem Buchenholz, in der Bilder der Kinder und andere Familienerinnerungen stehen. Zudem gibt es eine Stereoanlage, eine Hausbar und ein kabelloses Telefon. Der Einblick in die Stube der Müllers ist der Werbeagentur Jung von Matt zu verdanken, die anhand von Umfragen, Verkaufszahlen und Besuchen bei Familien das durchschnittliche Schweizer Wohnzimmer herausgearbeitet und beschrieben hat - wer wissen will, was Müllers brauchen, muss wissen, was sie haben.

Müllers haben eigentlich fast alles - nur keinen Wäschetrockner. Die Wohnung selbst ist zwar kein Traumhaus, genügt den Ansprüchen der Familie aber dank gutem Preis-Leistungs-Verhältnis vollauf. Trotz Kompromissen verbinden Müllers Geborgenheit, Ruhe und Glück mit ihrem Heim. Wenn sie etwas ändern könnten, dann wünschten sie sich mehr Raum für die Kinder.

Stefan und Nicole verstehen sich gut mit ihren Nachbarn - laut einem Meinungsforschungsinstitut sind über 50 Prozent der Schweizer ihren Hausgenossen gegenüber positiv eingestellt. Müllers nervt nur, wenn Nachbarn nicht grüssen oder rücksichtslos sind. Vor allem erwarten die beiden von ihrem Umfeld Toleranz - Kunststück, sie haben schliesslich zwei kleine Kinder. 28 Monate nach der Heirat kam das erste Kind zur Welt. Laura - zu der Zeit einer der gängigsten Mädchennamen - ist heute sechs Jahre alt und besucht wie 98,7 Prozent ihrer Altersgenossen den Kindergarten. Im Kinderzimmer brüllt Brüderchen Luca, er ist dreieinhalb.

Die Kinder - lieb und teuer
Nicole und Stefan behaupten von sich, eine sehr enge Beziehung zu ihren Kindern zu haben. Sie geben auch an, die Kinder nicht zu schlagen. Wenn die kleinen Nervensägen nicht gehorchen, schimpfen die Eltern, erteilen Fernsehverbot oder schicken die beiden aufs Zimmer. Dieser Erziehungsstil scheint erfolgreich, immerhin wird Luca in der Pubertät die Finger von Drogen und Alkohol lassen - im Gegensatz zu einigen Jungs in seiner Klasse, die rauchen (30 Prozent), kiffen (20 Prozent) oder sich dreimal im Monat einen Rausch antrinken (14 Prozent). Auch Laura wird sauber bleiben, zumindest was Drogen angeht. Zu ihrer Eltern Verdruss wird sie aber Sex haben, noch bevor sie 14 ist - Luca vermutlich vor seinem 17. Geburtstag. Trotz Frühreife bleiben die beiden bis zum 23. Altersjahr dem Hotel Mama treu und werden Müllers in dieser Zeit einiges kosten - rund 1100 Franken monatlich allein für Essen, Kleider, Ausbildung und erhöhten Wohnbedarf. Ausgaben für Spielzeuge und Freizeitartikel sind nicht mitgerechnet; auch nicht die Handykosten, mit denen Laura ihren Eltern bald auf der Tasche liegen wird.

Vorläufig sind die Kinder aber noch klein. Nicole Müller betreut Luca den ganzen Tag zu Hause. Sie arbeitet zwar Teilzeit; aber die Kinder selbst aufzuziehen ist ihr viel wichtiger als ihre Karriere. Einen Platz im Kinderhort für den Kleinen haben sie nicht, aber hin und wieder vertrauen Müllers die Kinder den Grosseltern, Nachbarn oder Bekannten an. Müllers - auch Nicole - sind sehr zufrieden mit dieser Situation.

53 Stunden im Haushalt
Der Berner Psychologe und Paartherapeut Klaus Heer weiss aber aus Erfahrung, dass dem nicht so bleiben wird: «Der eklatante Mangel an Kinderkrippen und Tagesschulen geht voll auf Kosten der Mütter und deren Karrierechancen. Die Männer haben dann den Frust ihrer Frauen am Hals.» Neben der Erziehung sind Geld und Haushalt die häufigsten Konfliktthemen, sagt Heer. Stefan und Nicole sollte das hellhörig machen: Wie in gut acht von zehn Schweizer Haushalten mit Kindern unter 15 Jahren verbringt Nicole jede Woche 53 Stunden mit Putzen, Kochen, Waschen, Einkaufen und Kinderhüten. Stefan ist gerade mal 26 Stunden pro Woche in der Nähe von Herd, Waschküche und Nachwuchs.

«Ein weiterer Krisenherd ist Sex», sagt Klaus Heer. Laut Studie eines Kondomherstellers geben sich Nicole und Stefan zweimal wöchentlich dem Liebesspiel hin; und zwar während jeweils 19 Minuten - Vorspiel inklusive. Er kommt regelmässig, sie nicht. Obwohl beide drei bis fünf verschiedene Stellungen kennen und Freude an schöner Unterwäsche haben, sind die zwei mit ihrem Liebesleben nicht vollkommen zufrieden - das haben sie mit 58 Prozent der Schweizer gemeinsam. Obwohl Müllers der Ansicht sind, dass Sex wichtig für Gesundheit und Wohlbefinden sei, probiert das Paar nichts aus, um seine Situation zu verändern: Es schaut keine Pornos, benutzt keine Sexspielzeuge und wird nie einen Dreier ausprobieren. Den Partner würden sie wegen eines Seitensprungs nicht verlassen - das täten nur 42 Prozent der Schweizer. Während es im Bett etwas hapert, beweisen Müllers andernorts viel Einsatz: In der Küche reinigt Nicole alle Arbeitsflächen mindestens einmal täglich. Die Geschirrtücher werden jede Woche gewechselt, und nach dem Essen spült sie sofort das Geschirr. Auch auf Körperpflege legen Müllers Wert - nicht zuletzt weil sie finden, der Druck, gut auszusehen, wachse. Laut der Umfrage eines Marktforschungsinstituts soll vor allem Stefan mehr Zeit und Geld in sein Aussehen investieren.

Wie 99 Prozent aller Schweizer waschen sich Müllers nach jedem Gang zur Toilette die Hände. Selbstverständlich. Nicht unbedingt wissenswert, aber bekannt ist auch, dass Nicole fünfmal täglich aufs Klo geht, während Stefan nur dreimal von derlei Bedürfnissen in die Knie gezwungen wird. Dass das stille Örtchen keines mehr ist, ist einem Toilettenpapierhersteller zu verdanken. Dessen Analyse verrät Dinge, die wir von engsten Freunden nicht wissen wollen. Etwa, dass sie sich nach dem grossen Geschäft den Hintern am liebsten mit trockenem, dreilagigem Toilettenpapier wischen, das sie vorher falten. Zeit, das Fenster zu öffnen.

Vor dem Haus steht das Auto der Müllers. Obwohl die Familie in der Agglomeration wohnt, hat sie kein Abo für den öffentlichen Verkehr. Stefan fährt jeden Tag mit dem Wagen zur Arbeit; allein, wie 90 Prozent aller Autofahrer. Insgesamt legt er mit Wagen, Velo, öffentlichem Verkehr und zu Fuss jeden Tag 44 Kilometer zurück; dies in 96 Minuten. Stefan kommt dabei ein bisschen schneller voran als seine Frau, die für ihre 31 Kilometer 81 Minuten braucht. Wenn Stefan unterwegs ist, befindet er sich meistens auf dem Weg zur Arbeit. Er ist im Dienstleistungssektor tätig, macht jährlich 40 Überstunden und ist zufrieden mit seinem Chef und den Arbeitsbedingungen. Wie viel er verdient, spielt für Stefan eine untergeordnete Rolle; wichtiger ist ihm ein gerechter Lohn.

Er verdient 6650 Franken, Nicole steuert mit ihrem Nebenerwerb rund 2200 Franken bei. Davon leisten sich Müllers einmal im Jahr Ferien in Italien, Frankreich oder Spanien. An Wochenenden bleiben sie aber in der näheren Umgebung und treiben ein bisschen Sport. Am liebsten fahren sie Fahrrad, schwimmen oder widmen sich dem urschweizerischsten Zeitvertreib: «Wandern gehört zur Schweizer Familie; es ist Teil der Tradition - auch wenn es manchmal aus der Not geboren wird», sagt Ulrike Zöllner vom Institut für angewandte Psychologie in Zürich. Mit ihrem doch recht engen Budget konzentrieren sich Müllers nämlich vorzugsweise auf kostenlose Angebote - wie eben Wandern.

In der restlichen Freizeit lassen es Müllers gemütlich angehen. Mit zweieinhalb Stunden pro Tag ist Fernsehen eine ihrer häufigsten Freizeitbeschäftigungen, auch wenn sie behaupten, «am liebsten» Zeitung zu lesen - sie verbringen allerdings bloss eine halbe Stunde pro Tag mit ihrer regionalen Tageszeitung. Umfragen erfassen, was wir sagen - und nicht, was wir tun.

Der Durchschnitt will Qualität
Rechnungen lügen dagegen nicht: Zum Einkaufen fährt die Familie wie fast 90 Prozent aller Schweizer zu Migros oder Coop, wo sie pro Kopf jährlich Fr. 5894.75 ausgibt.

Auf dem Streifzug durch die Regale achten Müllers besonders auf gesundes und genussvolles Essen, das regional und natürlich erzeugt wurde. «Der Schweizer Durchschnitt isst qualitätsbewusst und lässt sich das auch etwas kosten», sagt Karin Frick, Leiterin Research beim Gottlieb-Duttweiler-Institut. In anderen Ländern sei das billigste Joghurt auch das meistverkaufte. In der wohlhabenden Schweiz hingegen sei der Preis nicht das Hauptargument. «Das Angebot wird spezialisiert und differenziert», sagt Frick. So kann Nicole, wenn sie Lust auf Haselnussjoghurt hat, zwischen Budget-, Bio- oder Lightprodukten wählen. «So sind alle ein bisschen speziell, wenn auch in sehr engem Rahmen», sagt Frick. Der Schweizer lebt also seine Eigenheiten gern in Nuancen aus.

Doch egal in welcher Variante, Joghurt bleibt Joghurt - und das landet am häufigsten im Einkaufskorb der Müllers, vor Milch und Katzenfutter. Die Familie konsumiert pro Kopf täglich 390 Gramm Milch, 160 Gramm Fleisch, 250 Gramm Gemüse und 120 Gramm Kartoffeln. Übers Jahr verbraucht jedes einzelne Familienmitglied vier Tuben Mayonnaise und drei Kilogramm Süssigkeiten. Diese letzten beiden Posten sind unglücklich, denn vor allem Stefan muss auf seine Linie achten, er tendiert zu leichtem Übergewicht.

Unglücklich auch, dass Stefans Linie beileibe nicht die grösste Sorge der Müllers ist. Neben den langfristig zunehmenden Beziehungsproblemen raubt ihnen hauptsächlich die Angst vor Arbeitslosigkeit den Schlaf - obwohl Stefan seinen Job eigentlich für gesichert hält. Weiter kreisen die Gedanken um Altersvorsorge, Gesundheit und Sicherheit.

Die meisten und grössten Probleme der Müllers sind aber hausgemacht, sagt Tony Styger, Vorstandsmitglied der Telefonseelsorge 143: «Schweizer wollen immer alles unter einen Hut bringen und auf nichts verzichten.» Neben Fussballtraining, Ballett und Reiten müssten die Kinder auch noch gute Schulnoten und weisse, gerade Zähne haben. Diese Anspruchshaltung macht das Leben kompliziert. Die Folge sei, dass die Familie oft bei der ersten grösseren Krise kollabiert. Wer nicht weiterweiss, wählt 143: «Eine geschiedene, einsame und finanziell angeschlagene Mutter, die die ständige Belastung durch Kinder und Teilzeitarbeit kaum noch aushält, ist eine sehr geläufige Situation», so Styger.

So weit muss es aber nicht kommen. Denn wir sind das Schicksal der Müllers: Was ihr Beziehungsleben, ihre Gesundheit und Zufriedenheit angeht, bestimmt jeder Einzelne von uns mit, wie es künftig bei Müllers läuft.

Selbstbild: Wie die Schweizer sich sehen

Welches sind typische Schweizer Eigenschaften?
Personen ab 15 Jahren

34,5% zurückhaltend, verschlossen, bescheiden
24,0% freundlich, sympathisch
18,5% pünktlich
12,1% arbeitsam, arbeitsorientiert, fleissig
7,1% gastfreundlich
Welches sind untypische Schweizer Eigenschaften?
Personen ab 15 Jahren
11,9% offen, aufgeschlossen
8,6% lebensfroh, locker
7,9% unordentlich, unsauber
5,3% bestimmt, selbstbewusst
4,4% prahlerisch, überheblich


Typische Schweizer seien zurückhaltend, ordentlich, freundlich - so das Ergebnis einer repräsentativen Umfrage, die der Beobachter kürzlich vom Institut Konso Basel in der ganzen Schweiz durchführen liess. Als untypische Eigenschaften nannten die 826 Befragten am häufigsten: «offen» und «spontan». Die persönliche Selbsteinschätzung bei zehn vorgegebenen Eigenschaften fiel sprachregional unterschiedlich aus: Im Schnitt halten sich drei Viertel der Schweizer für kompromissbereit, aber nur 53 Prozent der Tessiner. Dafür bezeichnen sich drei Viertel der Ticinesi als patriotisch - in der Deutschschweiz und der Romandie sind es nur knapp 60 Prozent. Zwei Drittel der Tessiner und 57 Prozent der Deutschschweizer finden sich eher gelassen - im Welschland nur 17 Prozent.
>> Weitere Resultate der Umfrage (PDF, 188 kb)

«Im Ausland hat sich das Bild gewandelt»

Wie Selbstbilder trotz Veränderungen lange erhalten bleiben - Soziologe Thomas S. Eberle über Klischees und Realität.
Interview: Dominique Hinden

Beobachter: Herr Eberle, gibt es den typischen Schweizer?
Thomas S. Eberle: Nein. Was man als jeweils typisch bezeichnet, beruht immer auf persönlichen Erfahrungen, und diese beziehen sich immer auf ein bestimmtes gesellschaftliches Umfeld. Wenn man etwa Deutschschweizer nach dem typischen Schweizer fragt, dann beziehen sie sich in ihrer Antwort in der Regel auf erwachsene, männliche Deutschschweizer - und vergessen die Kinder, die Frauen und die Rentner, aber auch die Romands, die Tessiner und die Rätoromanen.

Beobachter: Wenn man vom typischen Schweizer spricht, meint man damit nicht den Durchschnittsschweizer?
Eberle: Wenn man vom Typischen spricht, betont man meist etwas einseitig gewisse Eigenschaften, die in der Realität vielleicht gar nicht so verbreitet sind. Einen Durchschnitt hingegen kann man mathematisch errechnen. Im Alltag wird diese Unterscheidung jedoch kaum gemacht. Dabei geht oft vergessen: Die Schweizerinnen und Schweizer machen lediglich vier Fünftel der Einwohnerschaft aus; die hier lebenden Ausländer sind aber meistens in den statistischen Durchschnittswerten mit eingerechnet.

Beobachter: Politiker, Werber, Produzenten - sie wollen oft mit dem «typisch Schweizerischen» Leute für sich gewinnen. Identifizieren wir uns mit dem Typischen?
Eberle: Man spricht viele Leute auch an, indem man sie besser darstellt, als sie sind. Doch sind sie wirklich so ehrlich, so sauber, so zuverlässig? Alles Eigenschaften, die sich die Schweizer auch gerne selber zuschreiben. Was als «typisch» bezeichnet wird, sind aber in der Regel Klischeebilder, die positiv wie negativ sein können. Diese Bilder werden auch gegen die konkrete Erfahrung aufrechterhalten. Im Ausland etwa hat sich das Bild vom typischen Schweizer gewandelt. Das Bild des rechtschaffenen Schweizers wird jetzt immer mehr überlagert vom Eindruck, dass Schweizer nur auf den eigenen Vorteil bedacht sind, unethische Bankgeschäfte machen, rücksichtslos sind.

Beobachter: Zurück zum Durchschnittlichen: Jeder will doch besonders sein. Dennoch gleichen sich viele in ihrem alltäglichen Verhalten. Warum?
Eberle: Man wird in gewisse Verhaltensmuster sozialisiert, man lernt diese Werte, Normen und Codes. Traditionen lösen sich jedoch zunehmend auf und werden zu Optionen - man darf sonntags in die Kirche gehen, muss aber nicht mehr. Dadurch entsteht eine stärkere Individualisierung in der Gesellschaft. Man kann zwischen verschiedenen Möglichkeiten wählen. Je nach Gebiet gibt es dabei eine soziale Wertung. Das sieht man bei Jugendlichen im Konsumgüterbereich: Sie haben ein Markenbewusstsein, das von der Wirtschaft auch gezielt gefördert wird. Was in und was out ist, steht fest, so entsteht ein sozialer Druck.

Beobachter: Auch Erwachsene gleichen sich an, etwa bei der Namensgebung von Kindern.
Eberle: Hier stehen keine Werbekampagnen dahinter. Früher hiess der Sohn wie der Vater, Namen waren durch Tradition bestimmt. Jetzt sind wir völlig frei. Doch bei Wahlfreiheit orientieren sich die Leute immer irgendwie aneinander. So entstehen Trends oder Gegentrends.

Beobachter: Traditionen schwinden in ganz Europa. Gibt es somit auch weniger Unterschiede zwischen Schweizern, Franzosen und Engländern?
Eberle: Traditionen konnten auf kleinem Raum sehr gut aufrechterhalten werden. Durch die zunehmende Mobilität weichen sich die Unterschiede aber immer mehr auf.

Thomas S. Eberle, 58, ist Professor der Soziologie an der Universität St. Gallen und Mitherausgeber des Buchs «Sonderfall