Sie will ihren richtigen Namen nicht in der Zeitung lesen und hat als Alternative «Sophia Z.» vorgeschlagen. Sophia Z. schreibt viel, beim Schreiben fühlt sie sich frei. In einer ihrer Kurzgeschichten gibt es die Figur einer jungen Frau, ein starker, zäher Charakter: Sophia. Ihr Name sei wie ein Schutz.

Einmal versuchte Sophia, ihre eigene Vergangenheit aufzuschreiben. Jetzt liest ihre Psychologin den Text vor, wir sitzen in ihrer Praxis. Sechs Seiten, Sophia wäre es zu viel, die Worte selbst in den Mund zu nehmen. Manchmal stockt ihr der Atem, während die Psychologin liest. Dann hustet sie, greift sich an den Hals, und die Psychologin fragt, ob sie aufhören soll. Aber Sophia schüttelt den Kopf.

«Der Onkel war auch da»

«Angefasst wurde sie schon im Kleinkindalter, vergewaltigt hat sie der Vater mit fünfeinhalb Jahren zum ersten Mal. Sie wurde bewusstlos, danach strich er ihr das Blut von den Beinen, sagte, sie sei eine Hure, und ging. Sie hatte ihre weisse Lieblingsbluse an. Es gab auch Tage, da fuhren sie zum Opa. Der Onkel war auch da und alle paar Monate ein Freund aus Polen. Alle vergewaltigten sie zusammen.»

Sophia kann nicht «Ich» schreiben, wenn sie ihr eigenes Leben zu Papier bringt. Es kommen auch keine Gefühlsausbrüche vor, keine Anklagen. Da steht nur: «Er sagte oft, sie solle sich umbringen. Einmal schenkte er ihr einen Strick. Mit 14 kam der erste Selbstmordversuch.» Es liest sich wie ein Protokoll.

Einmal unterbricht Sophia die Psychologin und sagt, sie hasse ihren Vater. Es klingt trotzig und stolz, wie sie es sagt. Es habe Jahre gedauert, diesen Hass zu entwickeln. Überhaupt Gefühle zu entwickeln. Der Hass sei ein guter Motor. Lange habe die Erinnerung an den Vater und an das, was er mit ihr gemacht habe, ihr Leben beherrscht. Der Hass helfe, diese Macht des Vaters über sie abzuschütteln. Der Hass gibt ihr auch die Kraft, den Vater im Frühjahr 2009 anzuzeigen. Das Ermittlungsverfahren läuft noch, und es ist unsicher, ob die Staatsanwaltschaft Anklage erheben wird. Es steht Aussage gegen Aussage. Die Zeugen, meist Familienmitglieder, sagen, da sei nie was gewesen. Sie sagen, Sophia sei schon immer ein bisschen durchgeknallt gewesen.

An jenem Abend in der Praxis wirkt sie keine Sekunde wie jemand, der alles nur erfindet. Es ist das erste und das einzige Treffen mit ihr. Es geht um die Frage, wie ein Mensch es schafft, trotz grauenvoller Vergangenheit weiterzuleben. Auch darum, ob es für diesen Menschen jemals so etwas wie Normalität gibt.

Mit Verstand kaum fassbar

Sophia spricht schnell und in messerscharfen Sätzen. «Meiner Mutter war ich egal. Die war kalt wie ein Automat» – solche Sätze. Wenn sie nicht spricht, wendet sie meistens ihr Gesicht ab, schaut auf den Boden oder an die Wand. Sie wirkt sehr angespannt, man merkt es nicht sofort, weil die Anspannung unter der Oberfläche liegt, unter ihrer Haut, unter ihrem Atem, ihrem Lachen, ihren Bewegungen.

Es kostet sie viel Kraft, diese Anspannung zu bannen, manchmal muss sie tief ein- und ausatmen. Nach anderthalb Stunden ist sie völlig erschöpft und bricht das Treffen ab.

Was Sophia über ihr Leben erzählt, ist für den Verstand kaum zu fassen. Irgendwann kommt auch der Moment, an dem man sich fragt, ob all das wirklich stimmt. Er vergeht schnell, wenn man sieht, wie sie um Worte ringt, um jeden Satz kämpft. Ihr Anwalt sagt später am Telefon, auch er habe die Plausibilität hinterfragt. Er sei zum Schluss gekommen, ihr zu glauben. Ihre Aussagen während der Vernehmung seien detailreich und absolut widerspruchsfrei gewesen.

«Meine Bilder sind mit der Zeit deutlich positiver geworden», sagt Sophia heute.

Quelle: Sophia Z.
«Reiss dich zusammen», sagte die Mutter

Sie wird Anfang der achtziger Jahre in einer deutschen Kleinstadt geboren. Sie hat noch einen älteren Bruder. Der Vater, Alkoholiker, misshandelt die Kinder schon von klein auf, seine Tochter vergewaltigt er, seinen Sohn schlägt er. Die Mutter greift nicht ein. Einmal, da ist sie anderthalb, bricht sich Sophia den Arm. Vor Schmerzen kann sie beim Essen den Löffel nicht mehr halten. Die Mutter schaut nur zu. Auch als die tägliche Kotzerei, die Migräneanfälle beginnen, ist ihr einziger Kommentar: «Reiss dich zusammen, so etwas haben Kinder nicht!»

Sophia ist acht, da bringt der Vater sie zum Grossvater, und die Gruppenvergewaltigungen beginnen, meist beim Grossvater im Wohnzimmer. Das letzte Mal missbraucht der Vater sie mit 17.

Davor noch, sie ist 16, wird sie auf dem Heimweg von zwei Fremden vergewaltigt und brutal zusammengeschlagen. Bisher war alles ausserhalb des Elternhauses, ausserhalb der Wohnung des Grossvaters eine Art angstfreie Zone, eine «heile Welt» für Sophia. Nach der Vergewaltigung gab es für sie keinen Ort mehr, an dem sie sich noch sicher fühlte. Die beiden Täter bekommen, da sie Ersttäter sind, nur drei und vier Jahre Gefängnis. In Sophias Notizen steht dazu: «Die Zeitungen regten sich darüber auf und sie verlor sich im Dunkeln.»

Irgendwann, sie ist gerade 16 geworden, geht sie nicht mehr zur Schule, eine Ärztin schreibt sie krank. Sie forscht aber nicht nach, warum das Mädchen so krank ist. Auch die Lehrer in der Schule scheinen sich nicht darüber zu wundern, dass Sophia so oft fehlt. «Warum fragte mich nie jemand?» – diesen Satz ruft sie fast.

Wegen lebensbedrohlicher Unterernährung kommt Sophia mit 18 in eine Klinik. Sie wiegt noch 37 Kilo, sie hat einfach zu essen aufgehört, lebt von Drogen und Alkohol. Die Klinikärzte sind die Ersten, die fragen, und sie schalten den Jugendschutz ein. Dieser bietet ihr an, in eine betreute Wohngemeinschaft zu ziehen. Ihr Vater droht, sie umzubringen, sollte sie das Angebot annehmen. Sie fügt sich. Vom Jugendschutz hört sie nichts mehr.

Weit weg von der Familie

Sophia holt das Abitur nach, an ihrer alten Schule, da ist sie 21 und wohnt längst nicht mehr zu Hause, sondern bei ihren «Kifferfreunden». Danach zieht sie weg, in eine Grossstadt, beginnt ein Germanistikstudium, verbringt dazwischen immer wieder längere Zeit in einer psychiatrischen Klinik. Es geht ihr schlecht, für sie ist es die «Zeit der vielen Selbstmordversuche». Sie muss noch mehr Distanz zwischen sich und ihre Familie bringen, um sich sicher zu fühlen, und wandert in die Schweiz aus.

Hier findet sie ihre «grosse Liebe». Es dauert zwei Jahre, bis er alles weiss. Hier findet sie auch ihre Psychologin, der sie zu hundert Prozent vertraut. Sie nimmt ihr Germanistikstudium wieder auf.

Eine traumatisierte Seele ist wie ein Hypoallergiker, der auf bestimmte Substanzen mit einem Aufruhr im Körper reagiert. Sophias Seele gerät in Aufruhr, wenn sie in Berührung kommt mit etwas, was sie an früher erinnert. Auf längliche Dinge zum Beispiel ist Sophias Seele allergisch, auf das Gewehr im Westernfilm, auf die Flasche mit dem langen Hals oder auf den Kerzenständer. Längliches erinnert sie an die Gegenstände, die ihr die Männer manchmal einführten. Auch bestimmte Zahlen sind schlimm, weil die sie an die Zahl der Täter erinnern. Oder Geräusche, Gerüche, Farben, alles kann eine Sturzflut der Erinnerungen auslösen.

Was heisst weiterleben, was heisst Normalität für Sophia? Es heisst unter anderem, dass jeder Spaziergang durch die Stadt für sie zum Spiessrutenlauf wird. Im besten Fall. Im schlimmsten Fall durchlebt sie Todesängste. Und wenn es der Seele zu viel wird, sie sich schützen und zurückziehen will, wird Sophia eine andere, hat eine andere Stimme, lacht anders. Diese Andere weiss nichts von Sophia und macht, was sie will. Und wenn die Seele, wenn Sophia Stunden später wieder auftaucht und die Kontrolle wieder übernimmt, weiss sie oft nicht, wo sie gelandet ist. Sophia kann sich an nichts erinnern.

Die Nacht vom 28. August 2009 war so ein Moment, mit schrecklichen Folgen. In ihren Notizen beschreibt ihn Sophia so: «Sie kam zu Bewusstsein und hatte einen Mann in der Wohnung. Sie bat ihn, zu gehen. Bevor er ging, vergewaltigte er sie mehrmals. Sie wehrte sich wie verrückt.» Am nächsten Tag zeigt Sophia den Täter an. Er kommt mit zwei Jahren Gefängnisstrafe davon, obwohl er keine Reue zeigt und mehrfach vorbestraft ist, auch wegen versuchter Vergewaltigung. Als einen Grund für die milde Strafe gibt das Gericht an, man habe beim Opfer keine entsprechenden Blessuren festgestellt. Man könne also nicht, wie das Opfer, von brutaler Vorgehensweise sprechen.

«Ich fand das Urteil so ungerecht»

Weiterleben heisst für Sophia auch, sich eine neue Wohnung suchen zu müssen, weil die Nacht vom 28. August in der alten zu präsent ist. Es heisst, das Studium für ein halbes Jahr auszusetzen, weil mit der Vergewaltigung auch die Vergangenheit wieder hochgekommen ist. Und auch das Sterbenwollen gehört damals für Sophia zum Weiterleben. Nach der Urteilsverkündung begeht sie einen Suizidversuch. «Ich fand das Urteil so ungerecht», sagt sie. Jetzt füllt ihre Wut den Praxisraum, kein Zittern mehr in der Stimme. «Ist eine Vergewaltigung nicht immer brutal, muss man eine Frau erst halbtot schlagen?»

Die Wut ist gut, wie der Hass auf ihren Vater. Sophia ist wie ein Fächer, der langsam auseinandergefaltet wird. Humor kommt zum Vorschein, die Fähigkeit zu vertrauen, die Liebe zur Schriftstellerei, zur Malerei. Das Gefühl, wertvoll zu sein, nachdem ihr der Vater ein halbes Leben lang eingetrichtert hatte, sie sei «Dreck, eine dreckige Hure». Wie hat sie das geschafft? Wie schafft sie es, mit so einer Vergangenheit zu leben, mit so einer Gegenwart, die manchmal aus nichts anderem als aus Angst besteht, in der sich viele Freunde abgewendet haben, weil sie die Vergangenheit der Sophia Z. nicht ertrugen?

Sie ist zierlich, trägt einen Rock und hohe braune Lederstiefel, die Haare blond und halblang. Da drinnen, irgendwo in dieser angespannten, ängstlichen, wütenden Person, muss ein starker Lebenswille stecken – aber das reicht als Antwort nicht, das führt nur zur nächsten Frage: Warum hat der Lebenswille überlebt? Sie blüht auf, fasst sich ans Herz, während sie spricht und von diesem «unzerstörbaren Kern» in ihr drin erzählt. Den sie schon als Kind spürte. Der unberührt blieb von der Gewalt, weil er sich so klein machen konnte. Ein Kern wie eine Urzelle, die jetzt zu keimen beginnt.

Das ist ihre Antwort, eigentlich die einzige Antwort, immer wieder erwähnt sie diesen «unzerstörbaren Kern». Ein Bild, das sie nicht weiter aufschlüsseln will, trotz mehrmaligem Nachfragen. Vielleicht ist es das, was sie befähigt weiterzuleben, trotz grauenvoller Vergangenheit: ein Bild gefunden zu haben, zwei Worte.

Selbst der Bruder sagt nichts

Irgendwann in diesem Frühjahr wird das Ermittlungsverfahren, das aufgrund von Sophias Anzeige gegen ihren Vater eingeleitet wurde, abgeschlossen sein. Und die Staatsanwaltschaft wird, glaubt man dem Anwalt von Sophia Z., wohl keine Anklage erheben. Mangels Beweisen. Mangels Erfolgsaussichten. Die Familie mauert, sogar der Bruder schweigt vor dem Richter. Zu seiner Schwester haben er und alle anderen den Kontakt vor Jahren abgebrochen.

Die Psychologin liest nun die letzten Sätze aus Sophias Bericht vor: «Ich werde kämpfen, ich bin verdammt nochmal so selbstbewusst wie noch nie. Ich werde Schriftstellerin.» Genau – da steht das Wort «Ich».

Die Täter kommen oft glimpflich davon

Laut Kriminalstatistik wurden im Jahr 2010 in der Schweiz 543 Vergewaltigungen sowie 642 Fälle von sexueller Nötigung registriert. Der Zürcher Strafrechtsprofessor Martin Killias schätzt, «dass rund die Hälfte aller vollzogenen oder versuchten Vergewaltigungen angezeigt werden». Zudem sind letztes Jahr 1133 Fälle von sexuellen Handlungen mit Kindern verzeichnet worden. Mehr als die Hälfte der Vergewaltigungen und der sexuellen Handlungen mit Kindern fanden innerhalb der eigenen vier Wände der Opfer statt.

Sexualdelikte werden im Strafgesetzbuch nach Kategorien unterschieden. Vergewaltigung liegt nur dann vor, wenn der Mann mit dem Penis gegen den Willen der Frau in ihre Scheide eindringt. Alle anderen sexuellen Gewalttaten, auch erzwungener Analverkehr, gelten als sexuelle Nötigung. Vergewaltigung wird mit Freiheitsstrafe von einem bis zu zehn Jahren bestraft, sexuelle Nötigung mit Freiheitsstrafe bis zu zehn Jahren oder Geldstrafe. Für sexuelle Handlungen mit Kindern bekommen die Täter eine Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren – und bis 15 Jahre Freiheitsstrafe, wenn es sich dabei um sexuelle Nötigung oder Vergewaltigung handelt. Nach Annahme der Verjährungsinitiative 2008 werden sexuelle Straftaten an Kindern unverjährbar – der Gesetzesentwurf des Bundesrats kommt nächstens vors Parlament.

Zu einem Schuldspruch durch ein Gericht kam es nicht einmal bei jeder fünften Vergewaltigung, die 2009 registriert wurden (108 von 666). Bei den sexuellen Handlungen mit Kindern nur in jedem vierten Fall. Oft werden Verfahren eingestellt, bevor es zur Verhandlung kommt, weil die Beweislage zu dürftig ist. «Dabei ist es wichtig für die Verarbeitung des Geschehenen, dass der Täter strafrechtlich verfolgt wird», so Bea Rüegg, Sozialarbeiterin bei der Beratungsstelle für Frauen gegen sexuelle Gewalt. «Nicht wegen des Rachegefühls, sondern weil es eine gesellschaftliche Instanz braucht, die bestätigt: Es war nicht richtig, was der Täter getan hat.» Selbst wenn es zum Schuldspruch kommt, wandern immer weniger Vergewaltiger hinter Gitter. Seit dem neuen Strafrecht von 2007 erhalten viele Täter eine bedingte oder teilbedingte Strafe, müssen also gar nicht ins Gefängnis oder weniger als die Hälfte ihrer Haftstrafe absitzen. «Die Geldstrafe ist bei Sexualdelikten zur Hauptstrafe geworden», sagt Strafrechtler Killias.