Die Vorgeschichte ist schnell erzählt: Koni Locher (Name geändert) wurde bis zum vollendeten dritten Lebensjahr seiner ausserehelich geborenen Tochter von Gerichts wegen kein Besuchsrecht gewährt. Später hielt das Waisenamt Gampel VS fest: «Die Tochter kann, wenn sie selbstständig entscheidet, den Vater besuchen.»

Mit dieser Regelung hatte sich Locher abgefunden. Heute lebt er im Kanton Zürich und arbeitet als Beamter einer Vollzugsbehörde. Umso glücklicher war er über den Anruf seiner mittlerweile 16-jährigen Tochter aus dem Wallis: «Hallo Papi, ich möchte dich kennen lernen.» Der Vater besuchte die Tochter an ihrer Lehrstelle und blieb mit ihr telefonisch in Kontakt. Als er lange Zeit nichts mehr von ihr hörte, wurde er stutzig: «Ich fühlte mich verpflichtet, meiner Tochter zu ihrem Recht zu verhelfen, ihren Vater aus freiem Willen besuchen zu dürfen.»

Die Mutter und der Stiefvater liessen aber nicht mit sich reden. So stellte Locher am 24. Mai 2000 bei der Vormundschaftsbehörde Bratsch VS den Antrag, die elterliche Sorge der Mutter zu überprüfen und das Besuchsrecht der Tochter zum Vater sicherzustellen. Dieses simple Schriftstück löste im Kanton Wallis ein «kafkaeskes Verfahren» über zweieinhalb Jahre aus, wie Lochers Rechtsvertreterin, die Zürcher Anwältin Mirella Piasini, erklärt. Der Irrlauf durch all die Instanzen wird zum Theater in sechs Akten.

Erster Akt

  • Am 28. Juni 2000 ermahnen die Mutter und der Stiefvater Koni Locher schriftlich, sie in Ruhe zu lassen. Sie seien alt genug, um zu wissen, was Recht und Unrecht sei.
  • Am 25. November 2000 erkundigt sich Locher telefonisch beim Gemeindepräsidenten von Bratsch, Alwin Steiner, nach dem Verbleib seiner Eingabe. Antwort: Er habe sie damals ungeöffnet an den Vizegemeindepräsidenten Oskar Meichtry zur Erledigung weitergegeben – und damit ausgerechnet an den Stiefvater.

Zweiter Akt

  • Am 11. Juni 2003 verlangt Rechtsanwältin Mirella Piasini im Namen von Koni Locher bei der Vormundschaftsbehörde Bratsch Akteneinsicht.
  • Am 18. Juni 2003 lässt die Vormundschaftsbehörde die Anwältin wissen, sie habe nie mit Lochers Tochter zu tun gehabt und besitze somit auch keine Akten.
  • Am 6. August 2003 weist Piasini die Gemeindeverwaltung Bratsch darauf hin, der besagte Antrag müsste doch damals «bei irgendeiner Stelle Ihrer Gemeinde fraglos zur Kenntnis genommen worden sein».
  • Am 29. August 2003 ist Mirella Piasini immer noch ohne Antwort und setzt der Gemeinde Bratsch eine Frist bis zum 6. September 2003.
  • Am 11. September 2003 stellt ihr das Vormundschaftsamt Bratsch die damalige Eingabe ihres Mandanten in Kopie zu. Zu diesem Schriftstück wurde nie ein rechtskonformes Aktenheft mit Aktennummer eröffnet, wie dies in der Verordnung über die Vormundschaft zwingend vorgesehen ist. Es seien, so die Behörde, «summarische Vorabklärungen» getroffen worden. Weil die Tochter kurz vor der Volljährigkeit stand, sei aber kein Dossier eröffnet worden. Ende 2000 habe zudem ein Wechsel im Vormundschaftsamt stattgefunden. Der Vorgänger habe den neuen Präsidenten nicht über das Dossier orientiert, das angeblich nicht eröffnet wurde. Weil die Tochter heute volljährig sei, erachte man die Angelegenheit als «erledigt».

Dritter Akt

  • Am 12. November 2003 reicht die Anwältin gegen das Vormundschaftsamt Bratsch bei der Vormundschaftskammer des Bezirks Leuk Aufsichtsbeschwerde wegen Rechtsverweigerung und Amtsmissbrauch ein.
  • 24. November 2003 retourniert die Vormundschaftskammer des Bezirks Leuk die Aufsichtsbeschwerde und orientiert Mirella Piasini, die Oberaufsicht über die Vormundschaftsbehörde Bratsch liege beim Departement für Finanzen, Institutionen und Sicherheit des Kantons Wallis.
  • Am 3. Februar 2004 verneint das Departement seine Zuständigkeit und schickt die Unterlagen an die Vormundschaftskammer des Bezirks Leuk zurück.
  • Am 26. Februar 2004 erklärt sich die Vormundschaftskammer abermals als nicht zuständig.
  • Am 17. März 2004 ersucht Mirella Piasini das Departement für Finanzen, Institutionen und Sicherheit erneut, behördenintern abzuklären, wie hier weiter zu verfahren sei – vor allem, wer für die Bearbeitung der Beschwerde zuständig sei.
  • Am 5. April 2004 kommt das Departement für Finanzen, Institutionen und Sicherheit letztlich zum Schluss, die Aufsichtsbeschwerde falle in den Zuständigkeitsbereich des Bezirksgerichts Leuk.

Vierter Akt

  • Am 14. April 2004 hält der Bezirksrichter-Substitut fest, die Parteien seien anzuhören, und das Vormundschaftsamt der Gemeinde Bratsch respektive die Vormundschaftskammer des Bezirks Leuk müsse zu den Begehren des «Berufungsklägers» Stellung nehmen.
  • Am 15. April 2004 kommt Rechtsanwältin Piasini dieser Aufforderung nach und stellt richtig, Koni Locher sei nicht «Berufungskläger», sondern «Beschwerdeführer». Ausserdem stellt sie die Zuständigkeit des Gerichts sowie die gewählte Verfahrensart in Frage.
  • Am 26. April 2004 fordert Rechtsanwalt Bernhard Schnyder als Vertreter des Vormundschaftsamts Bratsch die Leistung einer Kostensicherheit von 800 Franken durch Koni Locher.
  • Am 14. Mai 2004 verlangt Mirella Piasini, vorgängig die sachliche Zuständigkeit des Bezirksgerichts zu klären.
  • Am 17. Juni 2004 erklärt Rechtsanwalt Schnyder in seiner Stellungnahme, das Vormundschaftsamt Bratsch sei sachlich nicht zuständig, und weist Lochers Beschwerde vom 12. November 2003 an das Bezirksgericht Leuk zurück mit den Worten: «Ein solches Verhalten, das als trödlerisch bezeichnet werden muss, verdient keinen Rechtsschutz.»
  • Am 7. Juli 2004 erhebt Piasini formell Einsprache gegen die sachliche Unzuständigkeit des Vormundschaftsamts Bratsch und legt dar, es handle sich um eine Rechtsverweigerung, was eine disziplinarische und strafrechtliche Ahndung der Verantwortlichen zur Folge habe.

Fünfter Akt

  • Am 26. August 2004 erklärt sich das Vormundschaftsamt Bratsch als partei- und prozessunfähig und beantragt die Sistierung des Verfahrens.
  • Am 30. November 2004 weist der Bezirksrichter-Substitut die mangelnde Prozessfähigkeit des Amts ab.
  • Am 6. Dezember 2004 lässt das Bezirksgericht Leuk die Partei- und Zeugenbefragungen zu.
  • Am 13. Dezember 2004 legt das Vormundschaftsamt Bratsch beim Walliser Kantonsgericht eine Nichtigkeitsbeschwerde mit aufschiebender Wirkung ein. Für die Beurteilung der Beschwerde vom 12. November 2003 sei nicht der Bezirksrichter der Bezirke Leuk und Westlich Raron zuständig.
  • Am 15. Dezember 2004 wird mit Präsidialentscheid der Nichtigkeitsklage aufschiebende Wirkung gewährt.
  • Am 9. Februar 2005 reicht Mirella Piasini beim Kantonsgericht den Antrag ein, es sei von Amts wegen die sachliche Zuständigkeit des Bezirksgerichts Leuk und Westlich Raron zu klären und nötigenfalls die Beschwerde an die zuständige Behörde weiterzuleiten.

Sechster Akt

  • Am 29. August 2005 stellt das Kantonsgericht fest, dass das Bezirksgericht Leuk für die Beurteilung der Beschwerde vom 12. November 2003 sachlich nicht zuständig sei, und hebt dessen Entscheid vom 30. November 2004 auf. Das Bezirksgericht wird aufgefordert, die zuständige Behörde zu ermitteln.
  • Am 1. September 2005 entscheidet das Bezirksgericht Leuk, die Akten dem Departement für Finanzen, Institutionen und Sicherheit zur Beurteilung zu übergeben.
  • Am 8. November 2005 hält das gleiche Departement, das am 5. April 2004 die Aufsichtsbeschwerde mangels eigener Zuständigkeit an das Bezirksgericht Leuk weitergeleitet hat, nun doch seine Zuständigkeit fest. Es entscheidet, dass weder im Bundes- noch im kantonalen Vormundschaftsrecht ein Disziplinarverfahren gegen die Mitglieder einer Vormundschaftsbehörde vorgesehen sei. In diesem und in allen anderen Punkten sei die Beschwerde gegenstandslos.

Bühne frei zum nächsten Akt
Alles, was recht ist: Weil die Gesetze des Kantons Wallis sowie das Zivilgesetzbuch angeblich keine Aufsichtsinstanz über die Vormundschaftsmitglieder kennen, soll sich die Beschwerde in Luft aufgelöst haben. «Diese Schlussfolgerung ist aus rechtlicher Sicht falsch und unglaublich peinlich», sagt Anwältin Piasini. Hier werde das Recht mit Füssen getreten.

Als Beamter kann Koni Locher «aus berufsethischen Gründen» das Verhalten der Vormundschaftsbehörde Bratsch nicht akzeptieren: «Jedem eingeleiteten Geschäft muss zwingend unmittelbar nach dessen Eingang eine Aktennummer zugeordnet werden.» Durch einen rechtsmittelfähigen Entscheid hätte die Vormundschaftsbehörde Bratsch den Fall noch kurz und bündig erledigen können. Stattdessen hat der Aktenberg eine Maus geboren. «So ein Affentheater», sagt Locher. «Man kommt sich vor wie in einer Bananenrepublik.»

Der Delegierte des Vormundschaftsamts Bratsch beim Interkommunalen Vormundschaftsamt Leuk, Kilian Fryand, der das Dossier Anfang Jahr überreicht bekam, verweist auf den Rechtsvertreter der Gemeinde Bratsch, Bernhard Schnyder. Dieser kann keine Stellungnahme abgeben, weil es sich um ein «laufendes Verfahren» handle. Er will mit keinem Wort im Beobachter zitiert werden.

Rinaldo Arnold vom Verwaltungs- und Rechtsdienst beim Departement für Finanzen, Institutionen und Sicherheit sagt: «Es ist zweifellos eine Ausnahme, dass sich unser Departement mehrmals mit dem gleichen Fall befassen muss.» Das Dossier Locher sei aber keinesfalls eine «Lappalie». Jeder Fall erfordere die nötige Sorgfalt und Abklärung, was aber nicht dazu führe, «dass wir anstelle der zuständigen Behörde entscheiden können».

Aha. Dann also alles noch einmal von vorn?

Gegendarstellung

Es wird behauptet, ich hätte dem betroffenen Vater am 25. November 2000 geantwortet, dass ich seine Eingabe ungeöffnet an den Vizegemeindepräsidenten Oskar Meichtry zur Erledigung weitergegeben hätte. Diese Aussage ist falsch. Richtig ist, dass ich die ungeöffnete Sendung dem dafür einzig zuständigen Präsidenten des Vormundschaftsamts übergeben habe.
Alwin Steiner, Gemeindepräsident Bratsch