Benachteiligung Benachteiligter
Ein seit einem Unfall Arbeitsunfähiger sucht verzweifelt eine Bleibe. Als seine Beiständin ihm helfen will, beginnen die Probleme erst recht. Er ist kein Einzelfall.
Veröffentlicht am 7. Juni 2004 - 12:14 Uhr
Nach Adelboden ist José (Name geändert) nie zurückgekehrt. Vor zweieinhalb Jahren krachte dort im Zielraum des Skiweltcuprennens ein 650 Kilogramm schwerer Eisenträger, der sich beim Abtransport der Videoscreens per Helikopter gelöst hatte, auf ihn nieder. Das Leben von José hing an einem Faden. Er lag mit schweren Hirnverletzungen vier Monate im Spital.
Seither ist der 37-Jährige arbeitsunfähig, leidet an Depressionen und hat Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren. Damit nicht genug: Die Abklärung der Unfallursache ist komplex, das Verfahren nicht abgeschlossen. Doch solange die Haftungsfrage nicht geklärt ist, wartet José auf das Geld der Haftpflichtversicherung. Er geriet in einen finanziellen Engpass und wurde betrieben. Weil er sich nicht mehr selbst um seine finanziellen Angelegenheiten kümmern konnte, übernahm diese Aufgabe die Beiständin Ursula Hasler.
Sie versuchte ihm auch bei der Suche nach einer neuen Wohnung zu helfen. Josés Wohnungsbewerbungen legte sie ein Schreiben bei, in dem sie die Zahlung der Miete garantierte. Trotzdem stapelten sich bei José die Absagen. «Er hatte keine Chance, eine Wohnung zu bekommen», sagt Ursula Hasler.
Die Freude währte nicht lange
Schliesslich kam die Beiständin auf die Idee, selbst eine Wohnung zu mieten, um diese an José weiterzuvermieten. Sie bewarb sich um eine Zweizimmerwohnung im Zürcher Kreis 6 zu 1443 Franken inklusive Nebenkosten und schrieb an die Immobilienverwaltung Privera: «Es würde mich ausserordentlich freuen, wenn ich bei der Wohnungsvergabe berücksichtigt würde.» Bald schrieb die Verwaltung zurück: «Es freut uns, Ihnen den Mietvertrag zustellen zu dürfen.» Die gegenseitige Freude war aber nicht von langer Dauer.
Gesetzliche Voraussetzungen erfüllt
Kurz nachdem Ursula Hasler den Mietvertrag unterschrieben hatte, schickte sie der Privera-Verwaltung eine Kopie des Vertrags, den sie mit José als Untermieter abgeschlossen hatte. Die Verwaltung erklärte prompt, sie betrachte den Mietvertrag als ungültig, und warf Hasler vor, sie sei nicht ehrlich gewesen. Gegenüber dem Beobachter wollte die Verwaltung keine Stellung beziehen.
Laut Obligationenrecht hätte die Verwaltung José als Untermieter nur ablehnen können, wenn ihr aus der Untermiete «wesentliche Nachteile» entstanden wären. Sie hätte also nachweisen müssen, dass er aus irgendeinem Grund als Mieter nicht zumutbar wäre. Stattdessen stellte sie sich auf den Standpunkt, sie sei von Hasler getäuscht worden, der Mietvertrag daher nichtig. Gleichzeitig warnte sie die Beiständin: Sollte sie auf dem Vertrag beharren und versuchen, diesen vor Gericht durchzusetzen, werde sie allenfalls haftbar für den entgangenen Mietzins. Dieses Risiko wollte Hasler nicht eingehen und verzichtete auf einen langen Rechtsstreit.
Anita Thanei, Präsidentin des Schweizerischen Mieterverbandes, kann die Reaktion der Immobilienverwaltung nicht verstehen: «Die gesetzlichen Voraussetzungen für eine zulässige Untervermietung sind erfüllt. Zudem haftet die Beiständin für den Mietzins, was für die Verwaltung eine willkommene Sicherheit darstellt.»
Ähnliche Erfahrungen machte Thomas Baumgartner vom Verein Neustart, der ehemalige Strafgefangene betreut. «Der Wohnungsmarkt ist gnadenlos, wenn Vermieter eine solch grosse Auswahl haben wie in Zürich», sagt Baumgartner. Dabei wären die Voraussetzungen im Fall von José ideal: Die Beiständin stehe nicht nur finanziell gerade, sondern sei für die Verwaltung auch Ansprechpartnerin, falls es Schwierigkeiten geben sollte.
Jürg Gassmann, Zentralsekretär der Stiftung Pro Mente Sana, die sich für psychisch Kranke einsetzt, glaubt, dass sich die Situation verschärft habe: Es stünden einerseits nur einige wenige Wohnungen leer. Anderseits möchten immer mehr psychisch Kranke in einer eigenen Wohnung statt einer Wohngemeinschaft leben. Oft blieben für sie aber nur Wohnungen an sehr schlechten Lagen übrig. «Für Menschen, die an einer psychischen Störung leiden, ist dies doppelt so schlimm, denn es verringert die Chance, dass sie wieder gesund werden», sagt Gassmann.
Wie schwierig es ist, eine Wohnung für Benachteiligte zu finden, erfährt auch die Wohnschule Zürich der Pro Infirmis. Dort werden Erwachsene mit einer leichten geistigen Behinderung während anderthalb Jahren auf ihr Leben in den eigenen vier Wänden vorbereitet. Nach der Grundausbildung mietet Pro Infirmis für die Schüler eine Wohnung, die sie später übernehmen. Auf der Suche nach einer solchen Wohnung erklärt eine Liegenschaftsverwaltung schon einmal: «Wir wollen keine Behinderten in unseren Wohnungen.» Monika Kunz von der Wohnschule vermutet, dass solche Verwaltungen Angst davor hätten, die Wohnschüler könnten irgendwie unangenehm auffallen.
José ist noch immer auf der Suche nach einer Wohnung in Zürich. Für die entgangene Zweizimmerwohnung bot ihm die Immobilienverwaltung Privera eine Ersatzwohnung an: ein Zimmer für 800 Franken.