Eva Mosimann, Leiterin des regionalen Sozialdienstes in Signau BE, muss nicht lang nachdenken, wenn sie nach Beispielen von Working Poors gefragt wird. Zu ihren Klienten gehört zum Beispiel ein Ehepaar mit zwei Kindern. Eva Mosimann: «Obwohl beide Partner je 100 Prozent in einer Lebensmittelfirma arbeiten, verdienen sie zusammen nur gerade knapp über 3000 Franken.»

Den Begriff Working Poor hat Caritas Schweiz so definiert: Dazu zählt, wer in einem Haushalt lebt, in dem eine oder mehrere Personen einen Beschäftigungsgrad von 90 Prozent aufweisen und das gesamte Einkommen nicht zur Existenzsicherung ausreicht.

Die Zahl der Betroffenen liegt irgendwo zwischen 250000 und 410000. Zwar sind Ausländerinnen und Ausländer proportional zur Gesamtbevölkerung häufiger von dieser Armutsform betroffen. In absoluten Zahlen präsentiert sich aber ein anderes Bild: Drei Viertel der Working Poors sind Schweizerinnen und Schweizer.

Doch diese Zahlen haben nur begrenzten Aussagewert. Die letzte nationale Armutsstudie stammt aus dem Jahr 1992. Das Heer der Working Poors ist durch die schwere Wirtschaftskrise der neunziger Jahre vermutlich nochmals gewachsen.

Viel Arbeit für die Sozialämter Gesamtschweizerische Zahlen im Bereich der Sozialhilfe gibt es keine. In absehbarer Zeit wird sich das zwar ändern: das Bundesamt für Statistik ist daran, ein entsprechendes System aufzubauen. Bis dahin aber bleiben nur die Angaben der Kantone. Und dort hat jeder sein eigenes Sozialhilfegesetz und – wenn überhaupt – seine eigene Sozialhilfestatistik. Doch auch das vorhandene Material zeigt eines klar: Die Zahl der Working Poors steigt.

Beispiel Zürich: Der Anteil von Working Poors bei den Sozialhilfeempfängern hat sich allein zwischen 1994 und 1997 verdoppelt – von 6 auf 12 Prozent. Und auch in der Stadt Bern erhöhte sich die Zahl der Working Poors im vergangenen Jahr auf 7 Prozent.

Die Zahl der Menschen mit einem Einkommen unter der Armutsgrenze ist aber noch viel grösser. Allein in der Stadt Bern sind es 25 Prozent aller Sozialhilfeempfänger. Grund: Neben den Working Poors sind in dieser Gruppe auch Haushalte mit einem Beschäftigungsgrad von weniger als 90 Prozent aufgeführt – wie es etwa bei vielen Alleinerziehenden der Fall ist.

Im Kanton Freiburg präsentiert sich die Situation ähnlich: 1998 stellten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die ihr Einkommen aufstocken lassen mussten, 26 Prozent der Sozialhilfebezüger. Die Tendenz ist weiter steigend.

Das gleiche Bild im Kanton Genf. Dort hat sich die Gruppe der Arbeitnehmer ohne genügenden Lohn seit 1990 verdoppelt. «Das ist aber keine repräsentative Aussage zu Working Poors», schränkt Bernard Clerc vom kantonalen Fürsorgeamt ein. Viele Leute würden den Gang aufs Sozialamt schon gar nicht antreten; entsprechend gross sei die Dunkelziffer.

Der Anteil der Working Poors an der Gesamtbevölkerung ist also noch bedeutend höher, als es die offiziellen Zahlen ausweisen. Niedrige Löhne und fehlende berufliche Qualifikationen tragen wesentlich dazu bei. Wie die schweizerische Lohnstrukturerhebung von 1998 zeigt, verdienten rund ein Drittel der Vollzeitbeschäftigten nur gerade 4000 Franken netto pro Monat.

Frauen kommen schlecht weg

In einzelnen Branchen ist die Lage besonders düster: 16 Prozent der Detailhandelsangestellten und 40 Prozent der Beschäftigten im Gastgewerbe müssen mit weniger als 3000 Franken im Monat auskommen. Ausserdem sind Frauen von dieser Tiefstlohnpolitik wesentlich stärker betroffen als Männer.

Der Schweizerische Gewerkschaftsbund (SGB) fordert deshalb in seiner neusten Kampagne 3000 Franken als Minimallohn. «Wir vertreten die Meinung, dass jeder Lohn zur Existenzsicherung reichen muss», sagt SGB-Präsident Paul Rechsteiner. «Im Gastgewerbe würden Hunderttausende von unserem Vorstoss profitieren.» Eine Expertenkommission des SGB prüft zurzeit die gesetzliche Verankerung dieser Forderung.

Doch gesetzlich festgelegte Minimallöhne wollen die Arbeitgeber mit allen Mitteln verhindern. «Vor allem, wenn diese Löhne über dem Marktwert liegen», sagt Hans Reis vom Schweizerischen Arbeitgeberverband. Zurzeit untersteht hierzulande nicht einmal die Hälfte der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer einem Gesamt- oder Normalarbeitsvertrag.

Aber auch die vertraglich verankerten Minimallöhne liegen zum Teil jenseits der Schmerzgrenze: Im Gastgewerbe beträgt der Mindestlohn 3050 Franken, in der Coiffeurbranche 2800 und im Verkauf sogar nur 2500 Franken. Alles brutto, wohlverstanden. Und ein Angestellter, der keine Lehre abgeschlossen hat, muss mit einem noch tieferen Salär vorlieb nehmen: Der Minimallohn für Hilfskräfte im Gastgewerbe liegt bei brutto 2350 Franken.

Kinder werden zum Armutsrisiko

Solche Löhne liegen zum Teil sogar unter der Armutsgrenze, wie sie die Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe (SKOS) festlegt. Die Lebensunterhaltskosten für eine dreiköpfige Familie betragen laut SKOS 1880 Franken; hinzu kommen noch die Kosten für Miete und Versicherungen. «Mit einem Einkommen von brutto 4500 Franken hat eine dreiköpfige Familie bereits Mühe», so Eva Mosimann vom regionalen Sozialdienst Signau.

Caritas Schweiz geht davon aus, dass zwei Drittel der Working Poors in Haushalten mit Kindern leben. Carlo Knöpfel, Leiter der Stabsstelle der Caritas: «Das Aufziehen von Kindern ist zu einem eigentlichen Armutsrisiko geworden.» Diese Ansicht teilt die Sozialdemokratin Jacqueline Fehr. In einer parlamentarischen Initiative fordert die Zürcher Nationalrätin deshalb Ergänzungsleistungen für einkommensschwache Eltern.

Die erste Hürde hat der Vorstoss bereits genommen: Die nationalrätliche Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit hat die Initiative gutgeheissen, wenn auch knapp. Die Kosten für Bund und Kantone schätzt Jacqueline Fehr auf 600 Millionen Franken pro Jahr. Was ihr seitens der Gegner prompt den Vorwurf eintrug, sie wolle durch die Hintertür ein neues, teures Sozialwerk schaffen.

«Stimmt nicht», kontert die Politikerin. «Mit der Entrichtung von Ergänzungsleistungen würden viele Familien weniger Sozialhilfe und Krankenkassensubventionen benötigen.» Voraussetzung sei jedoch eine Verbesserung im Zulagensystem. Jacqueline Fehr geht davon aus, dass die bestehenden finanziellen Mittel ausreichen, um Kinderzulagen zu entrichten, die den Namen auch wirklich verdienen: 500 Franken für das erste Kind, 280 Franken für jedes weitere.

Kantone machen mobil

In einzelnen Kantonen gibt es bereits ähnliche politische Vorstösse – zum Beispiel in St. Gallen. Vier von fünf Gemeinden geben an, mehr oder weniger stark unter dem Phänomen der Working Poors zu leiden. Die St. Galler Regierung schlägt aus diesem Grund die Prüfung einkommensabhängiger Kinder- und Ausbildungszulagen sowie ein koordiniertes Kinderbetreuungsangebot vor.

Vorerst bleibt jedoch die Sozialhilfe das Auffangnetz für die wachsende Gruppe der Working Poors. Das ist problematisch, denn «die Leute schämen sich vor dem Gang zum Sozialamt», sagt Eva Mosimann vom Sozialdienst in Signau. «Viele Menschen, die von Armut betroffen sind, kommen erst zu uns, wenn sie bereits dramatisch hohe Schulden haben.»