Die Folgen der Fichenaffäre: Eine Chronologie
Am 27. Oktober 1988 telefoniert Bundesrätin Elisabeth Kopp einmal zuviel mit ihrem Ehemann: Der sofortige Rücktritt von Ehemann Hans W. Kopp aus dem Verwaltungsrat der Firma Trans K-B. (die unter Verdacht der Geldwäscherei steht) ändert nichts mehr daran, dass ein Skandal seinen Anfang nimmt. Der bundesrätliche Amtsmissbrauch wird publik, das Parlament setzt eine PUK (parlamentarische Untersuchungskommission) ein zur genaueren Untersuchung der Amtsführung der damaligen EJPD-Vorsteherin.
1989
Am 28. November präsentiert die PUK-EJPD ihre Resultate. Fazit: Die Bundespolizei hat ohne gesetzliche Grundlage über Jahrzehnte Hunderttausende von Bürgerinnen und Bürger beobachten lassen und registriert. Bundesrätin Kopp tritt zurück.
1990
Am 3. März 1990 machen 35000 Menschen ihrer Wut Luft und fordern vor dem Bundeshaus ihr Recht auf Akteneinsicht ein. Der Bundesrat muss seine ursprüngliche Absicht, alle Akten zu vernichten, zurückziehen.
Am 12. März beschliesst das Parlament eine zweite PUK zur Durchleuchtung des Militärdepartements (EMD), nachdem publik geworden ist, dass der militärische Nachrichtendienst (UNA) zusätzlich zur BUPO eine Fichenkartei führte (8000 Fichen).
Am 24. April 1990 beginnt die Unterschriftensammlung für die Volksinitiative «S.o.S - Schweiz ohne Schnüffelpolizei».
Am 23. November präsentiert die PUK-EMD ihre Ergebnisse: Schockierend sind v.a. Erkenntisse über die Geheimarmee P26 und den geheimen Nachrichtendienst P27 - geheime militärische Strukturen, die auch zivile Aufgaben hatten und mit der europäischen Geheimorganisation Gladio in Kontakt standen.
1991
Der Bundesrat will die Einsicht in die rund 1,2 Kilometer Akten aus Kostengründen drastisch einschränken; ein entsprechender Bundesbeschluss soll vom Parlament verabschiedet werden.
Das Bundesgericht hält fest, dass kantonale Akten auch Bundesakten sind und die Kantone grundsätzlich keine Einsicht in ihre Fichen gewähren dürfen; einzelne Kantone vernichten ihre Staatsschutzakten.
Am 30. September schickt Bundesrat Koller einen Entwurf zum Bundesgesetz über den Staatsschutz in die Vernehmlassung und am 14. Oktober wird die «S.o.S.-Initiative» mit 105664 gültigen Unterschriften eingereicht.
1992
Der Bundesrat muss am 1. Juli seinen Entwurf zum Staatsschutz-Gesetz zurücknehmen. In den Augen der meisten Kantone und Parteien liess das Gesetz zu viel Spielraum für die Staatsschützer. Bundesrat Koller will dem Parlament einen überarbeiteten Entwurf zu einem Staatsschutzgesetz vorlegen.
Auf den 1. Oktober lässt Bundesrat Koller eine Staatsschutzverordnung (ISIS) und Weisungen in Kraft treten. Damit erhalten die neuen Fichen eine wackelige rechtliche Grundlage, und die Computerisierung der Staatsschutzfichen wird eingeläutet. Zugleich erhalten alle Kantone eine vertrauliche «Beobachtungsliste». Darin sind diejenigen Personen und Organisationen aufgeführt, die weiterhin bespitzelt und observiert werden sollen.
1993
Der Einsatz von V-Männern soll gesetzlich geregelt und die Rechtsgrundlage für Telefonüberwachungen überprüft werden.
Am 1. Juli tritt das neue Datenschutzgesetz in Kraft. Im September erklärt Bundesrat Koller das Jahr1994 zum «Jahr der inneren Sicherheit», und am 20. Oktober schickt er das «Bundesgesetz über Zwangsmassnahmen im Ausländerrecht» in die Vernehmlassung.
1994
Am 7. März veröffentlicht der Bundesrat die Botschaft zu einem neuen Staatsschutzgesetz (Bundesgesetz über «Massnahmen zur Wahrung der Inneren Sicherheit»). Das Akteneinsichtsrecht wird damit faktisch abgeschafft.
Der Eidgenössische Datenschutzbeauftragte Odilo Guntern warnt davor, mit dem Staatsschutzgesetz die Verfassung zu verletzen. Zu viele Personen hätten Zugriff auf Polizeidaten. Guntern wird wegen seiner Kritik von Bundesrat Koller und EJPD-Generalsekretär Armin Walpen via NZZ heftig kritisiert.
Die eidgenössischen Räte verabschieden am 7. Oktober ein neues «Bundesgesetz über kriminalpolizeiliche Zentralstellen des Bundes», eine Gesetzesvorlage zur Bekämpfung der Organisierten Kriminalität. Es ermöglicht den Einsatz von Polizeiverbindungsleuten im Ausland und den Aufbauneuer Datenverarbeitungssysteme. Das Einsichtsrecht Betroffener in allfällige Vorfeldermittlungsakten ist ausgeschlossen.
Am 4. Dezember werden die «Zwangsmassnahmen im Ausländerrecht» vom Schweizer Stimmvolk mit 72,8 Prozent angenommen.
1995
Anfang Jahr zieht Bundesrat Koller erfolgreich Bilanz über das «Jahr der Inneren Sicherheit»1994. Von den 62 Projekten hätten einige erfolgreich abgeschlossen werden können.
Am 13. Juni behandelt der Ständerat als Erstrat die Initiative «Schweiz ohne Schnüffelpolizei» und – als indirekten Gegenvorschlag – das neue Staatsschutzgesetz. Mit 32:2 Stimmen lehnt der Ständerat die Initiative ab und führt gegen den Willen von Bundesrat Koller den «grossen Lauschangriff» ein: die elektronische Überwachung in Privaträumen ohne Deliktsverdacht. Das Recht auf Akteneinsicht hingegen bleibt abgeschafft.
Mit Beschluss vom 27. Juni erhält Bundesanwältin Del Ponte noch mehr Macht. Sie übernimmt künftig die Leitung von Ermittlungsverfahren in Fällen von internationalem und interkantonalem Drogenhandel sowie von Falschgelddelikten.
Das EJPD schickt im Juli einen Vorentwurf über die Regelung der Verdeckten Ermittler in die Vernehmlassung. Der Einsatz von sogenannten V-Leuten im Betäubungsmittelbereich und in Fällen von Organisiertem Verbrechen soll damit künftig auch in der Schweiz offiziell möglich werden.
Der Nationalrat verlängert im Oktober die Behandlungsfrist für die 1991 eingereichte Volksinitiative «S.o.S.-Schweiz ohne Schnüffelpolizei» um ein Jahr bis zum 14. Oktober 1996.
1996
Der Nationalrat berät am 4. und 5. Juni das Staatsschutzgesetz. Im Gegensatz zum Ständerat wird der «grosse Lauschangriff» abgelehnt, hingegen hält auch die grosse Kammer des Parlaments an der Abschaffung des Einsichtsrechts fest. National- und Ständerat können sich auch im Dezember nicht einigen, so dass das Geschäft bis ins Jahr 1997 weitergezogen wird.
1997
Über die Presse wird bekannt, dass die Bundesanwaltschaft gegen verschiedene Zeitungsredaktionen («Sonntags Blick», «Facts», «Der Bund») Telefonabhörungen angeordnet hat (Verdacht auf Amtsgeheimnisverletzung). Politiker und Medienvertreter fordern schärfere gesetzliche Bestimmungen zur Regelung der Telefonüberwachung.
Nach über zweijähriger Beratung, verabschiedet das Parlament am 21. März das Staatsschutzgesetz, das «Bundesgesetz über Massnahmen zur Wahrung der Inneren Sicherheit»; die Referendumsfrist läuft vom 8. April bis zum 7. Juli.
Anfang Juni schickt der Bundesrat den Entwurf eines «Bundesgesetzes über die Überwachung des Post- und Fernmeldeverkehrs» in die Vernehmlassung. Danach sollen alle Telefon- und Postüberwachungen durch einen neu zu schaffenden zentralen Überwachungsdienst durchgeführt werden.
Am 7. Juli übergibt das Komitee «Schluss mit dem Schnüffelstaat» der Bundeskanzlei 50800 beglaubigte Unterschriften zum Referendum gegen das Staatsschutzgesetz. In einer ersten Kontrollzählung findet die Bundeskanzleiaber nur rund 47000 gültige Unterschriften; nach einer zweiten Kontrolle sind es rund 2000 mehr. Trotzdem scheitert das Zustandekommen an 249 Unterschriften.
Am 7. Oktober beschliesst die Vollversammlung des Komitees «Schluss mit dem Schnüffelstaat» an der Volksinitiative «S.o.S - Schweiz ohne Schnüffelpolizei» festzuhalten.