Editorial: Der Weltuntergang lässt auf sich warten
Fredi Lüthins <b>Bilanz zum Jahreswechsel</b>: Der stellvertretende Chefredaktor stellt fest, dass er im Jahr 2000 mindestens 10 prophezeihte Weltuntergänge überlebt hat, und wünscht einen <b>guten Rutsch ins neue Jahr</b>.
Veröffentlicht am 19. Dezember 2000 - 00:00 Uhr
Freude herrscht! Sie gehören zu den wenigen Auserwählten, die das Glück haben, diese Zeilen noch lesen zu dürfen. Sagte uns Nostradamus nicht fürs Jahr 2000 «Angriffe auf Kernkraftwerke in Europa» voraus? Quelle: die «Glückspost» ausgerechnet. Gingen wir letztes Jahr nicht ganz knapp an einer riesigen Katastrophe vorbei? Hat man uns nicht Kometeneinschläge, Kriege, Krankheiten prophezeit und dazu Ozeane, die um sieben Meter steigen? Apocalypse now.
Umso erfreulicher ist meine persönliche Bilanz: Ich habe bisher mindestens zehn prophezeite Weltuntergänge überlebt.
Natürlich lese ich trotzdem weiterhin jeden Tag mein Horoskop, sicher ist sicher. Für heute etwa «sind Kontakte zu Freunden wichtig. Oder Gelegenheiten, sich in Ruhe auf dem Sofa zu kuscheln.» So was tröstet, auch wenn statt Sofa das Schreiben dieses Editorials angesagt ist.
Vorhersagen sind auch das Thema unserer Titelgeschichte. Gerade das Jahr 2000 hat unzählige Zukunftsforscher auf den Plan gerufen. Die Quintessenz all der Prognosen in einem Satz: Verlässlich ist nur die Wettervorhersage für den nächsten Tag zumindest an gewissen Tagen.
Trotzdem haben die Zukunftsdeuter Hochkonjunktur. Vermutlich deshalb, weil die Menschen nun mal irrationale Wesen sind, die Hochleistungscomputer nur deshalb erfinden, um damit besser auf virtuelle Moorhühner schiessen zu können. Und wenn er fertig gespielt hat, dann sehnt sich der Mensch nach möglichst grosser Gewissheit. Schon seit Jahrtausenden und in Zeiten des Wertezerfalls ganz besonders fragt er sich: Was wird morgen sein? Was übermorgen? Folglich wird heute jeder berühmt, der sich «Zukunftsforscher» nennt und gültige Antworten verspricht.
Trendforscher sind die Hohepriester der Neuzeit, auch wenn ihre Prognosen meist nur entfernt mit der Realität zu tun haben. Macht nichts. Wir fühlen uns trotzdem irgendwie besser, denn eine Prognose ist besser als keine selbst wenn sie falsch ist.
Ein Beispiel gefällig? Schachgenie Gary Kasparow prophezeite 1996, der Computer werde den Menschen frühestens im Jahr 2010 im Königsspiel besiegen. 1997 verlor Kasparow gegen den IBM-Rechner «Deep Blue», und Weltmeister ist er heute auch nicht mehr. Dumm gelaufen.
Na denn, einen guten Rutsch ins neue Jahr. Vermutlich wird ein möglichst selbstbestimmtes Segeln übers grosse Prognosen- und Wissensmeer der Informationsgesellschaft zur grössten Herausforderung des 21. Jahrhunderts (Achtung: Prognose!). Und wenn der nächste Weltuntergang vor der Tür steht denken Sie an das Sprichwort von Erich Kästner: «Wirds besser? Wirds schlechter? Fragt man alljährlich. Seien wir ehrlich: Leben ist immer lebensgefährlich.»