Editorial: Nach Grossmutters Art
Chefredaktor Balz Hosang sinniert über den gebrochenen Glauben an das unbeschränkte Wachstum, über das Auf und Ab der Wirtschaft und über unser oft massloses Wunschdenken.
Veröffentlicht am 20. Dezember 2002 - 00:00 Uhr
Rückblickend haben es plötzlich alle gewusst: Nur ein Narr konnte an stetig steigende Aktienkurse glauben, nur eine Dilettantin erwarten, dass auf Dauer Gewinne verteilt werden, die nicht zuerst erwirtschaftet worden sind! Niemand kann sich heute die Börseneuphorie, die uns noch vor kurzem in Atem hielt, so richtig erklären.
Viele haben ihren Glauben ans unbeschränkte Wachstum teuer bezahlt. Die Propheten des schnellen Geldes sind von ihren Sockeln gestürzt, und mancher Kleinanleger leistet schmerzhaft seinen Anteil an die horrende Zeche der Börsenvöllerei. Die Ernüchterung ist riesig, aber bei weitem nicht umfassend. Zwar hat die Talfahrt der Aktienkurse die ganze Wirtschaft ins Schleudern gebracht. Das führte vielleicht zu einiger Verunsicherung, aber kaum zu echtem Umdenken.
Unsere Titelgeschichte (Siehe Artikel zum Thema «Immer mehr, bitte sehr!») zeigt: Unsere Wünsche sind masslos geblieben. Wir wohnen, essen, reisen immer aufwändiger. Und es wird uns gepredigt, ja nicht nachzulassen in unserer Anspruchshaltung: Wer spart, schadet der Wirtschaft.
Unbestritten: Konsum schafft Arbeitsplätze. Aber mal wird der Konsum angeheizt, dass die Nachfrage kaum gedeckt werden kann; die Preise, Gewinne (und Umweltbelastungen) explodieren. Dann wieder wird gebremst, dass es im ganzen Gebälk der Volkswirtschaft knirscht. Dieses Hüst und Hott wechselt immer rascher. Mal haben wir zu viele Arbeitslose, mal zu wenig qualifizierte Arbeitskräfte. Mal fehlen Büros, mal stehen sie leer. Wurden wir gestern noch mit Krediten überschwemmt, wird heute der Geldhahn zugedreht.
Wir haben das (Augen-)Mass verloren. Die Prognosen und Rezepte der Wirtschaftspropheten wechseln schneller als die Jahreszeiten. Das macht die Gegenwart verwirrend, schürt Angst vor der Zukunft. Plötzlich sind nun aber so altmodische Begriffe wie Ausgewogenheit, Nachhaltigkeit und Solidarität in der aktuellen Diskussion aufgetaucht.
Kann es sein, dass die Lösung gar nicht so kompliziert ist? Vielleicht sollten wir unsere Eltern und Grosseltern mal fragen, wie man mit Krisen umgeht. Und einige Manager der ABB, der Credit Suisse oder der Rentenanstalt bei ihnen zu einem Nachdiplomstudium vorbeischicken.
PS: Es gibt ein Wachstum, das nachhaltig ist und uneingeschränkt Freude macht. Trotz schwierigen Zeiten zeichnet sich ein hervorragendes Sammelergebnis für unser Hilfswerk SOS Beobachter ab (siehe Artikel zum Thema: «Jede Spende lindert Not»). Herzlichen Dank!