Montag, acht Uhr in der Früh. Uber den Wiesen hängen graue Regenwolken, und die Stämme der Obstbäume glänzen nass. Es ist kalt, der Schnee nicht weit weg. Die Brüterei wirkt klein und unscheinbar neben den grossen, langen Ställen. Dabei ist sie das Herzstück des Hennen-Aufzuchtbetriebs tief in der thurgauischen Provinz.


Heute herrscht reger Betrieb: Wie jeden Montag sortiert der Geflügelzüchter die frisch geschlüpften Küken. Am Freitag wurden die ausgebrüteten Eier – 4800 waren es dieses Mal – von den grossen, Tresoren ähnlich sehenden Brutapparaten in den Klimaschrank gezügelt. Darin hackten sich die Küken übers Wochenende bei einer Luftfeuchtigkeit von 90 Prozent und einer Temperatur von 38 Grad Celsius mit ihren winzigen Schnäbeln mühsam den Weg aus der Schale frei. Pünktlich nach 21 Tagen Brutzeit – wie es sich für zünftige Vertreter von Gallus gallus domesticus gehört.


Die Böden der im Klimaschrank zu zwei hohen Türmen gestapelten Kunststoffkisten sind von zerbrochenen Schalen bedeckt. Die Küken stolpern auf ihnen herum, spähen mit den winzigen Knopfaugen durchs Plastikgitter ins Freie; da und dort liegt ein Tier, erschöpft von den Strapazen, auf den Trümmern seines Eis. Ein zartes Piepsen füllt den Schrank, untermalt von einem steten, trockenen Geknister – Tausende kleiner Füsse kratzen über harten Kalk. Die eine Hälfte der Küken ist blond, die andere hellbraun.


Alle paar Minuten angelt sich der Geflügelzüchter eine neue Kiste vom hohen Stapel. Mit routiniertem Griff hebt er die braunen Küken heraus und reicht sie an seine Frau und die Lehrtochter weiter, die sie mit Spritzenpistolen gegen die gefürchtete Geflügellähme impfen. Dann werden die Tiere in mit Sägemehl ausgestreute Kartonbehälter gesteckt – 100 Tiere pro Karton – und sind bereit für den Transport in die nahe Aufzuchthalle.


Die braunen Küken sind angehende Legehennen; nach den Sommerferien werden sie bereit sein zum Eierlegen. Ihre Lebenszeit ist begrenzt auf anderthalb Jahre. Dann kämen sie allmählich in die erste Mauser – eine Einrichtung der Natur, die im krassen Gegensatz zu den Gesetzen der Eierproduktion steht. Denn während dieses mehrere Wochen dauernden Wechsels des Federkleids frisst das Huhn sein Futter, ohne dafür einen Gegenwert in Form von Eiern zu liefern. Und wenn es schliesslich wieder mit der Produktion beginnt, erbringt das Huhn nicht mehr dieselbe Legeleistung wie vorher. Die Henne ist wirtschaftlich nicht mehr interessant. Deshalb landet das Tier meistens noch vor der ersten Mauser im Schlachthaus.


Die hellblonden unter den geschlüpften Küken sind kleine Hähnchen, und ihre Lebenszeit ist vorüber, kaum hat sie begonnen; sie enden alle in einem Kübel, dem mit einem Schlauch Kohlendioxid zugeführt wird. Die Hähnchen sterben rasch: Ein kurzes Piepsen, ein paar Bewegungen – vorbei ist ihr Erdendasein. «Keine schöne Arbeit», sagt der Geflügelzüchter knapp. «Aber so ist das halt.»


Hähne bringen zu wenig Geld

Als der Grossvater des Geflügelzüchters den Betrieb vor mehr als 70 Jahren gründete, züchtete er seine Hühner noch selber. Heute liegt die Zucht in den Händen einiger multinationaler Firmen, die Hochleistungstiere fabrizieren. Eine Linie ist für die Mästung entwickelt, die andere für die Eierproduktion. «So wie Autos immer schneller werden, müssen Hühner immer mehr Eier legen», sagt der Geflügelzüchter, der nur noch ein Aufzüchter ist.


Jedes Jahr kauft er in Deutschland und in den Niederlanden neue Elterntiere und importiert sie in die Schweiz. Sie liefern ihm die befruchteten Eier, aus denen er Schweizer Junghennen aufzieht und an die Eierproduzenten verkauft. Dass der Preisdruck die Eierproduzenten veranlasst, vermehrt billigere Junghennen aus dem Ausland einzuführen, verfolgt der Geflügelzüchter mit Sorge.


Die Hähnchen der Eierproduktionslinie erfüllen in keiner Weise die Anforderungen, die heute an Mastgüggeli gestellt werden. Und auch nur einen Teil von ihnen zusammen mit den Hennen zu halten wäre unwirtschaftlich. Für Hähne hat es im Land der Legehennen keinen Platz.


Ein paar Schritte von der Brüterei entfernt öffnet der Geflügelzüchter die Tür zu einer der grossen, niederen Aufzuchthallen. Nicht ohne vorher anzuklopfen, denn Hühner sind schreckhafte Wesen. Auf dem mit Sägemehl bedeckten Boden sausen 3000 Küken auf orangen Füssen in Richtung der hinteren Ecken – eine flache, goldene Welle kleiner Tierkörper. Auch hier wird gepiepst; die Kükenstimmen sind im Chor vereint zu einem endlosen, feinen Getriller. Zehn Tage alt sind die Tiere, und sie picken ihre Körner immer noch aus den Futterschalen. Bald werden sie lernen, wie die Grossen die Körner vom computergesteuerten Laufband zu picken, das der Länge nach durch die Halle führt. Computergesteuert sind auch die Raumtemperatur und die Beleuchtung.


Eine Halle weiter. Der Anblick ist überwältigend – und irgendwie bizarr: Ein Meer von braunen Hühnern füllt den Raum. Braune Hühner auf dem mit Stroh bedeckten Boden, braune Hühner auf den Sitzstangen, braune Hühner auf den Zwischenböden der Voliere, wie die mehrstöckigen Aufbauten in der Halle heissen, braune Hühner auf den Rampen, die auf sie hinaufführen. Uberall neugierig gereckte Hälse, überall flauschige, auf Stangen balancierende Hühner-Hinterteile. Gut 5000 Stück zehn Wochen alte Hennen leben in der Halle. Nach weiteren zehn Wochen werden sie das erste Ei legen.


Die Schweiz hat die längste Erfahrung mit tiergerechten Haltungsformen. Die Auflagen des 1981 in Kraft getretenen Tierschutzgesetzes verunmöglichen die Haltung in Käfigbatterien, wie sie im Ausland nach wie vor verbreitet sind. Von Gesetzes wegen hat eine ausgewachsene Schweizer Legehenne zudem Anspruch auf mindestens 14 Zentimeter Sitzstange, 8 Zentimeter Platz am Futterband und 2,5 Zentimeter Platz an der Tränkrinne. Nicht ganz die Hälfte der Schweizer Legehennen hat keinen Auslauf, sondern verbringt das ganze Leben in grossen Hallen; Bodenhaltungseier stammen aus solchen Betrieben.


Die andere Hälfte hat die Möglichkeit, sich mindestens in wintergartenähnlichen Vorbauten zu tummeln – und ein Teil der Tiere kann gar auf richtigen Wiesen nach Würmern und Käfern picken. Seit der Liberalisierung des Eiermarktes und der Freigabe des vorher vom Bund garantierten Eierpreises erfreuen sich solche Haltungsformen bei den Produzenten zunehmender Beliebtheit: Sie erzielen damit einen besseren Preis als die Kollegen, die weiterhin konventionelle Bodenhaltung betreiben. Die neuen Haltungsformen, die weiter gehen, als das Tierschutzgesetz es vorschreibt, werden vom Bund seit ein paar Jahren zudem mit Direktzahlungen gefördert.


Augenschein im Appenzellerland – bei einem jener Eierproduzenten, die solche Zahlungen beziehen. Der Tag ist nicht schöner geworden – im dichten Nebel das richtige Nebensträsschen zu finden ist nicht leicht. «Raus» heisst das Bundesprogramm, nach dem hier produziert wird – «regelmässiger Auslauf ins Freie». Seine 6000 Legehennen hält der Produzent in Herden zu je 1000 Stück. Auf der einen Seite der Ställe liegen die Ausgänge in den Wintergarten, und von dort geht es wiederum weiter in den grossen, umzäunten Auslauf. Auf der gegenüberliegenden Stallseite liegen in langen, mehrstöckigen Reihen die Nester – gut und gerne 300 Stück.


5000 Eier pro Tag

Wer kuschelige Osternester erwartet hat, wird enttäuscht. Ein so genanntes Einzelnest ist eine viereckige Nische, die eher Ähnlichkeit mit einem Briefkasten hat. Sie ist leicht abgedunkelt, ihr Boden ist mit einem weichen Material belegt und fällt nach hinten leicht ab. So können die gelegten Eier sacht ins Auffanggitter rollen, wo sie vom Produzenten eingesammelt werden. Gut 5000 Eier kommen so täglich zusammen. Die durchschnittliche Legeleistung der Hennen liegt bei 86 Prozent – 100 Hennen legen täglich 86 Eier. Einen Teil der Eier liefert der Produzent an Privatkunden, die andern Eier landen in Coop-Filialen und tragen das Natura-Plan-Label.


Der Produzent ist einer jener Geflügelhalter, deren Tiere intakte Schnäbel haben. Der harte, spitze, bis vorn mit Nervensträngen durchzogene Schnabel ist für das Huhn von zentraler Bedeutung: Mit dem Schnabel befreit es sich aus dem Ei, mit dem Schnabel pickt es sein Futter auf, mit dem Schnabel tastet es seine Umgebung ab. Für den Produzenten wichtig ist die Tatsache, dass sich das Huhn mit dem Schnabel bemerkbar macht, wenn etwas nicht in Ordnung ist: Wenn sich die ausgeklügelte Futtermischung nicht im Gleichgewicht befindet, wenn die Stalllüftung nicht optimal läuft, wenn die Lichtverhältnisse nicht stimmen, beginnen die Hühner sich selber und andere zu picken.


Hühner wollen beschäftigt sein

Was mit dem Ausrupfen von Federn beginnt, kann in blutigen Orgien mit zahlreichen Todesopfern enden. Der Kannibalismus ist das grösste Problem auf Hühnerfarmen. In der EU wird dem Huhn deshalb der Schnabel zu einem guten Teil abgeschnitten; in der Schweiz wird der vorderste Teil der oberen Schnabelhälfte vielerorts mit einer heissen Klinge gekürzt.


Der Appenzeller Produzent löst das Problem anders: Er beobachtet seine Herden sorgfältig und versucht Fehler in der Haltung zu vermeiden. Er sagt zudem, dass ein Huhn in seinem kleinen Kopf ein Programm mit Verhaltensweisen installiert habe, das es durchziehen wolle, wie immer es auch gehalten werde. Ein Huhn will vor allem unablässig mit seinem Schnabel den Boden bearbeiten. Ein Huhn müsse immer etwas zu tun haben, sagt der Produzent – und schubst die neugierigsten der Hennen, die durch die offene Stalltür in den Arbeitsbereich der Menschen hinausstolzieren wollen, vorsichtig in ihr Reich zurück.


Die Hennen des Eierproduzenten sind auch schon von Wissenschaftlern beobachtet worden. Auf Stühlen seien sie stundenlang mitten in den Herden gesessen und hätten das Verhalten der Tiere studiert, erzählt er. Uber den Einfluss der Herdengrösse auf die Befindlichkeit der Hennen weiss man bis heute sehr wenig. Während die Produzenten, die der KAG-Freiland und der Bio Suisse angeschlossen sind, die Herdengrösse auf 500 Tiere beschränken, hält der Grossteil der Schweizer Produzenten die Hennen in Gruppen von 1000 bis 3000 Stück. In der EU geht die Zahl allerdings in die Zehntausende.


Klare Hackordnung in der Gruppe

Klar ist, dass Hennen auch in riesigen Herden nach Kräften kleine Untergruppen zu bilden versuchen. Und eine Untersuchung zeigt, dass der Anteil der Hennen, die die Auslaufmöglichkeiten benützen, mit zunehmender Herdengrösse immer kleiner wird. Man weiss zudem, dass wild lebende Hühner – Küken mitgezählt – sich in Herden von etwa 25 Tieren bewegen. Solch kleine Gruppen wären für den Eierproduzenten jedoch viel zu aufwändig und zu unwirtschaftlich.


Wenn Hühner ihren Lebensstil frei wählen können, tun sich fünf Hennen und ein Hahn zu einer Gruppe zusammen. Der Hahn ist das Leittier, das Konflikte schlichtet, Futter sucht, die Hühner bewacht und beschützt. Das Gruppenleben ist durch die Hackordnung klar strukturiert. Wenn eine Henne Eier brütet, zieht sie sich an einen abgeschiedenen Ort zurück. 21 Tage lang sitzt sie auf den Eiern und wendet sie regelmässig. Etwa einen Tag vor dem Schlüpfen beginnt das Küken im Ei zu piepsen. Die Glucke antwortet ihm. Wenn es schlüpft, ist es auf die Stimme der Mutter getrimmt.


In den ersten Tagen nach dem Schlüpfen entfernen sich Henne und Küken nie weit voneinander. Immer wieder ziehen sich die Küken unter die Flügel der Mutter zurück. Bald beginnt die Glucke den Küken zu zeigen, wie man als Huhn sein Futter sucht. Hühner sind Allesfresser: Sie vertilgen Pflanzen, Körner, Samen, Würmer, Insekten, Küchenabfälle. Nach fünf Wochen scheucht die Glucke die Küken weg; jetzt müssen sie selbstständig werden. Die Geschwister verbringen noch einige Zeit im engen Verband, bis sie sich allein genügend sicher fühlen. Und dann führen sie noch zehn Jahre lang ein glückliches Hühnerleben.

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