Als mir die Ärztin nach der Ultraschalluntersuchung mitteilte, das Baby sei zu klein, eventuell gar unterversorgt, konnte ich das zuerst gar nicht glauben. Ich hatte den Eindruck, das Kind sei sehr kräftig; zum Ultraschall ging ich nur, weil ich mir für mein zweites Kind eine Hausgeburt gewünscht hatte.

Vier Wochen vor Jonathans Geburt hatten die Ärzte festgestellt, dass seine Arme und Beine zu klein waren. Dies sei auf ein verlangsamtes Wachstum der Röhrenknochen zurückzuführen, erklärten sie mir.

Jonathan werde als Erwachsener höchstens einen Meter dreissig gross werden.

«Ich will keinen Liliputaner», war meine erste Reaktion. Der Gedanke an ein kleinwüchsiges Kind war unerträglich. Ich weinte bei jeder Gelegenheit. Dann begann ich, mit Freundinnen und Angehörigen darüber zu reden. Das brachte mir das ungeborene Kind etwas näher.

«Alle freuten sich – nur ich nicht»
Zum Glück blieb mein Partner gelassen. Er war überzeugt, dass wir dieses Kind genauso lieben würden wie Samuel, unser erstes. In mir stritten sich die Gefühle. Einerseits spürte ich in mir eine starke Beziehung zum Baby, anderseits lehnte ich seine Behinderung ab. Ich fragte mich, ob ich es überhaupt gern haben könne. Wie sich meine Freundinnen und Angehörigen verhielten, rührte mich. Sie alle freuten sich auf das Baby – nur ich nicht.

Gleich nach seiner Geburt offenbarte uns Jonathan sein Wesen: Er war eigenständig und stark, so wie ich ihn während der Schwangerschaft immer empfunden hatte. Er kam zwei Tage vor dem geplanten Operationstermin zur Welt. Ich erinnere mich noch an die erste Geburtsphase mit Blasensprung und Wehen, nachher wurde ich narkotisiert und operiert. Der Kaiserschnitt war notwendig, weil Jonathan in Steisslage war. Zudem galt er mit seiner Behinderung als Risikogeburt: Bei kleinwüchsigen Kindern kann es zu Atmungsproblemen kommen. Doch Jonathan war zum Glück gesund.

«Sein Anblick schmerzte mich»
Während der Spitalzeit überlagerten die körperlichen Schmerzen den Schock über das behinderte Kind. Das Pflegepersonal behandelte Jonathan wie alle anderen Babys, und die Ärzte waren sehr einfühlsam. Ab und zu hatte ich zwar das Gefühl, man wolle mich schonen. Das hinterliess bei mir den Eindruck, mein Kind sei wirklich schwer behindert. Man gab mir ein eigenes Zimmer, obwohl ich nur allgemein versichert war. Meist lag Jonathan bei mir im Bett. Ich fand ihn herzig, und die Beziehung zwischen uns entwickelte sich.

Was mir fehlte, war der Stolz, ihn aus eigener Kraft geboren zu haben – und die Freude über ein «perfektes Kind». In die Kinderbettchen, die die anderen Mütter schwach, aber zufrieden durch den Gang schoben, wagte ich nicht zu schauen. Jedes Mal wenn ich Jonathan ansah, schmerzte mich der Anblick seiner zu kurzen Arme und Beine, des grossen Kopfs mit der eingefallenen Nasenwurzel. Und trotzdem: Ich wollte kein anderes Kind aus dem Spital heimnehmen.

Zu Hause wurde ich von der Spitex betreut. Meine Familie hatte so die Gelegenheit, Jonathan in aller Ruhe kennen zu lernen. Dank der externen Hilfe konnte ich mich auch intensiver um den vierjährigen Samuel kümmern.

Die Zeit nach der Geburt war äusserst anstrengend. Jonathan litt unter einem Schiefhals. Es folgten unzählige Physiotherapie- und Arztbesuche. Die Vorstellung, die nächsten Jahre in Wartezimmern verbringen zu müssen, erschreckte mich. Ich befürchtete, nicht mehr als Heilpädagogin tätig sein zu können und für die nächsten Jahre in einem «Behindertengefängnis» eingesperrt zu werden.

Nachts verspürte ich angstvolles Bangen, hatte ich immer wieder beunruhigende Visionen. Wie wird sich Jonathan wohl entwickeln? Kann er je selbstständig werden? Wird man ihn trotz seiner Kleinheit ernst nehmen? Ich drehte mich im Kreis. Ich dachte weit in die Zukunft: Was wird, wenn sich Jonathan in eine normalgrosse Frau verlieben sollte?

In dieser Zeit machten wir Bekanntschaft mit kleinwüchsigen Menschen und nahmen Kontakt auf zum Elternverein kleinwüchsiger Kinder. Wir fühlten uns mit unseren Problemen nicht mehr allein. Die Achondroplasie – so heisst Jonathans Behinderung – wurde zu einer Realität, an die wir uns allmählich gewöhnten. Es war eine intensive und anstrengende Zeit, aber Jonathan begann zu uns zu gehören.

Dennoch schmerzte es mich noch Monate nach der Geburt, meinen kleinen Sohn anzuschauen. Ich hatte doch ein gesundes, «schönes» Kind gewollt! Ich fühlte mich nach wie vor betrogen, war enttäuscht und wütend.

Über meine Gefühle und meine Entwicklung führte ich eine Art Tagebuch. Die Eintragungen entwickelten sich schliesslich zu einem Briefwechsel mit einer Frau, die mich durch diese Zeit begleitet und die an meinem Leben teilgenommen hatte. Das Schreiben hielt mich irgendwie zusammen. Ich lernte meinen Gefühlen Worte zu verleihen und präzis zu spüren, wie es mir in meiner Situation erging.

Ein strahlendes, gesundes Kind
Mein Partner, meine Freundinnen und Verwandten unterstützten mich, indem sie Jonathan so akzeptierten, wie er ist. Auch der Kreislauf der Natur in unserem Garten half mir: Er erinnerte mich daran, dass nichts stirbt, sondern dass es sich nur verwandelt. Ich kam langsam wieder bei mir an. Aber schliesslich war es Jonathan selber, der mir meine Sorgen nahm.

Ich hatte lange gefürchtet, Jonathan nicht richtig versorgen zu können. Ich hatte Angst, als Mutter zu versagen. Jonathans Wesen, seine Möglichkeiten kannte ich damals noch nicht. Er ist ein strahlendes, unternehmungslustiges, gesundes Kind geworden. Er hat sitzen gelernt, er robbt umher; inzwischen zieht er sich auch an Sesseln hoch. Er wird gehen und reden lernen. Wir sind heute überzeugt, dass er selbstständig werden wird.

Ich arbeite wieder teilzeitlich in meinem Beruf. Wenn ich nicht da bin, ist Jonathan bei der Tagesmutter. Er hat Beziehungen zu verschiedenen Personen und findet sich gut zurecht. Mit Vorliebe hilft er mir beim Kochen, rührt Salatblätter im Wasser, fischt sie heraus, dreht sie in der Salatschleuder. Jonathan ist wie andere Kinder seines Alters. Er geniesst es sehr, wenn er für seine Arbeit gelobt wird.

In unserer Familie ist inzwischen wieder der Alltag eingekehrt. Wir alle haben in den letzten Monaten viele Dinge gelernt, die uns helfen werden, auch weitere Stürme zu überstehen.

Der Briefwechsel ist für mich eine Aufzeichnung des Prozesses, den ich durchgemacht habe; er dokumentiert einen besonderen Lebensabschnitt. Meine Brieffreundin und ich haben beschlossen, aus unseren Erlebnissen ein Buch zu machen, und wir hoffen nun, dass wir einen Verleger finden werden. Ein bekannter Autor hat uns zugesichert, dass er eine Einleitung schreiben wird. Vielleicht kann das Buch anderen Eltern in ähnlichen Situationen eine Unterstützung sein. Der Briefwechsel war für mich ein seidener Faden, der mich durch eine schwierige Zeit geführt hat.