Plötzlich vergisst der Vater, die Herdplatten abzustellen; er fällt hin oder putzt nicht mehr sauber – erste Anzeichen der Unselbstständigkeit im Alter. Der schmerzvolle Weg der zunehmenden Abhängigkeit beginnt, Sorgen und Stress kommen bei den Angehörigen auf. «Besonders in der Weihnachtszeit werden Spannungen und anstehende Probleme in der Familie sichtbar», sagt die selbstständige Psychologin Monika Zimmermann Knobel aus Hinwil ZH.

Auch Paul Zürcher konnte nicht mehr länger allein leben. «Ich wollte ihn nicht in ein Altersheim abschieben», sagt Tochter Heidi Soppelsa aus Rebstein SG. Sie schaut ihren Vater liebevoll an. Er atmet tief ein, bevor er mit heiserer Stimme sagt: «Ich weiss, dass ich verwöhnt werde.» Und nach einer Pause: «Hier bin ich zu Hause, und ich schätze es enorm, dass ich da sein darf.»

Rund drei Fünftel der pflegebedürftigen älteren Menschen werden in der Schweiz von Angehörigen betreut. Oft sind es Ehepartner, Tochter oder Schwiegertochter, die sich um die Betagten kümmern, wenn es sein muss, rund um die Uhr. Und nicht selten bis zur totalen Erschöpfung. Eine Studie des Nationalen Forschungsprogramms von François Höpflinger und Astrid Stuckelberger zeigt, dass Betreuende häufig unter Angst, Depression und körperlicher Erschöpfung leiden.

Zur Pflege verpflichtet?
Heidi Soppelsa macht jeden Tag die Medikamente für ihren 83-jährigen Vater bereit, bringt ihn zum Arzt und plaudert oft mit ihm. Die Betreuung empfindet sie nicht als Belastung. «Solange es irgendwie geht, erledige ich die Arbeit. Ansonsten würde ich vermehrt die Spitex in Anspruch nehmen.» Soppelsa ist stark gefordert: Haushalt, Familie und Pflege des Vaters füllen den Tag der 58-Jährigen voll aus.

Viele Angehörige fühlen sich zu einer solchen Pflege verpflichtet. Vor allem bei älteren Paaren ist die Bereitschaft gross, für den Partner einzustehen. «Für die meisten ist sie eine Selbstverständlichkeit und wird nicht hinterfragt», sagt Soziologe François Höpflinger. Doch wie weit soll diese Hilfe gehen? «Offen miteinander sprechen, Bedürfnisse ehrlich auf den Tisch legen», rät Ida Waldner-Boos von der Pro Senectute Solothurn. Sie berät Familien, wenn Entscheidungen nötig sind. «Man muss sich immer wieder fragen, ob es einem gut geht», sagt Monika Zimmermann Knobel. «Oft werden eigene Wünsche zurückgesteckt, weil Schuldgefühle überwiegen.» Diese Haltung führe über kurz oder lang zum Kollaps, so die Psychologin.

«Übersteigt die Pflege die eigenen Kräfte, muss man Hilfe aktivieren», sagt Pflegefachfrau Waldner-Boos. Häufig wird vergessen, dass es neben der Familie auch noch Freunde und Nachbarn gibt. Oft fühlen sich Männer im pflegerischen Bereich nicht wohl, lassen sich aber für spezifische Aufgaben einbinden. «Mein Mann erledigt administrative Arbeiten. Ausserdem kümmert er sich um die technischen Geräte meines Vaters», erklärt Heidi Soppelsa. Und auch die jüngste Generation hilft mit: Will die Mutter ein paar Tage freimachen, übernimmt eine der beiden Töchter die Betreuung für den Grossvater. Im Gegenzug darf sie das Auto benutzen.

Ein Handy mit grossen Tasten
Für jede Arbeit hat die Pro Senectute Richtlinien zur Entgeltung erstellt. Für das Essen dürfen Angehörige 18 bis 26 Franken pro Tag verlangen, für den Haushalt oder die Pflege 18 bis 23 Franken pro Stunde. Oft muss Ida Waldner-Boos den Pflegenden Mut machen, das Geld auch wirklich einzufordern. «Geld verlangen bedeutet nicht, dass man einander nicht gern hat, sondern es ist eine Anerkennung der erbrachten Leistung», sagt sie. Ist diese Frage allerdings einmal geklärt, «ist meist eine deutliche Entspannung zwischen den Familienmitgliedern spürbar». Häufig wird das Entgelt auch über die Erbschaft geregelt, indem etwa die pflegende Tochter das Elternhaus zum Vorzugspreis erhält.

Neben der Pro Senectute gibt es unter anderem auch Hilfe bei der Spitex, den Quartiervereinen oder den Kirchen; diese Stellen bieten je nachdem Mahlzeiten-, Besuchs- oder Pflegedienste an. Zudem werden ältere Menschen in manchen Heimen für eine gewisse Zeit aufgenommen, und in grossen Städten gibt es auch Selbsthilfegruppen. «Reden ist umso wichtiger, weil man nicht nur gute Tipps erhält, sondern dies auch ein Weg aus der Isolation sein kann, in der sich Pflegende oft befinden», sagt Monika Zimmermann Knobel.

Betagte Menschen scheuen sich häufig vor technischen Hilfsmitteln, dabei können diese die Angehörigen stark entlasten. Telefon, Lichtschalter, Fenster und Türen lassen sich fernbedienen. Das Gerät am Handgelenk löst nach einem Sturz automatisch ein Notsignal aus oder zeigt an, wo sich der Betroffene befindet. Das Handy mit nur drei grossen Tasten macht das Telefonieren leicht. Voraussetzung ist jedoch, dass der Gebrauch der Geräte dem Betagten mehrmals erklärt und immer wieder getestet wird. Die Studie des Nationalen Forschungsprogramms bestätigt: Bei täglichem Einsatz waren die Hilfsmittel nach sechs bis neun Monaten Teil des Alltags und wurden von allen Beteiligten als Erleichterung empfunden. Selbstständigkeit und Sicherheitsgefühl nahmen zu.

Paul Zürcher fingert an seinem Handy herum. Seine Enkelin kommt auf ihn zu: «Nein. Schau, Opa, diesen Knopf musst du drücken, um Mama anzurufen.» Er hat begriffen und sagt: «Wir hatten zu unserer Zeit noch nicht einmal einen Computer am Arbeitsplatz.» Er erzählt von damals. Es ist eine andere Welt, seine Gabe, die er der Familie mitbringt.

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