Es war wieder einer dieser grauen, fiesen Wintertage im November, wo es schon zur Mittagszeit fast dunkel ist. Ein Tag, an dem man besser im Bett bleibt.

Doch Ernst Strehler, 47, Inhaber eines Torbauservice, hat an diesem Samstag, dem 16. November, noch etwas vor. Der gewissenhafte Handwerker mit dem Einmannbetrieb im Dörfchen Hagenbuch bei Winterthur muss für einen Kunden in Kollbrunn ein Garagentor montieren. Ein Rundumtor, um präzis zu sein – Routinesache für Strehler, den tüchtigen Geschäftsmann, der seine Arbeit liebt.

Nachdem er seinen Auftrag erledigt hat, fährt er mit seinem weissen Volvo Kombi von Kollbrunn Richtung Elgg. Es ist 17 Uhr. Im Kofferraum sitzt Jerry, der Schäferhund. «Hilfsmonteur», nennt ihn Strehler. Das Tier ist sein ständiger Begleiter – sein Freund, könnte man fast sagen.

Strehler fährt wie immer mit 80 Kilometern pro Stunde auf der wenig befahrenen, unbeleuchteten Strasse, auf der laut Polizei höchst selten etwas passiert. Er hört keine Musik. Er telefoniert nicht, schiebt keine Kassette rein, er isst nicht, er raucht nicht. Er fährt einfach, denkt über seine Arbeit nach – und nickt ein: eine, höchstens zwei Sekunden. Dann sieht er schwarz.

Sein Auto kommt ins Schleudern, wird von der Fahrbahn katapultiert, eine Böschung hinunter. Ungebremst prallt es in einen Baum und bleibt stehen. Strehler, angegurtet, rutscht mit dem Sitz schräg unter das Armaturenbrett.

Wo er ist, was war – er versteht es nicht. Schnell aber realisiert er, dass er in einer Lage steckt, aus der er sich nicht selber befreien kann. Um ihn herum Gras und Gestrüpp. Die Fensterscheiben seines Wagens sind kaputt. Sein rechter Fuss steckt unter dem Bremspedal fest.

Strehler sucht nach seinem Handy. Jetzt schnell die Schwester anrufen. Dann kommt die Polizei und holt ihn hier raus, kein Problem. Aber das Handy ist nirgends, jedenfalls nicht in Reichweite. Er flucht, denn er weiss, dass ihn hier unten im Bachbett niemand finden wird.

Scheinbar aussichtslose Lage
Es ist vier Grad kalt, dunkel und bald 18 Uhr. In Winterthur, acht Kilometer entfernt, steigt gerade der Theaterball. Auch Strehler hätte noch etwas vorgehabt. Seine Freunde warten im «Grütli» auf ihn – für ein Feierabendbier unter Kollegen.

Strehler grübelt. Erinnerungen tauchen auf: Ein Kind, es muss schon zehn Jahre her sein, spielt mit einem Ball und fällt vor ein Garagentor. Die Automatik setzt sich in Gang, das Tor gleitet schräg nach oben, nimmt das Kind mit, klemmt es ein, zwischen Torfläche und Betondecke, bis es stirbt. «Schrecklich», denkt der Eingeklemmte. Dass er unbeweglich und zusammengefaltet einmal im eigenen Auto festsitzen würde, daran hat der Spezialist für Garagentore nie gedacht.

Da fängt Strehler an zu beten. Sterben – mit 47 Jahren? Er hängt am Leben. Er hängt an seinem Geschäft, das er in den vergangenen sechs Jahren allein aufgebaut hat, und er hängt an seiner Kundschaft, für die er immer zur Stelle ist. Das kann es doch noch nicht gewesen sein…

Fragen drehen in seinem Kopf: Was ist ihm wichtig im Leben? Der geschäftliche Erfolg und sein guter Ruf. Was würde er ändern, falls ihn hier jemand rausholt? Ein Angestellter im Geschäft wäre schön. Und natürlich hätte er gern wieder eine Freundin oder Frau. Er ist geschieden, lebt schon lange allein und sieht seinen erwachsenen Sohn nicht oft.

Irgendwann in der Nacht sammelt er nochmals seine Kräfte und beginnt laut um Hilfe zu rufen. Doch seine bange Stimme zu hören macht ihm mehr Angst als Hoffnung. Dann fischt er unter dem Beifahrersitz einen Zollstock hervor, befestigt ein Blatt Papier daran und hält es wie eine Fahne in die Höhe. «Lächerlich», denkt er, «aber irgendwie muss ich mich ja bemerkbar machen.» Dann schlägt er mit einem Ast aufs Dach und hofft, dass ihn jemand hört. Zum ersten Mal in seinem Leben fühlt er sich verzweifelt und hilflos.

In seinem Kopf kreiert er Bilder, die real nicht existieren. Als sich eine kleine Tanne im Wind bewegt, meint Strehler, es sei ein Mensch, und er beginnt mit ihr zu sprechen. Doch da war nichts.

Jerry hat sich aus dem Kofferraum befreien können. Der Hund hat einen Kratzer an der Schnauze, ist sonst aber unversehrt. Immer wieder fordert Strehler ihn auf, loszurennen und Hilfe zu holen. Doch der Hund weicht nicht von seiner Seite. Er bleibt bei seinem Herrn.

Es wird ein Uhr nachts, zwei Uhr, drei Uhr. Strehler hat schon viel Blut verloren. Die Kälte kriecht in seinen Körper, seine Beine kribbeln. Schmerzen spürt er nicht, er steht unter Schock. Aber die Feuchtigkeit dringt durch den Autositz. Strehler wird müde. Jetzt nur nicht schlafen. Er könnte ja erfrieren. Er umfasst das linke Knie und merkt, dass er die Kniescheibe in der Hand hält.

Es ist vier Uhr, fünf Uhr, Sonntagmorgen. Ernst Strehler hat seit zwölf Stunden nichts getrunken und nichts gegessen. In der Blechruine eingeklemmt, fragt er sich: «Wo sind all die Rentner, Jogger, Reiter, die sich am Wochenende zu früher Stunde im Wald erholen?»

Es wird hell. Zu diesem Zeitpunkt spazieren ein Mann und Frau den nahe gelegenen Eidberg hinunter. Strehler ruft noch ein letztes Mal um Hilfe. Er glaubt inzwischen nicht mehr an seine Rettung. Er ist sicher, dass er sterben wird.

Zukunft voller Ungewissheit
Der 16. November hat Ernst Strehlers Leben verändert. «Mir wurde nochmals ein Leben geschenkt», sagt er und lächelt. Er ist dankbar für dieses zweite Leben, auf jeden Fall – doch wie es weitergehen soll, weiss er nicht.

Versichert? Das ist er, aber nur minimal. Ob er je wieder wird richtig gehen können? Der linke Oberschenkel ist kaputt, ebenso die Kniescheibe und das rechte Sprunggelenk. In seinem Beruf braucht er Kraft und Geschicklichkeit. Ob er die schweren Holz- und Metallteile wieder aus eigener Kraft wird transportieren können? Ob er je wieder ein schweres Industrietor wird montieren können? Die Konkurrenz in dieser Branche ist hart.

Zehn Wochen muss er noch im Rollstuhl sitzen. Erst in drei Monaten, sagen die Ärzte, könne er seine Beine wieder belasten. Ob dann noch jemand ein Garagentor von ihm will?

«Schwerverletzter nach 15 Stunden gefunden», las seine Schwester Dora am Montag in der Gratiszeitung «20 Minuten». Sie betrachtete das Foto mit dem zerbeulten weissen Auto, das im Baumstamm steckte. «Unglaublich, dass der Mann noch lebt», sagte sie und blätterte weiter.

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