Rund 13'000 Kinder leben in der Schweiz in Pflegefamilien. Das wurde im Jahr 2000 anlässlich der Volkszählung ermittelt. Mehr als die Hälfte dieser sogenannt fremdplatzierten Kinder sind bei Verwandten untergekommen.

Wann wird ein Kind in einer anderen Familie untergebracht? Wenn die Eltern das Kindswohl nicht mehr gewährleisten können, sie psychisch oder physisch krank sind oder das Kind misshandelt oder missbraucht wird. Doch wird das Leben von Pflegekindern tatsächlich besser? Isabelle und Nicole (beide Namen geändert) erzählen ihre Geschichte.

Quelle: Renate Wernli

«Für mein Gefühl machten die Pflegeeltern einiges falsch»: Isabelle (Name geändert)

Isabelle, 21

Meine Mutter ist depressiv. Als ich klein war, mussten meine Geschwister und ich ständig mit ihrem Gebrüll und mit Schlägen rechnen. Dass mein Bruder mich vergewaltigte, kehrte sie unter den Teppich. Mein Vater lebte bei uns, bis ich acht war. Wir sahen ihn aber selten. Wenn meine Mutter uns misshandelte, schaute er weg.

In die Pflegefamilie kam ich mit 16 Jahren. Zuvor verbrachte ich drei Jahre im Internat, wo es mir sehr gefiel. Ich hatte zum ersten Mal Kollegen. Danach wollte ich auf keinen Fall zur Mutter zurück. Mir war klar geworden, wie krank sie ist.

Das Internat schlug mir dann eine Pflegefamilie vor. Die Idee gefiel mir nicht, aber eine Pflegefamilie schien mir besser, als daheim zu wohnen. Meine Pflegeeltern fand ich auf Anhieb nett, obwohl sie in einem chaotischen Bauernhaus wohnten. Ich wusste: Diese Leute werden mich beschützen.

Das erste halbe Jahr war trotzdem schrecklich. Ich hatte Mühe mit dieser Art von Familienleben. Hier wurde erwartet, dass man alles mit allen bespricht. Das war ich nicht gewohnt. Bei uns daheim kümmerte es niemanden, was der andere denkt und wohin er geht. In der Pflegefamilie hatten alle Ämtli, so lernte ich Disziplin. Das war wichtig, aber ich fand es mühsam. Bei Arbeiten wie Stall ausmisten spürt man seinen Körper. Ich mag das aber nicht. Das hat mit der Vergewaltigung zu tun.

Es folgten gute Monate. Ich fühlte mich geborgen, lernte, eine eigene Meinung zu haben und Vertrauen. Meine Pflegeeltern lehrten mich, Zärtlichkeiten zuzulassen. Bis dahin erstarrte ich jeweils zu Eis, wenn mich jemand anfasste. Meine Pflegeeltern waren die Ersten, denen ich von der Vergewaltigung erzählte. Leider wurde die Beziehung zu ihnen nach einem halben Jahr schlechter, ich weiss nicht genau, warum. Ich hatte jetzt eine eigene Meinung, aber die vertrug sich nicht mit der meiner Pflegeeltern. In Sachen Erziehung dachte ich oft anders. Meine Pflegeeltern wissen zwar viel darüber, was Menschen wie ich brauchen. Aber man kann die Theorie nicht handbuchgetreu bei jedem Menschen gleich anwenden. Für mein Gefühl machten sie einiges falsch. Auch ich machte ihnen vieles nicht recht. Diese Familie war so anders. Es fiel mir schwer, ich selbst zu sein.

Nach zweieinhalb Jahren ging ich zurück zur Mutter, die ich regelmässig besucht hatte. Seit sie nicht mehr die Verantwortung für mich hatte, war sie entspannter. Aber es ging nicht lange gut. Nach einigen Monaten nahmen mich meine Pflegeeltern wieder auf, aber auch da wollte ich nicht bleiben. Im Januar 2007 zog ich in eine Wohngemeinschaft. Ich begann, in einer Therapie die Vergewaltigung aufzuarbeiten. Es war eine schreckliche, aber wichtige Zeit. Obwohl es mir miserabel ging, schaffte ich die Kanti. Bald beginnt nun das Studium.

Meiner Pflegefamilie gegenüber habe ich zwiespältige Gefühle. Obwohl sie sich viel Mühe gab, fühlte ich mich nicht verstanden. Anderseits erlebte ich, wie herzlich das Familienleben sein kann. Sie lehrten mich vieles, und dafür bin ich sehr dankbar. Es hat viel Mut gebraucht, die Stationen in meinem Leben zu meistern, und den verdanke ich auch meiner Pflegefamilie. Die Pflegefamilie war der einzige Weg. Er war hart, aber richtig.

Quelle: Renate Wernli

«Nicht nur meine Mutter war aggressiv. Auch ich prügelte mich häufig mit anderen»: Nicole (Name geändert)

Nicole, 22

In der Schweiz fühlte sich meine Mutter fremd, sie ist in Ghana und Togo aufgewachsen. Von meinem Vater hatte sie sich getrennt, als ich ein Baby war. Dem Mann, mit dem sie dann zusammenwohnte, war ich egal. Mit sechs zog ich in eine Pflegefamilie. Ich dachte, weil meine Mutter so viel arbeiten muss. Aber die Behörden wussten wohl, was bei uns lief. Nicht nur meine Mutter war aggressiv. Auch ich prügelte mich häufig mit anderen Kindern.

Ich kam ins Paradies: von einer Wohnung an der Zürcher Langstrasse in ein Haus ausserhalb der Stadt, in eine richtige Familie! Alle waren nett zu mir. Aber nach einem Jahr zog meine Mutter nach Aarau, und ich musste mit. Als ich acht war, zogen wir wieder nach Zürich. Ein Jahr später lief ich weg, direkt zur Pflegefamilie. Mein Halbbruder war geboren, und meine Mutter nahm mich kaum noch zur Kenntnis. Bei der Pflegefamilie konnte ich bleiben. Ich dachte oft weinend an meine Mutter, wusste jedoch, dass es kein Zurück gibt. Meine Mutter war wütend, dass sie mich nicht mehr haben durfte. Während vieler Jahre sah ich sie nur ein einziges Mal.

Bei meiner Pflegefamilie fühlte ich mich sofort wohl. Sie vertrauten mir und lehrten mich, anderen zu vertrauen. Trotzdem war ich erst schlecht in der Schule. Ich konnte mir nichts merken. Nach einigen Monaten verschwand der Nebel aus meinem Hirn. Ich kam von der Real in die Sek, dann ins Gymi. Etwa mit 13 Jahren ging es mir plötzlich schlecht. Ich hatte schlechte Noten, stritt mit meiner Pflegemutter. Vielleicht war das die Pubertät. Vielleicht rebellierte meine Seele nun doch noch. Zwei Jahre später war die Krise vorbei. Meine Pflegeeltern blieben immer verständnisvoll. Pflegeeltern leisten überhaupt eine Wahnsinnsarbeit. Sie müssen den Ballast ihrer Pflegekinder mittragen. Viele dieser Kinder sacken ab, nehmen Drogen, werden Sozialfälle. Pflegeeltern können nicht alles wiedergutmachen, was andere verbaut haben.

Nach der Matur reiste ich nach Ghana und Togo. Das war enorm wichtig für mich. Ich wollte endlich wissen, woher ich komme. Meine Verwandten erzählten mir viel über meine Eltern, und ich verstand einiges besser. Dass ich mit meiner Mutter kein inniges Verhältnis habe, schmerzt dennoch. Ich weiss nicht, ob ihr das Geschehene leidtut. Für sie ist es eine Niederlage, dass mich andere grossgezogen haben. Ich habe ihr gesagt, dass ich meinen starken Willen doch von ihr geerbt habe. Als ich ihr erzählte, dass ich die Aufnahme an die Polizeischule geschafft habe, war sie stolz auf mich. Sie erlebt, dass mir das gelingt, was sie nicht schaffte: Teil dieser Gesellschaft zu sein. Vielleicht akzeptiert sie eines Tages, dass ich das ohne meine Pflegefamilie kaum so gut hinbekommen hätte. Und dass sie trotz allem meine Mutter ist.