«Wenn ich ihr anständig sage, sie habe mir etwas schon einige Male gesagt, ist Feuer im Dach – und ich bin eine ‹schlechte Tochter›. Ich hatte eine schwere Kindheit, niemand kümmerte sich um meine Sorgen. Hängen die Probleme wohl damit zusammen?» Beatrice Z.

Zweifellos haben Ihre Probleme die Wurzeln in der Kindheit. Aber diese Erkenntnis nützt Ihnen nur, wenn Sie tief im Innern realisieren, dass die Kinderzeit vorbei ist und Sie längst eine erwachsene Person sind. Seltsamerweise verharrt unsere Psyche oft in alten, ungesunden Zuständen, obwohl eine Befreiung jederzeit möglich wäre. Neben unserem angeborenen Entwicklungspotenzial gibt es eben auch eine unbewusste Angst vor Veränderungen.

Bei meiner Arbeit als Beobachter-Berater und als Psychotherapeut bin ich immer wieder erstaunt, wie viele Menschen es nicht geschafft haben, sich von ihren Eltern zu lösen. Damit ist nicht gemeint, dass man sich von ihnen abwenden und den Kontakt zu ihnen abbrechen soll. Auch das wäre ungesund für die Psyche.

Wenn Kinder den Eltern als Stütze dienen müssen
Ob die Eltern uns das geben konnten, was wir brauchten, oder ob sie uns vielleicht sogar gequält haben – dies alles ändert nichts daran, dass wir würdigen müssen, dass wir ihnen unser Leben verdanken. Es ist zwar schön, wenn man ihnen ihre Fehler verzeihen kann, aber es ist nicht unbedingt nötig. Abgrenzung kann auch geschehen, indem man das Leid, das man erlebt hat, klar und deutlich sieht, aber auf Rachegedanken verzichtet. Man überlässt es Gott, Schicksal oder Karma, für Gerechtigkeit zu sorgen.

Selbstverständlich machen Eltern – genauso wie Lehrer, andere Berufsleute oder Partner – Fehler, in unterschiedlichem Masse. Aber dies ist meist nicht auf Bosheit oder schlechten Willen zurückzuführen, sondern auf mangelnde Fähigkeiten. So können Eltern, die überfordert sind oder unter psychischen Störungen leiden, zu einer Belastung für ihre Kinder werden, statt fördernd und unterstützend zu wirken. Eine grundsätzliche Fehlkonstellation liegt vor, wenn Eltern die Kinder zu ihrer eigenen Stabilisierung brauchen, weil sie allein mit dem Leben nicht zurechtkommen. Diese Parentifizierung der Kinder, wie man es im Fachjargon nennt, kommt häufiger vor, als man glauben würde. In einer gesunden Familie sind die Eltern für die Kinder da und nicht die Kinder für die Eltern.

Wenn jemand im Kindesalter als Stütze der Eltern missbraucht wurde, gilt es, dies im Erwachsenenalter klar zu erkennen und den alten «Job» endgültig hinzuschmeissen. Wenn Eltern im Alter hilfs- und pflegebedürftig werden, sieht es wieder anders aus. Da ist es schön, wenn man für sie ein wenig die Verantwortung übernehmen kann. Ein solches Engagement führt nicht ins Uferlose – vorausgesetzt, man hat sich wirklich abgelöst.