Es gibt keinen Gott. Sonst hätte er verhindert, dass meine Frau Irma im letzten November hier in Sirnach neben mir auf dem Trottoir von einem alkoholisierten Raser brutal ermordet wurde - buchstäblich wegrasiert. «Dein Wille geschehe», heisst es im Unservater. Aber wessen Wille? Darauf bekomme ich keine Antwort. Und ich finde keinen Trost. Der Täter ruinierte auch mein Leben. Alles ist dahin. Nichts ist mehr wie früher.

An jenem Tag machten Irma und ich uns auf den Weg zum Coop. Wir gingen nebeneinander auf dem Trottoir. Ich links, sie rechts. Plötzlich sah ich etwas auf uns zufliegen. Ich hörte einen Knall und realisierte, dass ein Auto mit überhöhter Geschwindigkeit in der Kurve auf das Trottoir geraten war - meine Frau frontal erfasst und durch die Luft katapultiert hatte. Sie schlug an einem Kabelkasten des Elektrizitätswerks auf und blieb liegen. Es war am 19. November um 8.45 Uhr.

Wie ich in der Lage war, sogleich per Handy die Polizei zu alarmieren, kann ich mir bis heute nicht erklären. Dann rannte ich zu meiner Frau und rief: «Irma, Irma!» Keine Reaktion. Nur Blut. Nach der ersten Hilfe durch die Ambulanz kam ein Helikopter, der sie nach St. Gallen ins Spital brachte. Ich wurde zurückgehalten und an Ort und Stelle einvernommen - im Polizeiauto, weil mir so kalt war. Zu Hause wartete ich auf den Sohn, um mit ihm ins Spital zu fahren. Als wir dort ankamen, war Irma an ihren Verletzungen gestorben. Ich war am Ende.

Der Autolenker und sein schlafender Beifahrer auf dem Hintersitz blieben unverletzt. Der Raser, ein 25-jähriger Sanitärinstallateur aus einer Nachbargemeinde, konnte den blauen VW Bora zum Stehen bringen. Er stieg aus, lachte und schrie wild durcheinander. Als er sich davonmachen wollte, wurde er in Handschellen abgeführt. Im Auto lagen noch Bierflaschen und -dosen herum. Die Blutproben ergaben einen mittleren Alkoholgehalt von 2,33 Promille. Er hatte auch noch Kokain konsumiert. Bei der Einvernahme am nächsten Morgen auf dem Polizeiposten sagte er laut Protokoll als Erstes: «Scheisse.»

Das Gefühl, man müsse bleiben
Ich weiss gar nicht, wozu ich überhaupt noch da bin. Mein Leben ist kaputt. Als einzige Erinnerung an meine Frau bleibt mir die Wohnung. Neben der unendlichen Leere verspüre ich hier so etwas wie ihre Gegenwart. Vor 33 Jahren zogen wir gemeinsam ein, als ich die Stelle als Bahnhofvorstand antrat. Seit neun Jahren bin ich pensioniert. Jetzt denke ich jeden Morgen als Erstes an meine Irma. Ich gehe auf die Terrasse, wo ich die Urne mit ihrer Asche in einer Blumenkiste eingegraben habe, und rede zu ihr. Vor dem Schlafengehen dasselbe Ritual. Auch wenn ich nicht glaube, sie je wiederzusehen - ich hoffe es trotzdem.

Lange war ich unschlüssig, ob ich von hier wegziehen soll. Manchmal hatte ich das Gefühl, ich müsse noch bleiben. Doch als ich jeweils meinen Sohn in Arosa besuchte, reifte der Entschluss, dort eine Wohnung zu suchen. Schon auf der Hinfahrt im Zug spürte ich eine innere Ruhe. Allerdings kommen mir noch heute die Tränen, wenn ich bei Flums durchfahre: Dort lernte ich meine Frau kennen und erlebte mit ihr die glücklichste Zeit.

Jetzt steht fest: Mitte Juni ziehe ich nach Arosa. Ich fand eine kleine Wohnung und freue mich richtig. Den Lärm hier um den Bahnhof ertrage ich nicht länger. Und auch das Umfeld stimmt nicht mehr. Die Urne nehme ich mit und verstreue die Asche an einem friedlichen Ort. Das haben meine Frau und ich schon früher so ausgemacht. Auch der 13-jährige Hund meiner Enkelin, der jetzt bei mir lebt, kommt mit. Er gibt mir Trost und lenkt mich etwas ab.

Es ist gut, dass ich jetzt diesen Schritt mache. Die Trauer braucht einfach Zeit. Am Anfang zog es mich immer wieder an die Unglücksstelle zurück, wohl um Abschied zu nehmen. Jetzt weiche ich dem Ort aus. Ich bin generell ängstlich geworden, besonders auf dem Trottoir. Nachträglich bin ich froh, dass ich mich überreden liess, meine Frau im Spital tot nochmals zu sehen - sie ein letztes Mal zu berühren und zu ihr zu sprechen. So muss ich mir keine Vorwürfe machen.

Vom Täter selber habe ich nie mehr etwas gehört. Seine Schwester meldete sich einmal telefonisch und fragte mich, ob ich mit ihm Kontakt aufnehmen möchte. Das ist für mich unvorstellbar. Ich kann ihm nicht verzeihen und will auch keine Entschuldigung entgegennehmen. Ich könnte ihm nicht in die Augen schauen. Er hat für mich keine Lebensberechtigung mehr.

Manchmal denke ich, es hätte besser gleich uns beide, meine Frau und mich, getroffen. Was soll ich allein? Ich hintersinne mich auch, ob ich in unserer Ehe alles richtig gemacht habe und Irma genügend spüren liess, wie sehr ich sie liebe. Wir sprachen nie darüber, wie wohl der eine nach dem Tod des anderen weiterleben würde. Ich glaube, ich finde mich allein mit der Administration des Alltags besser zurecht. Irma musste sich nie um Zahlen kümmern. Sie war ganz für die beiden Buben da und setzte sich für ihre grosse Familie mit den zehn Geschwistern ein. Sie half, wo sie nur konnte. Nach einem Herzinfarkt rettete sie mir geistesgegenwärtig das Leben. Dass ich sie am 19. November nicht beschützen konnte, quält mich besonders.

Wieder Autorennen vor der Haustür
In den Medien wird über solche Verkehrsunfälle oft oberflächlich und unsensibel berichtet. So musste ich zwei Tage nach Irmas Tod in der Regionalzeitung lesen: «Betagte Frau auf dem Trottoir von Auto angefahren». Mit 68 Jahren ist eine fröhliche, gesunde Frau doch nicht «betagt». Irma hätte noch ein glückliches Leben vor sich gehabt. Die Politiker scheinen solche Dramen mit Todesrasern stillschweigend zur Kenntnis zu nehmen.

Auch von den lokalen Behörden bin ich enttäuscht. Schon vor drei Jahren schrieb ich an die Gemeinde Sirnach, hier beim Bahnhof würden sich immer wieder jugendliche Raser treffen. Das Gelände gehöre den SBB, hiess es, man werde bei Gelegenheit auf meinen Brief zurückkommen. Dann hörte ich nichts mehr. Als ich jetzt im April die Bahnpolizei orientierte, dass sich vor meiner Tür Jugendliche wieder Rennen lieferten, bekam ich am Telefon zu hören: «So schlimm sind die Jugendlichen auch wieder nicht.» Mir fehlten die Worte.

Dass ich nach diesem unbegreiflichen Drama den Glauben an Gott verloren hatte und die Familie keine kirchliche Abdankung wünschte, respektierte der Pfarrer. Im engsten Kreis richtete ich die letzten Worte an meine Frau: «Bitte, liebe Irma, mache uns stark, halte uns zusammen.» Mein Sohn fragte in seinem Abschiedsbrief nach dem Sinn des Unfassbaren: «Was ist an diesem Ort geschehen? Warum ist es geschehen? War es Vorsehung oder einfach nur Zufall? Fragen, auf die wir keine Antwort wissen und auf die uns niemand eine Antwort geben kann.»

Ja, das ist es. Das Unerklärliche macht mein Leben immer wieder unerträglich.