Der Tisch ist noch derselbe. Hier sassen wir uns immer gegenüber, Gisela Schmucki und ich, während sie davon erzählte, wie es ist, bald sterben zu müssen. Manchmal hatte sie für unsere Treffen einen Cake gebacken, ihren Schokolade-Kokosnuss-Cake, der so phänomenal saftig war. Es gab Tage, da verschlang sie drei Stück davon, da hatte sie Hoffnung.

Manchmal schlug sie auf den Tisch. «Ich will nicht sterben! Was soll aus meinen Kindern und aus meinem Mann werden, wenn ich nicht mehr bin?», rief sie dann, und die Fäuste trommelten. Leise Schläge, weil ihre Hände nur noch Knochen und ohne Kraft waren.

Ein einziges Mal sass auch ihr Mann mit uns an diesem Tisch. Markus Schmucki sah damals abgekämpft und müde aus, dunkle Augenringe, unrasiert. Sein Kiefer mahlte, seine rechte Hand knetete die linke, er wirkte wie ein gehetztes Tier. Sagte fast nichts. Und wenn er sprach, waren es kurze, atemlose Sätze, fast so, als ersticke er an der Situation. «Was kommt, wenn du stirbst? Was passiert mit den Kindern?» Sie antwortete nicht.

In der Küche liegt noch dasselbe Tischtuch

Im Mai 2008 kam der Tag, an dem Gisela Schmucki, 45 Jahre alt, ihren Kampf gegen den Krebs endgültig verlor. Sie war damals schon nicht mehr zu Hause, sondern im Spital. Bis sechs Uhr abends sass Markus Schmucki noch am Bett seiner Frau, streichelte ihr eiskaltes Gesicht, dann ging er nach Hause, um das Nachtessen für die Buben vorzubereiten. Als er weg war, als sie allein war, starb sie.

Wenige Wochen nach ihrem Tod erschien im Beobachter eine Reportage über die letzten Monate in Gisela Schmuckis Leben (siehe Artikel zum Thema). Nun, zwei Jahre später, bin ich zurückgekehrt in die Küche der Schmuckis, zurück an diesen Tisch. Ich will wissen, wie es ist, ohne sie weiterzuleben. Weiterzuleben mit dieser Leerstelle, die sie zurückliess. Wie geht es Markus Schmucki, den Söhnen Nicolas, 16, Lucas, 15, und Jonas, 13, heute?

Nichts ist verändert. Sogar das Tischtuch ist noch dasselbe. Wachstuch, blau-gelb kariert. Trotzdem ist alles anders. Damals, als Gisela Schmucki noch lebte, wirkte die Wohnung, als hätte jemand eine schwere Decke über alles ausgebreitet. Das Atmen fiel einem schwer.

Die Decke ist weg. Markus Schmucki bewegt sich leichtfüssig durch die Küche. Er ist barfuss, trägt kurze Hosen. Er pfeift vor sich hin, eine heitere Melodie, während er den Kaffee serviert. Dann setzt er sich und sagt erst einmal lange nichts, lächelt nur. Ein Lächeln, so übermütig, dass im Gesicht fast zu wenig Platz dafür ist. «Mir geht es blendend», sagt er irgendwann. «Ich bin bis über beide Ohren verliebt.»

Am ersten Tag nach dem Tod seiner Frau brachte er die Kisten voller Medikamente weg. Am zweiten sortierte er ihre Kleidung aus. Er musste etwas tun, er konnte nicht einfach nur dasitzen und trauern. Er wäre vor Schmerzen explodiert. Ihre Perücke liess er noch etwas länger im Badezimmerschrank liegen, aber irgendwann kam auch die weg. Alles, was an sie erinnerte, musste er raushaben aus der Wohnung, ihre Winterstiefel, den braunroten Lippenstift, das Bett, in dem er sich ohne sie so verloren fühlte. «Das Leben musste irgendwie weitergehen, auch ohne Gisela.» Das sagt Markus Schmucki heute. Damals kam er sich in seinem Aktivismus vor wie ein Ertrinkender, der um sein Leben strampelt.

Neues Glück ohne schlechtes Gewissen

Manchmal hat er auch heute noch das Gefühl, unterzugehen in seiner Trauer. Er flippt wegen Nichtigkeiten aus, schreit einen der Söhne an. Seine neue Partnerin umarmt ihn dann und flüstert ihm wohltuende Sätze ins Ohr, dass sie ihn verstehe, dass er ein guter Vater sei, dass der Kampf vorbei sei. Bis er sich wieder beruhigt.

Seine neue Freundin – eine entfernte Bekannte der Familie, die, als der Krebs bei Gisela Schmucki ausbrach, zur guten Freundin wurde. «Gisi verstand sich gut mit ihr. Wir sahen uns nicht oft, aber die beiden standen sich sehr nahe. Sie begrüssten sich immer mit einer langen Umarmung.» Nach dem Tod seiner Frau verlor Markus Schmucki die Bekannte aus den Augen. Er vergass sie. Bis er, wieder einmal, fast umkam vor Sehnsucht nach seiner Frau. Das war im April, er gab den Namen der Bekannten in die Suchmaschine von Facebook ein. Einfach, weil er jemanden suchte, der seine Frau kannte, jemanden, mit dem er über Gisela sprechen konnte. Das Facebook-Foto zeigt eine Frau um die 40, strahlend, kurze braune Haare, mit vielen Lachfältchen um die Augen.

Am Wochenende zieht sie jeweils zu Schmuckis. Um auszuprobieren, wie das geht mit den Kindern. Und mit ihr und Markus Schmucki. Auf dem Ämtliplan in der Küche steht seit neuestem auch ihr Name vor «Geschirrspülmaschine».

Er und seine drei Buben seien so etwas wie eine Familie mit Loch, sagt Markus Schmucki. Gisi werde immer fehlen. Aber das Loch sei kein Abgrund mehr. Und vielleicht werde sich das Loch dank seiner neuen Liebe langsam wieder schliessen. Als ich ihn frage, ob er glücklich sei, sagt er nicht: Was ist schon Glück, gibt es das überhaupt? Obwohl er Grund dazu hätte. Stattdessen erzählt er die Geschichte mit dem Liegestuhl: «Kürzlich waren wir auf Djerba in den Ferien, meine Partnerin, ich, die Kinder. Morgens reservierten wir fünf Liegestühle am Strand. Und am Schluss sassen wir jedes Mal doch alle zusammen nur auf einem einzigen Stuhl. Es war brutal eng, aber uns machte das nichts aus.»

«Jungs, wie findet ihr sie?», ruft Markus Schmucki ins Wohnzimmer rüber. Die Antwort kommt nicht sofort. Während er wartet, hält er den Kopf gesenkt und lächelt vor sich hin. Lucas schreit zurück: «Also ich mag sie.» Jonas kommt in die Küche: «Ich antworte erst, wenn ich ein Glas Pepsi darf.» – «Du trinkst Wasser!» – «Bitteee!» – «Nichts da!» Jonas öffnet den Kühlschrank, nimmt die Pepsi-Flasche, schenkt sich ein und leert das Glas in vier Schlucken. «Ich mag sie auch.» Jonas grinst. Markus Schmucki freut sich. «Diesen Schalk hast du von deiner Mutter.» Wenn er sich freut, drückt sein ganzer, kräftiger Körper diese unbändige Freude aus. Nicht nur sein lächelnder Mund, auch die Augen, das Profil, der Rücken, die Arme und Beine. Alles ist irgendwie in Aufruhr.

Das Schöne an Markus Schmucki und seinen Söhnen: Sie haben kein schlechtes Gewissen, wenn das Glück mit ihnen durchbrennt. Sie lassen sich einfach mitreissen, Glücksritter, die den Gegenwind im Gesicht geniessen. Andere würden vielleicht nicht aufspringen auf dieses wilde Pferd. Andere hätten vielleicht Angst, würden denken: Je weiter fort mich das Glück trägt, umso kleiner wird die Erinnerung.

Gisela Schmucki, die Schicksalsgöttin

Markus Schmucki hat keine Angst vor dem Vergessen. «Gisi trage ich immer in meinem Herzen.» Er klopft sich auf die linke Brust. Dann zeigt er mit dem Finger zur Decke. «Aber sie ist auch da oben im Himmel.» Ein weisser Strand an einem türkisblauen Meer, so stellt er sich den Ort vor, an dem Gisela Schmucki jetzt ist.

Ich erinnere mich an ein Treffen mit Gisela Schmucki. Draussen schneite es. Wir sassen am Tisch und schauten alte Fotoalben an. Ferienfotos von den Bahamas, sie beide waren noch jung, wirkten wie grosse Kinder, die Entdeckungsreise spielen. Mal war sie in einem Bikini mit Blumenmuster zu sehen, mal in einem luftigen Sommerkleid. Und er trug weisse, leichte Leinenhemden. Und immer waren da im Hintergrund das türkisblaue Meer und ein unendlich langer weisser Sandstrand.

Er weiss, dass es ihr gut geht an diesem Ort. Er weiss es einfach. So wie er weiss, dass sie von dort oben immer ein Auge auf ihn und die Kinder wirft. Sie sei ihr Schutzengel, sagt Markus Schmucki. «Überall hat sie ihre Finger im Spiel. Sie war es auch, die mich und meine jetzige Partnerin zusammengeführt hat, das hat sie ausgeheckt, da bin ich mir ganz sicher.» Markus Schmucki nimmt das Glück, weil es von ihr kommt.

Gisela Schmucki ist jetzt die persönliche Schicksalsgöttin ihrer Familie. Das ist genial. Im Prinzip weiss Markus Schmucki nun immer: Alles wird gut. Wer sonst kann das mit solcher Bestimmtheit sagen? Und alles wurde gut: Lucas, dessen Schulnoten nach dem Tod der Mutter immer schlechter wurden, hat sich wieder gefangen. Markus Schmucki, der nur noch zwischen Job, Haushalt, Kinderbetreuung rotierte, der ohne Tabletten nicht mehr schlafen konnte, hat seine Mitte wieder gefunden. Er pfeift wieder vor sich hin. Aufgehört zu rauchen hat er auch. Er gibt ja zu, dass sich die Lage vor allem dank dem breiten Unterstützungsnetz entspannt hat. Haushaltshilfen, Sozialpädagoge, Schwiegereltern, Mutter, alle packen sie mit an. Aber: «Gisi hat das alles so eingefädelt.»

Jetzt sitzen auch die Jungs mit am Tisch. Sie erzählen von der ersten Zeit nach dem Tod ihrer Mutter, die ein einziger Schock war. Darauf der Vater: «Ich war völlig fertig mit den Nerven, ich habe euch oft angeschrien.» Jonas: «Ach, wir sind da ziemlich verständnisvoll.» Sie lachen. Sie haben es überstanden. Sie sind ein gutes Team.

Nur etwas irritiert. Sie haben das Glück gepackt, leben im Hier und Jetzt. Trotzdem träumen sie voller Sehnsucht vom Wiedersehen im Jenseits. Ihre Sätze beginnen so oft mit «dann». «Dann sehen wir uns wieder, dort am türkisblauen Meer. Dann umarmen wir uns. Dann sind wir wieder vereint. Dann wird alles nur noch schön, nur schön.» Dieser Gedanke an das Wiedersehen gebe ihnen Halt und die Kraft zu leben, sagt Markus Schmucki. Vielleicht ist das Leben mit Leerstelle immer auch ein Leben im Spagat.