Wann kommen sie? Warum kommen sie? Was könnte der Auslöser sein? Und vor allem: Was kann sie stoppen? Es sind immer dieselben Fragen, die sich Beatrice Diriwächter aus dem aargauischen Vordemwald stellt. Und noch immer hat sie keine Antworten. Es gibt keine Erklärung für die Tics ihres Sohnes Jan. Man kann nicht sagen, wenn er dies macht, kommen sie, und wenn er das macht, kommen sie nicht. Die Tics sind unberechenbar. Jan ist unberechenbar. Manchmal hat man den Eindruck, in ihm wirke jemand anders. Seinem Mund entfährt nur ein «Huh». Dann zucken seine Schultern.

Seit dem fünften Lebensjahr hat Jan motorische Tics. In diese Zeit fiel auch die Scheidung seiner Eltern. Sechs Jahre später kam er nach einem Umzug in eine neue Klasse und gab plötzlich unwillkürlich Laute von sich. Die Mutter dachte erst, der Ortswechsel sei schuld, und machte sich Vorwürfe: «Es hats zwar niemand gesagt, aber ich hatte das Gefühl, dass alle denken, das arme Kind stehe unter Stress wegen seiner Mutter», sagt Beatrice Diriwächter am jährlichen Picknick der Tourette-Gesellschaft Schweiz (TGS), bei der sich Betroffene und Angehörige austauschen können. Sie habe sich sehr hilflos gefühlt.

Eine klare Diagnose bekam Jan erst mit zwölf Jahren: Tourette. «Zum Glück gibts das Internet», sagt der Lebenspartner von Beatrice Diriwächter. «Da bekommt man Antworten.» Er war es, der auf die Spur der seltenen Krankheit kam. «Heute fühle ich mich sicherer», so Beatrice Diriwächter. Sie sei nicht gut beraten worden. Bei Jan hätte man viel früher Abklärungen machen sollen, ist sie überzeugt.

«Eine sehr schwierige Krankheit»
Das Gilles-de-la-Tourette-Syndrom ist eine neuropsychiatrische Erkrankung, die ein breites Spektrum unterschiedlicher Symptome zeigen kann. Als einfache Tics gelten Blinzeln, Naserümpfen, Grimassenschneiden und das Ausstossen von Lauten. Komplexe Tics umfassen das Imitieren anderer Leute, das Wiederholen von Wörtern oder das Ausrufen obszöner Ausdrücke. Oft tritt Tourette in Kombination mit dem Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom und Zwangsneurosen auf. «Tourette ist eine sehr schwierige Krankheit», so der Neurologe Manuel Meyer von der Hirslanden-Klinik.

«Viele Kinder haben Tics», sagt Hugo Kraft, TGS-Präsident und Veranstalter des Picknicks beim Schützenhaus in Aarburg AG. Die meisten würden «herauswachsen»; mit ein Grund, weshalb erst mit fünf, sechs Jahren eine klare Diagnose gestellt werden kann. Doch genau das ist wichtig: «Je früher Eltern wissen, was ihr Kind hat, desto einfacher werden sie es später einmal haben», sagt Kraft, während er das Feuer schürt. Wenn man benennen kann, warum ein Kind sich so benimmt, wird es weniger ausgegrenzt. «Oft sind Eltern allein damit. Hausärzte wissen nicht viel darüber», sagt Kraft, der das bei seinem Sohn erfahren musste. Anfang der neunziger Jahre war das Internet noch nicht allgegenwärtig, und im Lexikon stand zu «Tourette» nur wenig.

Am nächsten Tag: Jan trägt Baseballcap, Jeans und Kapuzenjacke und steht auf dem Schulhof. Der 14-Jährige spricht klar, aber etwas hastig, versucht, Tics zu verstecken. Immer wieder reisst er unwillkürlich den Mund nach unten. Er sei nie gehänselt worden, gehe überall hin, sagt Jan, der gerne Töffli fährt. Oft sei ihm gar nicht bewusst, dass er stören könnte. «Ich schäme mich nicht.» In der Schule sitzt er ganz hinten, in einigen Metern Distanz zu seinen Kameraden. Auch beim Diktat entfährt ihm immer wieder ein «Huh». Erstaunlich, wie auffällig ein so leises, aber ungewohntes Geräusch sein kann. In der Klasse reagiert niemand darauf, auch Lehrer Rolf Sutter hat sich daran gewöhnt. Für ihn sei das etwas ganz Neues gewesen, sagt er. Vom Tourette-Syndrom hatte er noch nie gehört. Mit Jan zusammen hat er die Klasse darüber informiert. So dass nun alle wissen, dass er kein Störenfried ist.

Uninteressant für Pharmakonzerne
Doch auch wer sich erklären kann, hat es nicht immer leicht. Noch ist nur wenig bekannt über die unheilbare Krankheit. Drei Viertel der Betroffenen sind Buben. Laut Schätzungen kommt auf 2000 Menschen ein Tourette-Fall. In der Schweiz leben etwa 4'000 Menschen mit Tourette - gemäss Hugo Kraft zu wenig, um die Forschung in Gang zu bringen. An Universitäten würde zwar nach Ursachen gesucht, aber für die Industrie sei Tourette uninteressant. Im Mittelalter dienten noch Exorzismus und Menschenverbrennungen zur «Heilung» von Tourette-Kranken. Erst mit den Studien von Gilles de la Tourette 1885 setzte sich die Erkenntnis durch, dass es sich dabei um eine neurologische Störung handelt - und nicht um Besessenheit, wie im Mittelalter vermutet. Den Betroffenen hilft diese Einsicht noch heute bisweilen wenig.

Zum Beispiel Joël Gerber aus Signau im Kanton Bern: Als er in die Sekundarschule kam, häuften sich die Klagen, er störe mit Faxen den Unterricht und würde den Notenschnitt der Klasse herunterziehen. Eltern seiner Kameraden machten gegen ihn mobil - bis die Schulkommission mit der Vormundschaftsbehörde drohte, falls die Gerbers der Versetzung in die Kleinklasse nicht zustimmen würden. Bei Theres und Ernst Gerber sitzt der Schock darüber noch immer tief. «Merkst du nicht, dass du störst?», habe die Schulleiterin Joël einmal gefragt, nachdem sie ihn aus der Klasse zitiert hatte, erzählt Theres Gerber beim Zmittag und kann es noch immer nicht fassen. Auch der Schulpsychologe habe nichts Besseres gewusst, als ihn in eine psychiatrische Klinik stecken zu wollen. Er sei oft weinend nach Hause gekommen. Joël sitzt schweigend neben seiner Mutter, mag dazu nichts sagen.

Sein jetziger Lehrer Peter Stucki geht die Sache unverkrampft an. «Wir haben ja alle so unsere Tics», meint er. Die Mitschüler hätten kaum gemerkt, dass bei Joël etwas anders sei. «Anderswo wird er zum Tourette-Fall gemacht. Bei uns ist er einfach ein Schüler», sagt Stucki zwischen den Proben zur Jahresabschlussfeier und Turnunterricht. Was indes Joëls Schulleistungen angeht, hat der Lehrer eine klare Meinung: «Joël ist ehrgeizig, hat eine gute Arbeitshaltung und ist sehr sprachbegabt. Eigentlich gehört er in eine Regelklasse.»

Er sei nun seit zwei Jahren in der Kleinklasse, sagt Joël, und wisse nicht, ob er wieder würde wechseln wollen. Doch, eigentlich weiss er es: «Ich würde gerne bleiben», sagt der 15-Jährige und schaut unvermittelt auf. Es sei eine gäbige Klasse. Aber nun kommt die Zeit der Berufswahl, und die bereitet den Gerbers Sorgen. «Man kann anfragen, wo man will: Die verwerfen die Hände, wenn einer von der Kleinklasse kommt», sagt Joëls Vater. Lehrer Stucki sei dafür bekannt gewesen, dass er für alle Schüler eine Stelle gefunden habe. Doch das sei heute auch nicht mehr so einfach. «Nun muss ja jeder einen Mordsabschluss machen. Aber ob das gute Arbeiter gibt?», fragt der gelernte Landwirt.

Einen Ausweg aus dem Kreislauf gefunden hat die Familie Kaiser aus Weinfelden TG. «Zuckmonster» habe man sie in der Schule genannt, erzählt die 13-jährige Jennifer. Sie hatte plötzlich starke motorische und verbale Tics und spastische Zuckungen. Sie konnte so stark auf den Boden stampfen, dass sich ihre Eltern Sorgen um die Gelenke machten. Da könne man nichts machen, hiess es bei der Untersuchung, ausser mit Medikamenten die Symptome zu mildern. Psychopharmaka fürs Kind? Da wollte Gabriela Kaiser wegen der Nebenwirkungen nicht mitmachen und suchte Alternativen. Sie experimentierte mit Ernährung und Kinesiologie - mit verblüffendem Erfolg, wie der Vater berichtet. Er sei, so Jens Kaiser, ein grosser Skeptiker, aber Jennifers Symptome seien weitgehend verschwunden.

Betroffene sind oft vif und kreativ
«Ich habs im Griff», so Jennifer. Wenn sie aufgeregt sei, etwa vor einem Vortrag in der Schule, frage sie sich selbst, was das solle, und könne so die Spannung ablegen, erzählt sie in ihrem Zimmer. Sie holt die PC-Präsentation eines Vortrags über Gürteltiere hervor und sprudelt mit ihrer unbeschwerten, hellen Stimme los. Sie habe keine Angst davor, dass die Tics wieder kommen könnten, sagt sie. Ein wichtiger Schritt, gelten doch Stress und Furcht vor den Tics als Hauptauslöser für die Schübe. Auch Jennifer hätte wegen der Störung um ein Haar in eine Kleinklasse wechseln müssen. Doch sie wäre bei den Lernschwachen definitiv am falschen Ort gewesen: Sie will, dass etwas läuft, will gefordert werden.

«Ich betrachte das Syndrom nicht mehr als Krankheit, sondern als Symptom einer Hypersensibilität», meint Gabriela Kaiser, die als TGS-Vorstandsmitglied für Alternativ-Heilmethoden amtet. Ihre Tochter sei wie ein Seismograph, der die feinsten Spannungen wahrnimmt. Und sie reagiere diese über Tics ab. «Bei ihr geht alles ungefiltert rein. Sie braucht Zeit, um die Dinge zu sortieren», sagt sie. Im Grunde sei das kein Defekt, sondern eine Begabung.

Das hat was. Laut Neurologe Meyer sind Tourette-Kinder nämlich oft sehr vif und kreativ. Und bereits Gilles de la Tourette erkannte, dass Betroffene häufig überdurchschnittlich intelligent sind. Dass man es mit Tourette weit bringen kann, davon zeugt mitunter das Genie Mozart, dem auch Tics zugeschrieben werden und der deswegen oft als Spinner galt. «Man kann nur hoffen, dass betroffene Eltern nie den Mut und den Glauben aufgeben, ihrem Kind ein normales Leben ermöglichen zu können», sagt Gabriela Kaiser.